Fehl- und totgeborene Kinder: Die Würde des vorgeburtlichen Menschen in der Wahrnehmung der Eltern und im ethischen Diskurs
Von Daniel Bertram
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Über dieses E-Book
Die vorliegende Arbeit reflektiert die Relevanz dieses Diskurses. Dabei wird eine Konvergenz zwischen vorreflexivem Erleben der Eltern und systematischer Argumentation beschrieben. Stets im Mittelpunkt der Studie steht die Frage nach der Anerkennung einerseits des vorgeburtlichen Menschen, auch und im Besonderen im Fall seines pränatalen Todes sowie andererseits des Verlusts der verwaisten Eltern und der Trauer der Betroffenen.
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Buchvorschau
Fehl- und totgeborene Kinder - Daniel Bertram
EINLEITUNG
Thema und Untersuchungsgang
Das¹ Thema der vorliegenden Arbeit ist die Relevanz des Diskurses² über fehl- und totgeborene Kinder in Deutschland. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Frage nach der Anerkennung einerseits des vorgeburtlichen Menschen, auch und im Besonderen im Fall seines pränatalen Todes, andererseits des Verlusts und der Trauer der betroffenen, verwaisten Eltern.
Die durch die Zeugung entstandene unauslöschliche Beziehung und die Bindung zwischen den Eltern und dem Kind, die sich während der Schwangerschaft entwickelt und gefüllt ist mit unterschiedlichen Emotionen, hinterlassen in einem gewissen Sinne eine bleibende, existenzielle Spur. Medizinische Möglichkeiten und rechtliche Rahmenbedingungen lassen den Eltern jedoch einen Handlungsspielraum hinsichtlich des Umgangs mit dem eigenen, ungeborenen Kind. So können sie dieses als „noch nicht wirklich existent" verstehen, also noch ins Vorläufige und Unwirkliche drängen, nicht als Kind ansehen, letztlich vielleicht sogar abweisen; oder seine Existenz bejahen, das Kind als ihr Kind behandeln und annehmen. In jedem Fall werden sie aber eben auch schon vor der Geburt von diesem Kind beansprucht. Ja, sie können diese Beanspruchung gegenüber der Gesellschaft sichtbar werden lassen und sie zur Geltung bringen, schon bevor von gesellschaftlichen Institutionen zuvor festgelegte juristische und personenstandsrechtliche Kategorien erreicht und wirksam werden.
Genau diese Spannung im Blick auf die Wahrnehmung des vorgeburtlichen Menschen, die lebensweltliche Intuition in Bezug auf seine Bedeutung und die damit verbundene ethisch belangvolle Geltendmachung seiner Würde soll in dieser Arbeit beschrieben werden. Und an dieser Stelle wird bereits deutlich, dass zwei Beziehungskontexte für den Diskurs Relevanz besitzen: die Beziehung zwischen den Eltern und dem ungeborenen Kind einerseits, sowie zwischen dem Kind, auch schon in den frühsten Phasen seines Lebens, und der Gesellschaft.
Schon im Kontext der sozialistischen Gesellschaft der DDR finden sich Hinweise darauf, dass dieses gesellschaftliche Sein des vorgeburtlichen Menschen im Kontext des Nachdenkens über die „ethischen bzw. vielmehr die „sozialistischen
Grundlagen der Ehrfurcht vor der Leibesfrucht mitgedacht wurde. Aber auch in den bis in die Gegenwart reichenden Diskussionen innerhalb der Gesellschaft der Bundesrepublik verdeutlich sich diese Relation als – und das ist für diese Untersuchung von besonderem Gewicht – offensichtlich notwendigerweise von sich selbst her bestehend. Sie lässt sich dabei offenbar nicht bloß auf eine biologische Realität zurückführen, sondern rekurriert auf die existenzielle Autonomie des Kindes, die wohl mit seiner physischen Existenz gegeben und untrennbar verbunden ist. Jedenfalls ist es im Sinne der hier vorgelegten Analyse genau diese Autonomie, auf die sich die Eltern der Kinder beziehen und die sie letztlich auch einklagen können wollen, um sich gegen gesellschaftliche Interessen, geburtsurkundliche Definitionsmacht, ärztliche Verfügungen, personenstandsrechtliche Abgrenzung, wissenschaftliche Forschungsinteressen usw. zu „verteidigen".
In der Konsequenz bedeutet diese Autonomie – das versucht die hier unternommene Forschung zu zeigen – aber, dass die Gesellschaft in die Pflicht genommen werden kann, sogar wenn Eltern sich, wie bereits angedeutet, nicht für ihr Kind interessieren und es darum geht, dieses Kind bei seinem Tod in irgendeiner Form menschenwürdig zu bestatten und materiell dafür einzustehen.
Zentrum der mit dieser Beobachtung verbundenen Entfaltung des Diskurses über den vorgeburtlichen Menschen ist dabei die durch die Initiative besonders auch betroffener Eltern angestoßene Novellierung moderner Rechtsgestaltung in Deutschland. Schon die ganz konkreten Entwicklungen zum aktuellen Stand der Gesetzgebung unterschiedlicher Bereiche wie dem Personenstands- oder dem Bestattungsrecht auf Bundes- oder Landesebene spiegeln die intensive, in sich selbst begründete Dynamik der oben beschriebenen Intuition zum Status des vorgeburtlichen Menschen wider. Diese Entwicklungen werden innerhalb der Arbeit, nach einer jeweils kurzen Untersuchung der Verständnisweisen im sozialistischemmaterialistischen Umfeld der DDR und in der freiheitlich-grundrechtlichen Tradition der BRD, fokussiert. Besonders die damit einhergehenden Initiativen von Seiten selbst involvierter Eltern werden herausgearbeitet und ausführlich reflektiert.
Im Sinne der expliziten moraltheologischen Zielrichtung der vorliegenden Untersuchung muss die Arbeit nach diesem gewissermaßen ersten Schritt der Darstellung auf der konkreten-lebensweltlichen Ebene zum Status des vorgeburtlichen Menschen im weiteren Untersuchungsgang in den ausdrücklichen fachwissenschaftlichen Diskurs eintreten und ihre Einsichten in diesem Zusammenhang bewähren. Auch die theologisch-ethischen Implikationen werden spätestens an dieser Stelle identifiziert. Dabei soll und kann es nicht das Ziel sein, die geradezu unübersichtliche Vielfalt, Komplexität und Quantität der Veröffentlichungen, Forschungen und Auseinandersetzungen zu exegetischen, dogmatischen, theologiegeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen zum Status des vorgeburtlichen Menschen, zum Würde- und Personenbegriff usw. zu sichten, aufzuarbeiten und mit dem Anspruch auf Vollständigkeit der Darstellung zu bewerten. Ein solches Unternehmen würde den Rahmen einer Dissertation schlicht sprengen und die Absicht der hier eingebrachten Forschung ist wesentlich bescheidener. Es kann nur das Ziel sein, Aspekte einzelner Fachdisziplinen, der Bibelwissenschaft, der philosophisch-ethischen und juristischen Tradition sowie der theologisch-ethischen Auseinandersetzung zu benennen, die den zuvor genannten, lebensweltlichen Einsichten des ersten Teils der Arbeit korrespondieren und sie spekulativ vertiefen. Es geht in diesem zweiten Teil also um eine Tiefenhermeneutik, welche die Erfahrungsebene in die theoretisch-systematische Reflexion hebt.
In diesem Zusammenhang wird der Einfluss der Eltern, ihre Motivation und Initiative noch einmal im Hinblick auf die Bemühungen um die Veränderungen im Diskurs untersucht. Dazu ist auch ein erneuter Blick auf die konkreten Wandlungen der praktischen und lebensweltlichen Erfahrungen zu werfen, die diesen elterlichen Einfluss verstärken. Das heißt etwa ein Blick auf die Fortschritte der medizinischen und medizinisch-technischen Möglichkeiten (Techniken der pränatalen Diagnostik und Bildgebung!) besonders im Kontext der Beziehung und Beziehungsstiftung der Eltern mit dem vorgeburtlichen Kind vor dem Hintergrund der gesetzlich existierenden, unterschiedlichen personenstandsrechtlichen Rücksichten.
Für diese Untersuchung ebenfalls wichtig erscheint schließlich die Darstellung der mit den vorangegangenen Einsichten korrespondierenden Veränderungen im Trauer- und Verlustempfinden der Eltern. Dabei werden verschiedene Aspekte fokussiert: der Widerhall der elterlichen Emotionen in ihrem näheren und erweiterten sozialen Umfeld, in den Angeboten des Internets sowie den jeweils damit verbundenen Potenzialen und Gefahren. Damit soll eine Verbindung geschaffen werden zwischen der oben benannten gleichsam „intuitiv-objektiv" als Vorgegebenheit erlebten Würde des Kindes, auch schon in der Zeit der Schwangerschaft, und der bleibenden Verwiesenheit auf die soziale Akzeptanz der Bedeutung des vorgeburtlichen Menschen selbst nach dem möglichen intrauterinen Tod (wie auch der Trauer der Eltern gegenüber in diesem Fall). Grundlage dafür sind die zuvor beschriebene Grundintuition sowie die damit verbundenen normativen Implikationen.
Der dritte Teil der Arbeit schließt unmittelbar an die gewonnenen Einsichten an und versucht theologisch-ethische Konsequenzen für die Seelsorge an verwaisten Eltern zu formulieren. Dem muss eine Darstellung der Veränderungen besonders im beziehungsweltlichen Kontext und auf emotionaler Ebene vorangehen, um Aufgaben und Handlungsfelder zu identifizieren, wobei zunächst eher allgemeine Aspekte des seelsorglichen Gesprächs zu nennen sind, um Ansätze der spezifischen, notwendigen Begleitung zu finden. Dies bedenkend sollen drei Konkretionen besondere Berücksichtigung finden: die Konfrontation mit Schuldgefühlen und Versagensängsten, der Wunsch der Eltern nach der Taufe für ihr totes Kind sowie die Bedeutung und die Möglichkeiten einer kirchlichen Begräbnisfeier auch in frühen Stadien der Schwangerschaft. In jeder der drei Konkretionen werden direkte Bezüge zu den zuvor gewonnenen Einsichten im Kontext des Diskurses um die Anerkennung des vorgeburtlichen Menschen, insbesondere seiner Beanspruchung und Angewiesenheit den Eltern gegenüber hergestellt. Hier geht es im Besonderen auch um die Vergewisserung des Status des Kindes vor Gott durch die Eltern.
Ein vierter Punkt soll schließlich das Gesamtergebnis der Arbeit formulieren. Was ist der Mensch in seiner Entwicklungszeit, die zwischen seiner Zeugung durch die Eltern und seiner Geburt liegt: Ist er biologisch gesprochen eine heranreifende Leibesfrucht? Existenziell gesehen Ziel der Hoffnungen und Sehnsüchte der Eltern? Darin aber auch noch unwirkliche und vorläufige Projektion oder schon Partner von lebendiger Wertschätzung und dialogischer Bindung? Gesellschaftlich gesehen eine in einem zur (personenstands-)rechtlichen Erfassung hin rechtsfreien Raum sich entwickelnde unfassbare menschliche Wirklichkeit? Verpflichtet sie trotzdem seine Eltern, seine Verwandten, ja die Gesellschaft (etwa Geburtshilfe, Klinik oder auch das Friedhofswesen) auf eine Anerkennung, die mit dem moralischen Standard menschlicher Würde verbunden ist?
Die mit diesen Ausdrucksweisen aufgerufenen naturwissenschaftlichen und persönlich-existenziellen Dimensionen sowie ethischen und juristisch-normativen Horizonte eröffnen ein von der Wirklichkeit her gegebenes Spannungsfeld. Es ist Grundlage der tastenden und suchenden Diskurse, die sich im konkreten alltagsweltlichen Umgang der Eltern, in den gesellschaftlichen institutionellen juristischen und praktischen Regelungs- und Handlungsformen spiegeln. Und diese Diskurse haben eine eminente Auswirkung auf das Leben von Eltern, auf soziale Bewusstseinslagen und Reaktionsmuster.
Die Analyse möchte eine konkrete lebensweltlich angestoßene Entwicklung institutioneller Regelungsformen innerhalb Deutschlands für die ethisch-normative Ausrichtung im Umgang mit dem vorgeburtlichen Menschen untersuchen. Es geht darum, eine faktische Entwicklung in ihrer konkreten Bedeutung für das moralische Bewusstsein deutlich zu machen. Noch vor jeder voraussetzungsreichen (theologisch-)ethischen Argumentation soll damit ein existentielles Faktum als wirksames Element der Diskussion über den moralischen Status des Ungeborenen bewusst gemacht werden. Allein in dieser Bewusstmachung – nicht mehr und nicht weniger – liegt das Ziel dieser Untersuchung. Sie kann freilich zu einer (sich vielleicht vor aller weltanschaulichen Differenz aufdrängenden) mitentscheidenden Grundlage der ethischen und juristischen Auseinandersetzung in diesem so umstrittenen Feld werden.
Forschung und ausgewertete Quellen
Eine prononcierte wissenschaftlich-ethische Thematisierung der Frage nach der Anerkennung des vorgeburtlichen Menschen vor dem Hintergrund seines pränatalen Todes und der Trauer verwaister Eltern liegt bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt in dieser Form noch nicht vor. Auch die Art des Vorgehens, das heißt, die elterlichen Initiativen in Verbindung mit der in der Vergangenheit geltenden Rechtsgestaltung zum Ausgangspunkt der Untersuchungen zu nehmen, ist so noch nicht in der Literatur zu finden.
Es ist dennoch durchaus sinnvoll, kurz auf die ausgewerteten Quellen und den Stand der Forschung einzugehen. Denn hinsichtlich der Quellen muss qualitativ und quantitativ differenziert werden. So ist eine klare Unterscheidung vorzunehmen zwischen Beiträgen wissenschaftlicher Fachliteratur verschiedener Bereiche (besonders der Gynäkologie und Psychologie) einerseits und nichtwissenschaftlichen Veröffentlichungen besonders von Betroffenen, etwa in Form von Erfahrungsberichten oder Ratgebern, andererseits. Bereits zu Beginn dieser Einleitung ist deutlich geworden, dass das Reflektieren besonders dieser Texte einen wichtigen Beitrag zur Forschung bilden kann, gerade um den Inhalt und die Intention der elterlichen Initiativen besser verstehen und nachvollziehen zu können. Die wissenschaftliche Literatur, auf die in dieser Arbeit eingegangen wird, ist den Fachbereichen der Bindungs-, Entwicklungs- und Trauerpsychologie, der Philosophie, den Rechtswissenschaften, der Medizin, insbesondere der Gynäkologie, der Theologie, hier im Besonderen der Bibelwissenschaften, der christlichen Sozialethik, der Pastoral- und Moraltheologie sowie der Liturgiewissenschaft entnommen. Mit Ausnahme der Quellen zur DDR sind die meisten Quellen jüngeren Datums, das heißt aus der vergangenen Dekade. Die Erfahrungsberichte und Veröffentlichungen der Initiativen und Betroffenen sind jedoch über mehrere Jahrzehnte hinweg entstanden. Hinsichtlich der Art der Quellen fällt besonders auf, dass etwa ein Drittel der Quellen Internetquellen sind. Neben diesen Quellen und der veröffentlichten Literatur wurden außerdem verschiedene Normensammlungen und Einzelnormen, Drucksachen und ungedruckte Quellen des Bundesarchivs für die Erstellung der vorliegenden Arbeit verwendet.
Im Zentrum dieser Arbeit steht eine umfassende Diskursanalyse. Neben dem vorgeburtlichen Kind, sozusagen passiver Diskurspartner, stehen dabei vor allem die betroffenen Eltern, der Staat als Gesetzgeber (für den ersten Teil dieser Arbeit muss es korrekt heißen: die beiden deutschen Staaten als Gesetzgeber), die Bundesländer als Gesetzgeber, Mediziner und die Kirchen als Akteure im Mittelpunkt der Betrachtung.
Dabei kann im Blick auf die Entwicklungsdynamik der für diese Untersuchung relevanten gesetzlichen Veränderungen eine grobe Einteilung geltend gemacht werden: Zunächst gab es in Folge gesetzlicher Neudefinitionen in der DDR, die den vorgeburtlichen verstorbenen Menschen betrafen, und der Liberalisierung der Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch in der DDR wie auch in der BRD einige wenige Aufsätze von Medizinern, die sich ernsthaft mit dem Status des vorgeburtlichen Menschen beschäftigen. Hinweise auf einen öffentlichen Diskurs oder Diskursteilnehmer anderer Bereiche sind für den Raum der DDR nicht zu finden. In der Bundesrepublik der damaligen Zeit stellt sich das anders dar. Ebenfalls ausgehend von der Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch aber auch der konkreten Rechtsgestaltung hinsichtlich fehl- und totgeborener Kinder etwa in Bezug auf personenstandsrechtliche Festlegungen und (fehlende) Möglichkeiten der Bestattung waren es hier vor allem die betroffenen Eltern, die sich aktiv in den Diskurs einbrachten. So gesehen kann das Einreichen der ersten Petition an den Bundestag 1988 als entscheidendes Ereignis innerhalb des hier analysierten Diskurses um die Anerkennung des vorgeburtlichen verstorbenen Menschen angesehen werden. Denn erst in der Folge haben auch andere Partizipanten aus Politik und Medizin Stellung bezogen. Wie sich der Diskurs in der Folge verändert hat und welche Auswirkungen dies hatte, wird Gegenstand der Untersuchungen sein.
Es ist offensichtlich, dass jeder Diskursteilnehmer eine ganz eigene Sprache verwendet. Innerhalb der Arbeit unterscheiden sich in dieser Hinsicht Stellungnahmen des Gesetzgebers, der Vertreter aus der Medizin und auch der Eltern mit ihrer eigenen, intuitiven nicht-wissenschaftlichen Sprache, mit der sie etwa ihre je eigene, lebensweltliche Situation schildern, eindrücklich. An dieser Stelle ist auch die Unabgeschlossenheit des Diskurses zu betonen. Medizinischer Fortschritt, von den Eltern als solche erkannte und angezeigte bleibende Insuffizienzen, Unklarheiten und nicht nachvollziehbare Differenzen in der Gesetzgebung sowie das föderale System in der Bundesrepublik Deutschland, mit dem beispielsweise eine einheitliche Personenstandsgesetzgebung, aber sechzehn unterschiedliche Bestattungsgesetzgebungen verbunden sind, legen die Tatsache des Fortdauerns des Diskurses nahe.
¹ Die Rechtschreibung aller Zitate wurde der modernen Form vorsichtig angeglichen.
² Zur Methode der Diskursanalyse vgl. in der unübersehbaren Literatur zum Thema: M. Foucault, Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a.M. ¹²2012; J. Angermuller / M. Nonhoff (Hg.), Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch. 2 Bde. Bielefeld 2014.
1. STATUS UND WERT DES VORGEBURTLICHEN MENSCHEN UND DER UMGANG MIT FEHL- UND TOTGEBORENEN ZU ZEITEN DES GETEILTEN UND WIEDERVEREINIGTEN DEUTSCHLANDS
Eltern erfahren sich durch ihre Kinder schon in der Schwangerschaft unbedingt beansprucht. Es ist genau diese Erfahrung der Beanspruchung, welche den Ausgangspunkt jeder wirklich angemessenen und ethisch verantwortlichen Beschreibung des Status des vorgeburtlichen Menschen ausmacht. Denn was sonst als die wirkliche lebensmäßige Erfahrung könnte eine Hilfe sein, um dem Geheimnis des Menschen in dieser frühen Zeit auf die Spur zu kommen? Die vorliegende Untersuchung will deshalb versuchen, genau diesen Erfahrungskontext aufzuspüren und zu beschreiben. Sie versucht es – vor aller Auseinandersetzung mit wissenschaftlicher Theologie in philosophischen Theoremen, fachlichen Kontroversen und spezialisierten Kommentaren – durch die Beschreibung der Ausdrucksweisen und Sprachformen, mit denen die Gesellschaft selbst die Wirklichkeit des Menschen in der Schwangerschaft in Worte fasst. Dabei ist es eine Art negativer Hermeneutik, die hier als Ansatzpunkt gewählt wird: Im Spiegel der glücklosen Schwangerschaft, dort, wo Kinder vor der Geburt sterben müssen, soll die eigene Sensibilität im Umgang mit dem Status des vorgeburtlichen Menschen erfasst werden. Das heißt: Jenseits voraussetzungsreicher Gegensätze – etwa wenn es um Rechte der Mutter und des Kindes im Schwangerschaftskonflikt und bei der Abtreibung geht – jenseits auch von entwicklungsbiologischen oder entwicklungspsychologischen Wissensständen und Vermutungen – etwa zum vorgeburtlichen Empfinden des Kindes, seiner körperlichen und psychischen, der geistigen Reife – muss das Faktum der existenziellen Realität des Kindes gerade im Paradox seines Verlustes, seiner Nichtigkeit, eben seines Todes, der es in die Nichtexistenz, Gegenständlichkeit bloßer biologischer Materie abzudrängen droht, anschaulich werden.
Nachfolgend soll gezeigt werden, dass der Kontrast zwischen der materialistisch-sozialistischen Beschreibung von Fehl- und Totgeburt auf der einen Seite und der durch das Erleben von Eltern veränderte rechtliche Rahmen des Personenstandsrechts in der Bundesrepublik auf der anderen diesen Ansatzpunkt der theologisch-ethischen Hermeneutik des vorgeburtlichen Menschen zugänglich macht.
1.1 Der vorgeburtliche Mensch? Theorie und Praxis in der ehemaligen DDR
Das Nachdenken über den Status des vorgeburtlichen Menschen setzte in der DDR erst spät, im Kontext des Erlassens des „Gesetzes über die Unterbrechung der Schwangerschaft 1972, ein. Heute finden sich nur noch wenige Publikationen, in denen sich, ausnahmslos regierungsnahe, wichtige Personen des Gesundheitssystems der DDR zu diesem Thema äußern. Es gibt keine Hinweise auf einen größeren, öffentlichen Diskurs; dabei gab es bereits elf Jahre vor diesem Gesetz eine eminent wichtige Änderung: Die (Neu-)Definition von „Lebendgeburt
, „Totgeburt und „Fehlgeburt
bzw. von „Mensch und „Abort
.
1.1.1 Zur Ausgangslage: Definition von „Lebendgeburt, „Totgeburt
und „Fehlgeburt" 1961
Seit 1938 galt in der DDR wie auch in der Bundesrepublik eine Definition von „Lebendgeburt, wonach von einer solchen zu sprechen ist, wenn das Kind postnatal natürlich atmete. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) legte allen Staatsregierungen 1950 nahe, von einer „Lebendgeburt
zu sprechen, wenn mindestens eines der Lebensmerkmale: natürliche Lungenatmung, Herzschlag, Pulsation der Nabelschnur und/oder Muskelbewegung bei dem Neugeborenen feststellbar war. Die Bundesrepublik änderte die gesetzliche Definition von „Lebendgeburt", indem sie die ersten drei Lebensmerkmale in eine Alternativregelung übernahm; eine Muskelbewegung, so der Gesetzgeber, kann auch willkürlich sein und wurde nicht als sicheres Lebenszeichen verstanden (siehe 1.2.1). Auch in der DDR reichte ein Lebenszeichen aus, um das Kind als „Lebendgeburt zu klassifizieren. Mit der Neufassung der „Anordnung über die ärztliche Leichenschau
(LSchAO) von 1961 wurde die Regelung jedoch überraschend zu einer Kumulativregelung geändert; fortan musste das Kind zwei Lebenszeichen, nicht irgendwelche, sondern vom Gesetzgeber festgelegte, Lungenatmung und Herzschlag, aufweisen, um als Lebendgeborenes zu gelten.³
Man kann nun mit Stephan Mallik die Frage stellen, wie es dazu kam. Der Analyse bietet sich ein komplexes Bild: Ab 1950 gewährte die DDR Müttern ab der dritten Geburt finanzielle Hilfe, die 1958 aufgestockt und von nun an bereits ab der ersten Geburt gezahlt wurde. Anspruchsgrundlage war die „Geburt" eines Kindes, was nicht nur die Lebendgeborenen einschließt. Dies war zwar intendiert, scheiterte aber in der praktischen Umsetzung daran, dass es keine offizielle Definition von der „Geburt" (als Anspruchsgrundlage) gab und so Partikularregelungen galten, die sich, dem Gesundheitsministerium der DDR im September 1961 zu Folge, „[…] sowohl für den Staatshaushalt der DDR als auch für die Statistik nachteilig auswirkten."⁴ Für 1962 war in der DDR eine Neuauflage der Totenscheine vorgesehen. Dies nahm man zum Anlass, die LSchAO mit der Zielsetzung einer gesetzlichen Definition und Differenzierung von „Fehl-, Tod- und Lebendgeburten" zu überarbeiten. Die offizielle Begründung des stellvertretenden Gesundheitsministers Marcusson war das Erreichen einer besseren Auswertbarkeit der Totenscheine in Bezug auf die Todesursache, getrennt für Kinder, die im ersten Lebensjahr verstarben und Kinder, die später⁵ verstarben.⁶
Bereits der erste Entwurf enthielt eine Zwei-Lebenszeichen-Regelung und den Vorschlag zur Senkung der Mindestkörperlänge auf dreißig Zentimeter, um Fehlund Totgeburten zu unterscheiden. Mit der Zwei-Lebenszeichen-Regelung wies man so den Vorschlag der WHO (ein Lebenszeichen) als zu unsicher zurück; es reiche nicht aus, einen Herzschlag ohne Atmung oder eine Atmung ohne Herzschlag festzustellen, um das Kind als Lebendgeborenes zu bezeichnen, da nur beide Lebenszeichen zusammen das Leben ermöglichten⁷. Ferner dürfe, in Bezug auf die Lebenszeichen, nicht nur der Zeitpunkt der Geburt berücksichtigt werden, geht es doch um eine dauerhafte Lebensfähigkeit. Auf eine, in anderen Ländern übliche, Formulierung, nach der das Kind mindestens vierundzwanzig Stunden überleben müsse um als Lebendgeborenes zu gelten, verzichtete man jedoch ebenso wie auf eine Mindestgröße oder ein Mindestgewicht für Lebendgeburten. Im finalen Entwurf der LSchAO vom November 1961 fand sich dann oben genannte Zwei-Lebenszeichen-Regelung. Die Körpergröße zur Abgrenzung von Fehl- und Totgeburt beließ man bei fünfunddreißig Zentimetern, so dass sich, kurz darauf gesetzlich festgeschrieben, folgende Einteilung ergab:
Lagen bei der Geburt Atmung und Herzschlag als Lebenszeichen beim Neugeborenen vor, galt es als „Lebendgeburt, unabhängig von Größe und Gewicht. Besaß das Kind keines oder nur eines der beiden Lebenszeichen, wies aber eine Körperlänge von mindestens fünfunddreißig Zentimetern auf, wurde es als „Totgeburt
registriert. Wies das Kind keines oder nur eines der beiden Lebenszeichen auf und war dabei kleiner als fünfunddreißig Zentimeter, galt es als nichtregisterpflichtige „abortierte Frucht bzw. „Fehlgeburt
. Die Fünfunddreißig-Zentimeter-Grenze wurde 1978 durch eine 1000-Gramm-Grenze ersetzt. Bei einer Totgeburt und einer nach der Geburt verstorbenen Lebendgeburt handelte es sich nach dem Gesetz ferner um eine menschliche Leiche. Das Fehlgeborene galt nach dem Gesetz nicht als menschliche Leiche.⁸
Diese Neufassung wirft einige Fragen auf: Was geschah mit den Kindern, die ein Lebenszeichen aufwiesen? Wurden sie dem Tod überlassen? Warum hat man es mit der Neudefinition so viel schwieriger gemacht, als „Lebendgeburt" zu gelten?
Zur Klärung der Motivation ist zunächst zu untersuchen, was oben bereits angedeutet wurde – der Einfluss der Kostenfrage. Grundsätzlich ist zunächst festzuhalten, dass die Ausgaben im Rahmen der der finanziellen Unterstützung von Familien, Müttern und gezielter Geburtenhilfe in der DDR stetig stiegen – im Zeitraum von 1957 bis 1961 auf insgesamt 160 Millionen Mark. In der Analyse des Staatshaushaltsplans des Finanzministeriums wird ausdrücklich die staatlich gewährte Geburtenhilfe, nur eine von vielen Leistungen, als Grund für „Planüberschreitungen des Sozialwesens" identifiziert⁹.
Die „staatliche Geburtenbeihilfe" war eine finanzielle Beihilfe, die vom Jahr 1950 an gewährt wurde. Zunächst war ab dem dritten Kind eine Unterstützung in Höhe von 100 Mark vorgesehen. 1958 wurde der auf 500 Mark erhöhte Betrag bereits von der Geburt des ersten Kindes an ausgezahlt. 1972 stockte man diesen Betrag noch einmal auf 1000 Mark auf. Die Zahlung erfolgte in Raten; den Betrag von 1000 Mark zu Grunde legend stellte es sich so dar: Bei der Vorstellung der Schwangeren innerhalb der ersten sechzehn Wochen waren 100 Mark fällig. Mit der zweiten Vorstellung in der Schwangerenberatungsstelle wurden noch einmal 50 Mark ausgezahlt. Für den Nachweis der Geburt erhielt die Mutter 750 Mark; bis zu diesem Zeitpunkt zusammen 900 von insgesamt 1000 Mark. Stellte sich die Mutter postnatal noch viermal in den ersten vier Lebensmonaten in der zuständigen Mütterberatungsstelle vor, bekam sie dafür jeweils weitere 25 Mark, also insgesamt noch einmal 100 Mark. Steht am Ende der Schwangerschaft eine Fehlgeburt, nach Definition der DDR, so erhielt die Mutter dennoch 150 Mark – dies entspricht den beiden ersten Raten. Bei einer Totgeburt und bei einer Lebendgeburt wurde der volle Betrag ausgezahlt (bei einer Totgeburt wurde der gesamte Restbetrag als Einmalzahlung zur Verfügung gestellt).¹⁰
Ein weiteres eindrucksvolles Beispiel im Hinblick auf die Frage nach den Kosten ist die „Verordnung über die Gewährung von Krediten zu vergünstigten Bedingungen an junge Eheleute". Im fünften Paragraphen ist geregelt, dass eben diesen jungen Eheleuten bei der Geburt eines oder mehrerer Kinder ein teilweiser Krediterlass (mindestens 1000 Mark) zu Gute kommt. Ohne Festlegung, dass mit „Geburt eine „Lebendgeburt
gemeint ist und ohne Definition, was eine „Lebendgeburt" kennzeichnet, würde der Staatshaushalt, so das Ministerium für Gesundheit, an dieser Stelle unnötig belastet, da er den Eheleuten auch dann einen finanziellen Vorteil verschaffen würde, wenn diese, bei einer Fehl- oder Totgeburt, gar kein Kind großzuziehen und zu versorgen hätten.¹¹
Im Übrigen führte das Gesundheitsministerium das „Kostenproblem auf die eigenen Mitarbeiter zurück: So geht aus einer hausinternen Mitteilung der Sektion „Gesundheitsschutz für Mutter und Kind
vom Mai 1959 hervor, dass man dem eigenen Personal misstraute. Geburtshelfer seien beim Fehlen klarer Regelungen geneigt, im Interesse der Frau zu entscheiden und so „[…] in Zweifelsfällen die Frucht eher als eine Lebendgeburt, denn als Abort zu bezeichnen."¹² Das war der Fall, wenn die Geburtshelfer sich nicht sicher waren (oder sein konnten), ob das Kind nicht doch einen Atemzug machte oder das Herz nicht nach der Geburt doch noch für einen Moment schlug. Eine solche Handlungsweise der Geburtshelfer erhöhe einerseits die Werte der Statistik zur Säuglingssterblichkeit und koste andererseits Geld.
Nun ergibt sich durch die Neuregelung allerdings ein nur geringes Einsparpotenzial – bei einer Fehl- oder Totgeburt, gemäß der Definition der DDR, musste das nur in Raten ausgezahlte Geld nicht zurückgezahlt werden. Eine Änderung dieser Regelung wäre ein echtes Einsparpotenzial gewesen, wesentlich bequemer und unauffälliger als etwa eine generelle Senkung der Geburtenhilfe, die ja – im Gegenteil – elf Jahre nach den Neudefinitionen, 1972, noch einmal verdoppelt wurde und die, besonders im deutschsprachigen Ausland, zur Profilierung der Sozial- und Gesundheitspolitik