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Mord am Bellevue
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eBook220 Seiten3 Stunden

Mord am Bellevue

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Über dieses E-Book

Wer macht hier wem etwas vor?
Der eigenbrötlerische Kommissar Paul Kuhn sucht in einem Striplokal in Zürich Zerstreuung. Als dort am Neujahrsabend eine Tänzerin von Gästen belästigt wird, eilt ihr Kuhn zu Hilfe. Als er sich später nach ihrem Wohlergehen erkundigen will, ist sie spurlos verschwunden und die Ereignisse überstürzen sich: Am Römerhof wird ein Polizist erschossen, ein zweiter verwundet, in einem Luxushotel wird eine Leiche gefunden und in einem zweiten ein Gast brutal ermordet. Die Fälle werden Kuhn und seiner Assistentin Laura Crameri übergeben. Da einige der Verdächtigen mit mehrfachen Identitäten unterwegs sind, sind die Ermittlungen komplex. Als langsam klar wird, wer in welchem Verhältnis zu wem steht, zeichnet sich die Lösung der Fälle ab, wobei eines der Opfer nicht ganz so harmlos ist, wie es scheint.
SpracheDeutsch
Herausgeberorte Verlag
Erscheinungsdatum22. Okt. 2018
ISBN9783858302458
Mord am Bellevue

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    Buchvorschau

    Mord am Bellevue - Duri Rugger

    1

    Kriminalkommissar Paul Kuhn – in der offiziellen Zürcher Amtssprache Adjutant mit besonderen Aufgaben der Ermittlungsabteilung Gewaltkriminalität, Dienst Leib/Leben – stand wie ein Fels in der Brandung im Gewimmel der Leute, die durch die Bahnhofhalle hetzten. Silvester 2016 fiel auf einen Samstag, und der Betrieb war entsprechend hektisch. Verkäuferinnen, Arbeiter und andere Unglücksraben, die an diesem Tag arbeiten mussten, kämpften sich durch das Gewühl, um ihren Zug nach Hause zu erreichen. In umgekehrter Richtung strömten festfreudige Gruppen und Einzelgänger in die grosse Stadt, wo sie den Jahresausklang gebührend feiern wollten. Dazwischen versuchten mit Koffern, Taschen und Skis beladene Touristen den Anschluss zu erreichen, der sie in ihre Ferienorte in den Bergen bringen sollte, wo sie mit der vorausgereisten Familie auf das neue Jahr anstossen wollten.

    Der fahrbare Grillstand «Federal», vor dem Kuhn stand, befand sich mitten in der Bahnhofshalle, wo das Gedränge am dichtesten war. Manchmal bereitete es dem Kommissar Vergnügen, inmitten vieler Menschen zu sein, vor allem wenn diese weder Anlass noch Zeit hatten, mit ihm zu plaudern. Er kam auf dem Heimweg von der Arbeit oft hier vorbei, um zu Hause nicht für sich allein kochen zu müssen. Der Mann am Grill wusste inzwischen, dass er seine Wurst bedeutend dunkler gebraten wünschte, als die neuesten Richtlinien für gesundes Essen dies empfahlen. Kuhn beobachtete kauend das bunte Treiben um ihn herum. Plötzlich fühlte er, wie eine Hundeschnauze sanft sein Knie anstiess. Es war ein junger, schwarzer Setter, der sehnsüchtige Blicke auf die Wurst warf und derart wedelte, dass das ganze Hinterteil hin- und herwackelte. Anscheinend war das Tier allein unterwegs. Kuhn beugte sich zu ihm hinunter und hielt ihm den verbliebenen Wurstzipfel unter die Nase. Als dieser verschlungen war, kraulte er das Tier am Kopf, bis die Idylle von einem schrillen «Blacky, was tust du hier?» unterbrochen wurde. Eine feine Hand mit roten Krallen fasste den Hund am Halsband und riss ihn weg. Kuhn wusste nicht, ob der strafende Blick der Besitzerin dem ausgerissenen Liebling oder ihm galt, der es gewagt hatte, das Tier anzufassen – was hätte er wohl zu hören bekommen, wenn sie gesehen hätte, dass er es sogar gefüttert hatte? Doch die Frau war ihm gleichgültig. Ihn freute, dass Blacky so zutraulich zu ihm gekommen war. Mit Hunden kam er gut zurecht – wenn er sich nur mit Menschen auch so leicht austauschen könnte.

    Früher war er fröhlich und umgänglich gewesen, doch nach dem tragischen Verschwinden seiner Frau hatte er sich zurückgezogen und allmählich den Kontakt mit Freunden und Kollegen verloren. Jetzt konnte er kaum noch ungezwungen mit jemandem reden. Er bedauerte dies, wusste aber nicht, wie er die Sache wieder zurechtbiegen könnte. Doch heute wollte er auf keinen Fall allein bleiben und Trübsal blasen. Er überlegte, ob er eine Bar oder ein Striplokal an der Langstrasse besuchen sollte, wie er dies manchmal tat, wenn er sich einsam fühlte. In der lockeren Atmosphäre solcher Nachtlokale brachte selbst er es zustande, mit jemandem zu plaudern. Das Problem war, dass am heutigen Abend im «Chreis Chaib», wie die Zürcher das Quartier abschätzig nannten, die Atmosphäre wohl ziemlich angeheizt sein würde. Als Polizeibeamter in Zivil konnte er es sich nicht leisten, in eine Schlägerei verwickelt zu werden. Es gehörte ja nicht zu seinen offiziellen Aufgaben, für Recht und Ordnung im Milieu zu sorgen. Vielleicht war es besser, den Abend anderswo zu verbringen. Da fiel ihm ein, dass er letzthin bei einem Abendspaziergang im Niederdorf einen neueröffneten Nachtklub mit dem kecken Namen «Hot Chicks» entdeckt hatte. Zur Abwechslung könnte er ja dort hineinschauen. Das Lokal bot zudem den Vorteil, dass der Heimweg vom Niederdorf zu seiner Wohnung an der Trittligasse kurz war.

    Der Türsteher des «Hot Chicks» war einen Kopf kürzer als der Kommissar, aber seine Schultern und Nacken waren wie die eines Stiers. Der Kerl hätte bestimmt keine Mühe gehabt, einem trotz seines Alters noch beweglichen und gut trainierten Mann wie Kuhn den Eintritt zu verwehren, doch er musterte den neuen Gast nur flüchtig und forderte ihn mit einer einladenden Handbewegung auf einzutreten.

    Unter der Tür blieb der Kommissar stehen und sah sich um. Er hatte keine Lust, in einer schäbigen Bruchbude Neujahr zu feiern, doch der erste Eindruck war einladend. Das Lokal war modern und geschmackvoll eingerichtet – keiner dieser altmodischen Plüschsalons. Projizierte, bunte Farbtupfer, Linien und Spiralen glitten langsam über die grauen Wände, ohne zu nerven. Der Laden war gut besucht, was am Altjahrabend auch nicht weiter erstaunlich war. Nur an der Bar waren noch zwei Plätze frei. Kuhn beeilte sich, einen davon in Beschlag zu nehmen. Er sass am liebsten an der Bar. Wenn man an einem kleinen Tisch in unangenehmer Gesellschaft landete, war es schwierig, diese wieder los zu werden. Einen Barhocker konnte man leicht in eine angenehmere Nachbarschaft verschieben, ohne aufzufallen. Zudem kamen auch die Tänzerinnen an die Bar und, in seltenen Fällen, unternehmungslustige Besucherinnen, mit denen man ins Gespräch kommen konnte.

    Kaum hatte Kuhn seinen Drink bestellt, als die erste Darbietung angesagt wurde. Aisha war Senegalesin und sah Grace Jones zum Verwechseln ähnlich, zumindest wie die sehnige Gegenspielerin von James Bond damals im Film ausgesehen hatte, dessen Titel ihm inzwischen entfallen war. Aisha tanzte zu einem afrikanischen Lied, dessen Geschichte von sprechenden Trommeln und einem Balafon erzählt wurde. Das hätte die Hausband niemals hingekriegt und deshalb lief die Musik ab Band. Kuhn verstand die Sprache der Trommeln leider nicht und konzentrierte sich auf den Tanz. Die Frau hatte den Rhythmus im Blut! Eine derart temperamentvolle Tänzerin hatte er noch nie gesehen.

    Aishas Auftritt wurde durch die Ankunft einer Gruppe bereits leicht angetrunkener junger Männer gestört, die reichlich Zeit brauchten, um an den für sie reservierten Clubtischen Platz zu nehmen. Sie unterhielten sich lautstark und schenkten der Darbietung wenig Beachtung. Erst als die Tänzerin, begleitet von einem Trommelwirbel, begann mit dem ganzen Körper zu vibrieren, verstummten sie, und als Aisha danach erstarrte und wie eine schwarze Skulptur regungslos stehen bleib, schenkten sie ihr frenetischen Applaus.

    Kuhn sah sich die jungen Leute genauer an. Es waren anscheinend Yuppies, die versuchten, den Stress des vergangenen Jahres loszuwerden. Die übrigen Gäste im Club waren zumeist noch älter als er – und Ende des kommenden Jahres wurde er pensioniert! Doch daran wollte er im Moment nicht denken, sonst würde er zu viel trinken. Er nippte vorsichtig an seinem Caipirinha. Das war ein weiterer Vorteil, wenn man an der Bar sass. Man konnte den Barmann direkt bitten, eine doppelte Menge Cachaça in den Drink zu mixen, und musste nicht erst der Serviererin erklären, dass dies der Rohrzuckerschnaps sei, den der Barkeeper bitte reichlich hineingeben solle.

    Nach einigen im Lärm untergegangenen Hits legte der Schlagzeuger ein ohrenbetäubendes Solo hin, schloss mit einem mächtigen Paukenschlag und brachte damit das Geschwätz und Gegröle zum Verstummen. So konnte der Bandleader die nächste Tänzerin ankündigen: «Die süsse Lulu! Geniessen Sie ihre reizende Darbietung doch bitte in Ruhe!» Die Aufforderung wäre nicht nötig gewesen. Sobald die Tänzerin die Bühne betrat, wurde es mäuschenstill. Das Mädchen war zierlich und fein, und das schüchterne Lächeln in seinem Kindergesicht liess es noch jünger erscheinen. Kuhn nahm sich vor, einen Kollegen von der Sitte zu bitten, das Alter der jungen Frau zu überprüfen – obwohl die Papiere minderjähriger Tänzerinnen oft gefälscht waren, zumindest das darin angegebene Geburtsdatum.

    Lulu mimte ein Mädchen, das sich im Wasser spiegelt und zum Bade entblättert. Die friedliche Szene wurde jäh von einem der angetrunkenen Yuppies unterbrochen, der auf die Bühne stürzte, die halbnackte Tänzerin an sich riss und versuchte, sie zu küssen. Eine schallende Ohrfeige hielt ihn von seinem Vorhaben ab. Die erlittene Abfuhr und das höhnische Gelächter seiner Kollegen brachten ihn in Rage. Er hielt Lulu im Nacken fest und drückte ihr sein halbvolles Sektglas an die Wange: «Soll ich deine Karriere sofort beenden?»

    Kuhn sah sich nach dem Rausschmeisser um, doch dieser zog es anscheinend vor, den Abend draussen an der frischen Luft zu verbringen. So blieb dem Kommissar nichts anderes übrig, als vom Hocker zu gleiten, sich der Wand entlang zur Bühne zu schleichen und unbemerkt aufs Podest zu steigen. Er näherte sich dem triumphierend ins Publikum starrenden Mann von hinten und schlug ihm die Faust auf den Unterarm. Das Sektglas zersplitterte am Boden, und der Griff im Nacken der Tänzerin lockerte sich. Sie riss sich los und rettete sich hinter die Kulissen.

    Kuhn fragte sich noch, ob es nötig sei, den Kerl festzunehmen, der reglos dastand und ihn verdutzt anstarrte, als der Rausschmeisser auf die Bühne stürzte, den Burschen zu Boden schmetterte und mit beiden Knien auf seinen Rücken sprang. Kuhn musste einschreiten: «Das reicht! Lassen Sie den Mann in Ruhe, bevor Sie ihm alle Rippen brechen!»

    «Ich würde ihm gern noch ganz was anderes brechen … », murrte der aufgebrachte Kraftprotz, stand aber auf und liess den Burschen unbehelligt.

    «Nun, es ist Silvester, die Herren haben etwas zu früh mit Feiern angefangen, und die reizende Lulu hat den jungen Mann wohl aus der Fassung gebracht», versuchte Kuhn die Situation zu beruhigen. Er streckte dem kleinlaut gewordenen Burschen die Hand hin und half ihm auf die Füsse. «Ich schlage vor, Sie und Ihre Kollegen legen ein nettes Schmerzensgeld zusammen, und ich werde der Tänzerin raten, auf eine Klage zu verzichten. Wenn nicht, haben Sie schlechte Karten, denn ein waschechter Kriminalbeamter wird als Zeuge gegen Sie aussagen.» Kuhn fischte seinen Ausweis aus der Tasche und hielt sie dem verdatterten jungen Mann unter die Nase. «Das ist keine Erpressung, sondern ein gutgemeinter Ratschlag.»

    Der junge Mann nickte stumm, schlich von der Bühne und machte sich zwischen seinen Freunden unsichtbar. Die Musik benutzte die eingetretene Stille, um einen gemütvollen, beruhigenden Slow zu spielen.

    Kuhn beobachtete von der Bar aus, wie sich die jungen Männer verhielten. Es war immerhin möglich, dass sie versuchen würden, die erlittene Schmach zu tilgen. Doch sie blieben ruhig, zückten ihre Brieftaschen und Geldbeutel und legten einige Noten in eine Glasschale, die vorher gesalzene Mandeln enthalten hatte. Als das Gefäss ansehnlich gefüllt war, stand einer von ihnen auf und kam zu Kuhn an die Bar. «Das ist alles, was wir zusammenkratzen konnten. Wir hoffen, Sie können das Mädchen überzeugen, von einer Klage abzusehen. Ralf ist sonst ein lieber Kerl. Er weiss selbst nicht, weshalb er vorhin derart ausgerastet ist, und lässt sich bei der jungen Frau entschuldigen. Er will in den nächsten Tagen wieder vorbeikommen, um zu sehen, ob er seinen Ausrutscher noch anderweitig gutmachen kann.»

    Kuhn warf einen Blick auf die Opferschale, in der sich etliche Hunderternoten befanden, und nickte: «Ich glaube, das reicht. Es geht ja vor allem um die Geste, und die Entschuldigung ist mindestens ebenso viel wert!» Während er dies sagte, fragte er sich, wie er es sich herausnehmen konnte, im Namen der abwesenden Tänzerin eine derartige Aussage zu machen, hoffte aber, er könne sie davon überzeugen, dass es auch für sie besser war, wenn dieses glimpflich abgelaufene Intermezzo gütlich beigelegt würde.

    Der Friedensbote kehrte an den Tisch zurück und übermittelte den Kollegen die Antwort des Kommissars. Dann nahm er seinen Freund beim Arm und verliess mit ihm das Lokal. Unter der Tür drehte er sich um und rief: «Allen ein gutes neues Jahr, trotzdem.»

    Die Stimmung blieb eine Weile gedämpft. Auch die verbliebenen Yuppies waren still geworden. Kuhn hoffte, dass sie zum Jahresabschluss passende nachdenkliche Überlegungen anstellten. Er wollte sich eben einen zweiten Drink bestellen, als er zart am Oberarm angefasst wurde. Es war Lulu, die noch immer halbnackt war, sich aber wenigstens einen leichten Schal über die Schulter geworfen hatte.

    «Danke für deine Hilfe!» Sie strahlte ihn an, stellte sich auf die Zehenspitzen, legte ihre Arme um seinen Hals und drückte ihm einen Kuss mitten auf den Mund.

    Es war nicht nur die herzliche Bedankung der Tänzerin, die Kuhn aus der Fassung brachte, sondern vor allem ihre ungewöhnlich hellgrauen Augen. Kuhn glaubte, in die Augen seiner verschollenen Frau Irene zu schauen. Auch ihre Iris war hellgrau und von einem dichten Netz weisser Fasern überzogen, und ihr Blick war ebenso vage und mysteriös gewesen wie der dieses bezaubernden Mädchens. Er brauchte einige Zeit, bis er sich fassen konnte. «Entschuldige, dein Kuss hat mir den Atem geraubt. Setz dich doch zu mir – oder willst du dir nicht vielleicht etwas Wärmeres anziehen?» Kuhn duzte das Mädchen, wie es in solchen Lokalen üblich war.

    Lulu nickte, verschwand und kehrte kurz darauf in einem luftigen Kleidchen zurück, das sie noch jünger erscheinen liess. «Ist das besser?» Ohne eine Antwort abzuwarten, kletterte sie auf den freien Barhocker neben Kuhn. «Der Chef hat gesagt, er komme noch vorbei, um sich zu bedanken, aber ich könne bereits eine Flasche Champagner aufs Haus bestellen. Er ist entsetzt über das Benehmen dieses Lümmels und erleichtert, dass du die Sache gütlich geregelt hast. Auch ein übler Gast sei ein Gast … Was heisst übrigens gütlich geregelt?»

    Kuhn erklärte ihr den Vorschlag, den er dem Burschen gemacht und den dieser angenommen hatte. Dann schob er die Schale mit den Banknoten Lulu zu. «Das soll dich für den erlittenen Schreck entschädigen. Der junge Mann lässt sich entschuldigen und bietet dir an, weitere Genugtuung zu leisten. Ich habe nicht nachgezählt, doch es scheint, die jungen Leute haben sich nicht lumpen lassen. Willst du seine Entschuldigung annehmen, oder ihn anzeigen? Sexuelle Belästigung, Bedrohung, da kommt einiges zusammen.»

    Lulu kullerten Tränen über das Gesicht. «Wenn sich ein Kunde bei einer Stripperin entschuldigt, ist das schon mehr, als sie erwarten darf. Da habe ich ganz anderes erlebt.» Sie warf einen Blick ins Lokal. «Ist er gegangen?»

    «Ja, er hat sich wohl geschämt. Ich glaube, er wird sich nicht so bald wieder derart blöd benehmen.»

    «Ich hoffe es.» Sie hob ihr Glas. «Auf dich! Du hast mich gerettet. Ich hatte furchtbare Angst.» Sie blieb bei Kuhn sitzen. Offensichtlich hatte sie ihn ins Herz geschlossen und lächelte ihn dankbar an, und doch hatte er den Eindruck, sie sei unglücklich. Er hätte gern mit ihr geredet, um herauszufinden, was sie quälte, doch jedes Mal, wenn er versuchte, sie darauf anzusprechen, zog sie den Kopf zwischen die Schultern und wich aus. Vielleicht hätte sie geredet, wenn der Rausschmeisser, der Karl hiess, nicht dauernd neben ihr kleben geblieben wäre, doch der hatte des freien Champagners willen keine Lust mehr, die frische Luft zu geniessen – oder er wollte verhindern, dass Lulu unbeaufsichtigt mit einem Kriminalbeamten plauderte.

    Während der Tanznummern oder wenn das Gespräch sonst verstummte, musterte Kuhn nachdenklich die kleine Lulu. Ihr Haar war kurz geschnitten, schwarz mit feinen, hellblauen Strähnen, das Gesicht oval mit gerader Nase und leicht gewölbter Stirn. Sie war wohl kaum zwanzig Jahre alt und schien zerbrechlich. Neben ihr stand der massige Bickel, einen Kopf kürzer als Lulu auf ihrem hohen Barhocker, aber dafür doppelt so breit – und wohl auch doppelt so alt. Sein eleganter Anzug musste massgeschneidert sein und passte doch nicht zu diesem Klotz von einem Mann. Sein Gesicht war nicht übel, kantig, mit vorstehenden Backenknochen und dunklen Brauen, doch die sorgfältig getrimmte Fliege auf seiner Oberlippe war einfach lächerlich. Kuhn gegenüber war Bickel korrekt, aber zurückhaltend. Wenn er sich unbeobachtet glaubte, warf er dem Kommissar prüfende Blicke zu, als ob er sich überlegte, wie er den unerwünschten Gast möglichst rasch loswerden könne. Wenn er Lulu ansah, wurde sein Blick sanft. Kuhn zweifelte, dass zwei so unterschiedliche Personen ein Paar sein könnten, aber es schien, dass Bickel in Lulu verliebt war oder zumindest eifersüchtig über sie wachte.

    Auch ohne diesen unangenehmen Zuhörer, wäre ein vertrauliches Gespräch kaum möglich gewesen. Giacomelli, der Besitzer des Lokals, gesellte sich manchmal zu ihnen und reichte Champagner nach, und die anderen Tänzerinnen waren froh, den teuren Tropfen geniessen zu können, ohne einen Gast dazu überreden zu müssen, ein Glas zu spendieren. Alle lobten Kuhn für sein beherztes Eingreifen, und besonders Aisha konnte Kuhn nicht genug dafür danken, dass er sich für eine Stripperin eingesetzt habe, was leider

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