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ReLÜGion: Verkündigung wider besseres Wissen
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ReLÜGion: Verkündigung wider besseres Wissen
eBook481 Seiten5 Stunden

ReLÜGion: Verkündigung wider besseres Wissen

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Über dieses E-Book

In diesem Buch geht der Autor der Frage nach, inwieweit die Vertreter der christlichen Kirchen wider besseres Wissen ihren Glauben bekennen und die christliche Botschaft verkünden. Die damit unterstellte "Lüge", wie sie im Titel dieses Buches zum Ausdruck kommt, ist wertfrei gebraucht. Der Begriff dient weniger dem Vorwurf an die Adresse der religiösen Eliten als vielmehr der Diagnose ihres Verhaltens in der Gegenwart aber auch in der Vergangenheit. Der Autor behauptet begründet, dass während der letzten zweieinhalb Jahrtausende Glaubensinhalte konstruiert und wider besseres Wissen als göttliche Offenbarungen weitergegeben wurden. Er belegt dies mit Forschungsergebnissen der universitären Theologie und der Religionswissenschaft.
Er betrachtet zudem das Konstrukt der jüdisch-christlichen Religion unter dem Aspekt menschlicher Wünsche nach Macht, Meinungsführerschaft und Deutungshoheit, wie sie von den jeweiligen religiösen Eliten seit jeher erhoben wurden. Er zeigt, wie die Geschichten des Alten und Neuen Testaments so verfasst wurden, dass sie den aktuellen religiösen Intentionen der Eliten entsprachen und wie sie mit Verweis auf erfundene Reden Gottes beglaubigt wurden.
Er untersucht den Umgang der Kirchen mit wissenschaftlichem Allgemeingut, dass perspektivisch den tradierten Glauben in seine Bedingtheiten auflösen muss. In seinem Lösungsansatz arbeitet er differenzierend mit den Begriffen Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Lüge und kommt zu Ergebnissen, die versuchen der Komplexität des Themas gerecht zu werden.
Ungeachtet seiner Diagnosen drückt der Autor seine Wertschätzung der Schriften des Alten und Neuen Testaments als Zeugnisse menschlichen Denkens aus, die in Teilen ihren Anspruch nicht verloren haben. Sie stellen ohne Zweifel auch heute noch relevante anthropologische Grundfragen und beleuchten viele Aspekte des Menschseins. Er bedauert aber, dass die "zeitlosen Wahrheiten" von den Kirchen für ihre eigenen Ziele instrumentalisiert wurden und werden.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum20. Mai 2021
ISBN9783347264489
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    Buchvorschau

    ReLÜGion - Wilmar Thiemann

    Vorwort

    „Relügion – Religion" – Mit dieser provokanten Verbindung von Religion und Lüge möchte ich eine Diskussion darüber anstoßen, wie wahrhaftig die Vertreter von Kirche und Theologie in ihren Worten sind. Nicht die Wahrheit steht im Mittelpunkt. Denn die Frage nach der Wahrheit ist letztlich schon lange entschieden, seit sich wissenschaftlich arbeitende Theologen und Religionswissenschaftler mit den Bedingtheiten von Religionen, so auch dem Judentum und Christentum, beschäftigt haben. Es geht vielmehr um die Frage, ob Vertreterinnen und Vertretern der Kirche bedenkenlos der Glaube an ihre Bekenntnisse zugestanden werden kann, wenn man bei ihnen zugleich ein hohes Maß an Intelligenz und Kenntnissen voraussetzen darf.

    Meine Position zu dieser Frage habe ich in meinem Beruf als ehemaliger Religionslehrer auch durch Selbstreflexion meiner eigenen Tätigkeit, meiner eigenen Sprache im Unterricht gewonnen. Ich behaupte, dass wissenschaftlich ausgebildete Theologen es in ihren Worten, Predigten und Veröffentlichungen an Wahrhaftigkeit mangeln lassen. Sie sprechen, schreiben und verkünden oft wider besseres Wissen. Eine Rede wider besseres Wissen nennt man Lüge. Dennoch, integre Menschen (anders kenne ich diese Berufsgruppe nicht) der Lüge zu bezichtigen, scheint ein Widerspruch in sich zu sein. Diesen Widerspruch zu analysieren, werde ich mich im Folgenden bemühen.

    Die Frage steht im Raum, ob ich selbst in meinem Unterricht immer wahrhaftig war. Ich war es, wenn es darum ging, wissenschaftliche Forschungsergebnisse weiterzugeben, religionshistorische Zusammenhänge erarbeiten zu lassen und so Erkenntnisse zu ermöglichen, die die Inhalte der kirchlichen Verkündigung weit hinter sich ließen. Ich war es, wenn ich die Werte des sozialen Miteinanders vermittelte, wie sie in vielen theologischen und biblischen Texten zu finden sind und wie sie im Begriff der Nächstenliebe ihren klarsten Ausdruck finden. Ich war es besonders im Bemühen, Lebensfragen der Schülerinnen und Schüler aufzunehmen und zum Thema des Unterrichts zu machen. In diesem Bereich wurde ich dem Anspruch an einen Religionslehrer gerecht, der die Grundlagen der christlichen Religion vertreten können sollte. Die religiöse Orientierung in der Form eines Bekenntnisses zu Jesus Christus und dem biblischen Gott Jahwe konnte ich allerdings nicht geben. Damit lag ich aber durchaus auf einer Ebene mit der universitären Theologie, sofern sie die Ergebnisse der Religionswissenschaft und der Archäologie aufgeschlossen verarbeitet.

    Meine Wahrhaftigkeit muss ich allerdings in Frage stellen, wenn ich Forschungsergebnisse so vermittelte, dass streng gläubige Kinder nicht in ihren religiösen Gefühlen verletzt wurden. Wider besseres Wissen habe ich aus Rücksichtnahme nicht in allen Fällen die Dinge beim Namen genannt und dadurch vieles verschleiert.

    Außerhalb des Begriffes der Wahrhaftigkeit habe ich möglicherweise durch meinen zu Fragen anregenden Religionsunterricht den Eindruck erweckt, als sei die evangelische Kirche, der ich angehörte, zugleich der Ort, an dem religiöse Grundsätze hinterfragt werden.

    Die Frage nach Lüge und Wahrhaftigkeit, der ich mich in diesem Buch widme, richtet sich somit nicht nur an die, die die christliche Botschaft verkündigen, sondern auch an mich selbst.

    In diesem Buch geht es zunächst darum nachzuweisen, dass die Kirche wider besseres Wissen Inhalte des christlichen Glaubens verkündet. Dazu werde ich in einem ersten Schritt den Forschungsstand der Theologie und Religionswissenschaft zu den Ursprüngen der jüdisch-christlichen Religion darstellen, um in einem zweiten Schritt zu untersuchen, warum die Kirche keine Konsequenzen aus den Forschungsergebnissen der eigenen Wissenschaft, der Theologie, zieht.

    Ich stelle gezielt die Frage nach der Wahrhaftigkeit der Kirchen. Die Wahrhaftigkeit, nicht die Wahrheit, verstehe ich als Gegenbegriff zur Lüge. Mit diesen drei Begriffen werde ich mich im Rahmen dieses Buches zentral beschäftigen.

    Vielleicht gelingt es mir, etwas an Einstellungen und Meinungen zur Geschichte und den Grundlagen der jüdisch-christlichen Religion, die über Jahrhunderte gewachsen sind und sich verfestigt haben, zu verändern. Vielleicht werden unreflektierte Vorurteile, auch wenn sie im kulturellen Gedächtnis verankert zu sein scheinen, zu reflektierten Urteilen. Zum Schluss erreiche ich hoffentlich, dass Werte, die mit der jüdisch-christlichen Religion verbunden sind, hinterfragt und, wenn sie lebensfreundlich sind, weitergetragen werden.

    Kapitel 1

    Zur Rolle der Kirchen und ihrer Legitimation

    1.1 Präsenz der Kirchen und ihre gesellschaftliche Akzeptanz

    Das heutige Europa ist historisch und kulturell durch das Christentum so nachhaltig geprägt, dass dessen Erscheinungsformen unübersehbar sind. Augenfällig ist in Stadt und Land die kirchliche Architektur mit dem überall sichtbaren Symbol des Kreuzes. Europäische Kunst und Literatur sind oft nur im Kontext der christlichen Religion zu verstehen. Alltägliche sowie aus dem Alltag herausgehobene Situationen werden von religiöser Sprache begleitet. Politisch bedeutsam wird der christliche Glaube in der durch das Grundgesetz verankerten Gewährleistung des Schulfaches Evangelische bzw. Katholische Religion, in medialen Auftritten seiner Vertreter und deren Repräsentanz in Rundfunk- und Fernsehräten, im Parteinamen (CDU/CSU) und im Gottesbezug von Gesetzestexten.

    All dies spiegelt den Einfluss und den Anspruch der christlichen Religion wider. Der Anspruch besteht darin, für das Leben der Menschen relevant zu sein. Auch wenn die Kirchen in der heutigen zivilen Gesellschaft Europas nicht mehr über die Machtmittel der Vergangenheit verfügen, so sind sie mit diesem Anspruch immer noch ein Machtfaktor, den unsere Gesellschaft weiterhin zulässt und unterstützt. Dies geschieht, wenn - weithin unreflektiert - z.B. die Bezeichnung einer Kirche als „Gotteshaus übernommen und die Bibel „Heilige Schrift genannt wird. Oder wenn es eines besonderen Hinweises wert ist, dass Politiker bei der Vereidigung auf die religiöse Beteuerung „So wahr mir Gott helfe verzichtet haben. Nur selten wird über das „C der noch stärksten Partei in Deutschland nachgedacht. Dass die Kirche das Recht hat, über Inhalte von Verkündigung und Unterricht zu bestimmen, wird akzeptiert, denn schließlich sei dies ihre ureigene Sache. Dass Vertreter der Kirchen in den Medien regelmäßig Gehör finden, scheint plausibel zu sein, denn dies berücksichtige die ihr zugestandene moralisch-ethische Kompetenz. Im Ergebnis werden damit der christlichen Religion eine meinungsbildende Rolle in unserer Gesellschaft und die (alleinige) Deutungshoheit in religiösen Fragen zuerkannt.

    Man kann anführen, dass dies die gesellschaftliche Realität widerspiegele. Denn schließlich seien - trotz stetiger Kirchenaustritte - immer noch 54% der deutschen Staatsbürger Mitglied einer der beiden großen Kirchen³. Dies ist jedoch nur auf den ersten Blick so: Laut einer EKD-Studie aus dem Jahre 2018 behaupten unter den 19- bis 27-Jährigen nur noch 19 Prozent von sich, religiös zu sein⁴. Nach einer früheren Studie der EKD⁵ können sich 40% der Mitglieder vorstellen, aus der Kirche auszutreten, 90% der Mitglieder nehmen nicht regelmäßig – wenn überhaupt - an einem Gottesdienst teil. Viel trennt die Kirchen nicht mehr davon, eine Gemeinschaft von Mitläufern zu sein⁶. Damit repräsentieren die Vertreter der Kirchen, die sich in den Medien Gehör verschaffen können, vielleicht noch 25% der Einwohner Deutschlands.

    Der Anspruch gehört zu werden verlangt eine Begründung. Als solche kann die Anzahl der Christen in unserem Staat und die Organisationsstruktur⁷ der Kirche angeführt werden. Entscheidend aber ist der Beitrag für unsere Gesellschaft. Ohne Frage verfügen die Vertreterinnen und Vertreter der Kirche - wie die anderer Organisationen auch - über eine ausgeprägte fachliche und soziale Kompetenz. Dass sie zudem Gläubigen Vertrauen und Zuversicht geben und Trost spenden können, begründet allerdings nicht ihren Anspruch, die Gesellschaft mitzugestalten, zu Fragen der Gegenwart Stellung zu nehmen und als ernst zu nehmender Gesprächspartner gehört zu werden. Ihr seelsorgerisches Handeln muss für die Zivilgesellschaft nachrangig sein.

    Das Problem besteht aber gerade darin, dass öffentlich an diesem Punkt nicht zwischen dem gesellschaftlichen Engagement und der besonderen religiösen Rolle unterschieden wird. In Talkshows wird mit einer Frau oder einem Mann der Kirche nicht nur ein Experte zu einer konkreten sozialen Frage eingeladen, sondern jemand, der zugleich Vertreter einer Religion ist, dem von Teilen der Gesellschaft besonders deswegen Autorität zuerkannt wird.

    Da dies so ist, muss auch in unserer Gesellschaft die Frage nach der Letztbegründung des beschriebenen Anspruchs der Kirchen gestellt werden.

    Diese führt zu den Grundsätzen der christlichen Religion selbst, d.h. zum Glauben an Gott und an das Heilsereignis von Kreuz und Auferstehung des Gottessohnes Jesus Christus als der unbedingten Wahrheit des christlichen Glaubens schlechthin. Bislang können sich die Kirchen unangefochten öffentlich auf diesen Glauben beziehen. Die Grundlage des Glaubens wird von Gesprächspartnern öffentlich nicht in Frage gestellt, wenn sie sich auch noch so sehr gegen eine geäußerte Meinung der Kirchenvertreter stemmen.

    Doch gerade die Rückfrage nach den Grundlagen des Glaubens selbst muss in den Mittelpunkt gerückt werden, denn auf ihnen basiert alle Autorität, die Vertretern der Kirchen gesellschaftlich zugestanden wird. Eine solche Rückfrage wäre keine Anmaßung, sondern eine Forderung nach Transparenz dessen, woran Vertreterinnen und Vertreter der Kirche glauben. Zu dieser Transparenz gehört auch, dass offengelegt wird, was seitens der Theologie und Religionswissenschaft bereits widerlegt ist. Denn Untersuchungen zu den Ursprüngen der christlichen Religion, religionshistorische Vergleiche, kritische Betrachtungen von scheinbar festgefügten Glaubenssätzen finden auch an den Universitäten in den entsprechenden theologischen und religionshistorischen Fakultäten statt und nicht etwa nur im Bereich der medialen Religionskritik.

    Nach der Lektüre des vierten und fünften Kapitels dieses Buches, die sich mit dem Wahrheitsanspruch der Bibel beschäftigen, mag die Leserin und der Leser entscheiden, ob Vertreterinnen und Vertretern der Kirche eine besondere Autorität zuzumessen ist, nur weil sie sich auf das „Wort Gottes" beziehen.

    1.2 Rückfrage an die theologische Legitimation der Rolle der Religion in unserer Gesellschaft

    In diesem Buch stelle ich die theologische Legitimation der Rolle der Religion in unserer Gesellschaft in Frage. Ich verstehe die christliche Religion und damit auch ihren Ursprung, die jüdische Religion, als wohl durchdachtes Produkt von Menschen ohne Beteiligung irgendeines Gottes aber dafür geleitet von sehr menschlichen Interessen. Diese Aussage scheint die ursprüngliche Entstehung von Religionen, die keineswegs „wohldurchdacht" waren, zu überspringen. Natürlich entstammen Religionen der Lebenserfahrung der Menschen. So auch der jüdische Glaube. Die Erfahrungen wurden mit den in ihnen erhaltenen religiösen Deutungen in Form von Mythen weitergegeben. Durch sie und durch Rituale versicherte man sich gegenseitig, den Bedrohungen der Natur nicht mehr ausgeliefert zu sein. Diese authentische Form der Religiosität ist von den jeweiligen religiösen Eliten in gewünschte Bahnen gelenkt worden, wovon die Schriften aller Religionen der Antike zeugen. Von diesen haben sich als praktizierte Religionen allein das Judentum und das Christentum bis heute erhalten. Auf die Frage, wie dies gelingen konnte, werde ich im vierten und fünften Kapitel dieses Buches zu sprechen kommen.

    Dafür werde ich verschiedene Beispiele aus der Entstehungsgeschichte des jüdischen Tanach⁸ und des Neuen Testaments anführen. Bei den von mir genannten Einzelbeobachtungen beziehe ich mich auf Forschungsergebnisse der theologischen und religionswissenschaftlichen Literatur der letzten 100 Jahre und damit auf das, was heute wissenschaftlich Allgemeingut ist oder zumindest sein sollte.

    Keine Entwicklung, sondern Design

    Um mein Anliegen, die jüdisch - christliche Religion als Produkt menschlicher Interessen darzustellen, zu verdeutlichen, möchte ich mich von einem Bild abgrenzen, das die Entwicklung des Christentums in all seinen Erscheinungsformen mit der Entwicklung eines Baums vergleicht. Die Wurzel bestünde in diesem Fall im Glauben an den Gott Jahwe, eingebettet in der Erde verschiedener Gottesvorstellungen und Religionen der Antike. Der Stamm würde das Judentum darstellen und die Krone das Christentum in all seinen Ausprägungen. In diesem Bild wird eine sich selbst steuernde Entwicklung, die gleichsam in einem natürlichen Prozess abläuft, unterstellt.

    Unter dieser Perspektive werden sowohl in theologischen als auch in vielen anderen Büchern zum Christentum die Baumringe freigelegt, wird an den Ästen gesägt, werden verborgene Äste öffentlich gemacht, Fehlentwicklungen als solche gekennzeichnet und verdammt. Religionskritiker sehen bisweilen den ganzen Baum als Unheil an, der besser nie gewachsen wäre. Oder sie legen die Axt an die Wurzel und benennen den Glauben einen leeren Wahn⁹.

    Dabei wird ein zentraler Punkt übersehen: Der imaginäre Baum ist zwar in seinen Wurzeln noch natürlich entstanden, fortan wurde er aber von vielen Gärtnern in seinem Wachstum begleitet und hatte somit von Anfang an Menschen als Designer. Der Stamm hat sich seither nicht natürlich entwickelt, sondern die Ringe der schriftlichen Überlieferung wurden bewusst angeordnet und verschoben, seine Äste wurden wie bei einem Bonsai bewusst theologisch in die gewünschte Richtung gelenkt, störende Triebe gestutzt, abgeschnitten oder ignoriert.

    Ungeachtet dessen behaupten die Vertreter der Kirchen weiterhin, dass allein der Glaube an Gott und seine Offenbarung den Baum habe wachsen lassen, dass die biblische Überlieferung die Wiederspiegelung der Geschichte Gottes mit den Menschen sei, und dass die verschiedenen Richtungen und Auswüchse von Theologie und Kirchengeschichte als Suche nach der im christlichen Glauben enthaltenen grundlegenden Wahrheit zu verstehen seien. In den Hintergrund geraten dabei die jeweiligen Designer, nach deren Motiven zu wenig gefragt wird. Dabei müsste gerade die Frage gestellt werden, welche der von ihnen bewusst gestalteten „biblischen Offenbarungen" wem nützten und wem schadeten. Nicht beachtet bleibt, dass die grundlegende Frage nach der Wahrheit auch die Frage nach der Unwahrheit bis hin zur Lüge mit-denken lässt und dass die gesamte jüdisch-christliche Tradition bis in die Gegenwart hinein sehr viel, wenn nicht alles, mit den Aspekten der Meinungsführerschaft und Deutungshoheit zu tun hat.

    Angesichts der genannten Punkte überrascht das Verhalten der gegenwärtigen Meinungsführer, der Vertreter der christlichen Kirche als Theologen an den Universitäten, der Pfarrer in den Gemeinden und auch der Religionslehrer. Ihre wissenschaftliche Ausbildung, ihre unterstellte Kenntnis in Religionswissenschaft und Archäologie erlauben ihnen einen umfassenden Blick auf diejenigen Menschen, mit denen der jüdische und später christliche Glaube von seinen Ursprüngen bis zur Gegenwart verbunden ist und auf das religionshistorische Umfeld, das diese Menschen und ihre Glaubenszeugnisse überhaupt erst hervorgebracht hat. Trotz aller Kenntnisse über die verflochtenen Beziehungen der Religionen untereinander, halten die Vertreter der evangelischen Kirche unbeirrt an Bekenntnissen und Bekenntnisschriften und die der katholischen Kirche an kirchlichen Dogmen fest. Basis aller Bekenntnisse und Dogmen ist das Glaubensbekenntnis, dessen einzelne Sätze bis heute - wider besseres Wissen – unverändert gelten und unangetastet bleiben.

    Fragen

    Kritisch gegenüber der christlichen Religion und natürlich auch selbstkritisch stelle ich folgende Fragen:

    Gibt es für das Verhalten der Kirche Argumente, die sich dem wissenschaftlichen Zugriff entziehen? Oder wird wider besseres Wissen ein Glaube bezeugt und verkündet? Wäre dies dann eine Lüge? Kann der Glaube einen Vorrang gegenüber dem Wissen behaupten? Können Menschen glauben, obwohl es absurd ist und die Vernunft ihnen etwas ganz Anderes sagt? Ist so der Begriff der Lüge ausgehebelt? Können die biblischen Autoren lügen, wenn sie glaubend eine Geschichte Gottes mit den Menschen behaupten und entsprechend aufschreiben? Gibt es überhaupt ein Kriterium, an dem man ablesen kann, ob jemand das (nicht) glaubt, was er sagt? Lügen Theologen, wenn sie sich an Glaubenssätzen vergangener Zeiten orientieren und diese glaubend weitertragen, obwohl sie wissen, dass die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse diesen Glaubenssätzen widersprechen?

    Gibt nicht der nicht mehr hinterfragbare Glaube ihnen eine Autorität, die wir zwar ablehnen können, die wir jedoch zu respektieren haben? Wenn die Kirche an überlieferten Texten festhält, sie „Wort Gottes und „Heilige Schrift nennt, sollten wir dies nicht einfach gelten lassen? Haben wir eine andere Wahrheit anzubieten, die die Wahrheit der Theologen ersetzen kann? Können wir behaupten, dass Theologen der letzten dreitausend Jahre wider besseres Wissen ihre Texte geschrieben haben, wenn wir nur wissenschaftliche Forschungsergebnisse akzeptieren und Einsichten, eventuell auch Offenbarungen, die dieses Wissen überschreiten, ausblenden? Oder werden vielleicht Lügen der Vergangenheit, wenn wir denn diesen Begriff zulassen, bis heute fortgeschrieben und bestimmen somit auch das Leben der Zivilgesellschaft?

    Kann man von einer Arroganz des Glaubens reden, die für sich das Recht beansprucht, Wahrheiten vorzuenthalten oder zu verschleiern? Gibt es eventuell sogar ein Recht auf Ignoranz, wenn man den Glauben bewahren will?

    Etwas sollte sofort klargestellt werden: Natürlich sind Texte der Bibel, die einen authentischen Glauben wie in den Psalmen widerspiegeln, nicht wider besseres Wissen geschrieben, ebenso wenig Texte, die von den Schreibern als heilig und unantastbar weitergegeben werden wollten. Es gibt aber Texte, die einer bestimmten Ideologie folgen und in denen überlieferte Geschichten bewusst verändert und erlebte Geschichte spezifisch gedeutet wurden. Mythen können nicht lügen, aber sie können von den Verfassern der biblischen Bücher instrumentalisiert werden. All dies wird Thema der Kapitel 4 und 5 sein.

    Bevor ich die genannten Fragen in Kapitel 3, das sich mit dem Wahrheitsanspruch der jüdisch-christlichen Religion unter den Aspekten von Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Lüge befasst, weiterverfolge, möchte ich zunächst auf die Rolle der Religion in meinem Leben eingehen, die mein besonderes Interesse an diesem Thema erklärt.

    ³ vgl.: Forschungsgruppe Weltanschauungen, siehe Internetquellen

    ⁴ vgl.: a.a.O.

    ⁵ Zitiert bei Lehnert, Warum ich kein Christ sein will, S.310f

    ⁶ Dazu Karen Duve in ihrem Essay „Welt ohne Gott Der Spiegel 14 / 2009, (siehe Internetquellen) „Religion bezieht ihre Legitimität aus Millionen von Mitläufern., abgerufen am 12.3.2020

    ⁷ Auch Atheisten und Bekenntnislose stellen laut „Forschungsgruppe Weltanschauungen" (s.o.) mit 37% einen großen gesellschaftlichen Anteil in Deutschland. Sie finden jedoch keine entsprechende Repräsentanz, da ihnen eine einheitliche Organisation fehlt.

    ⁸ Tanach – Abkürzung von Tora, Nebiim u Chatubim = Gesetz, Propheten und Schriften. Der Tanach entspricht weitgehend dem christlichen „Alten Testament".

    ⁹ vgl.: Die Titel religionskritischer Bücher: Der Jesuswahn, der Gotteswahn, der Dogmenwahn

    Kapitel 2

    Religion als Lebensthema

    Als Kind einer evangelischen Mutter, im katholischen Niederrhein aufgewachsen, erfuhr ich sehr früh und leidvoll, welche Bedeutung Religion im Alltag haben kann. Ich lernte schnell, dass es zwei „Religionen" gab, eine richtige und eine falsche. Obwohl ich die richtige Religion hatte, behaupteten meine Spielkameraden, dass meine Religion die falsche sei und ihre die richtige. Zu meinem Nachteil waren die anderen in der Mehrheit.

    Anfangs spielte Religion im Umgang mit den Nachbarskindern keine Rolle. Kinder sind unbekümmert und spielen sorglos ohne Vorurteile mit anderen Kindern, allein weil sie da sind. Eines Tages jedoch erfahren sie zuerst von ihren Eltern, dann von Pfarrern oder Priestern, dass sie nicht nur Kinder sind, die Freude am Leben haben, sondern dass sie einer religiösen Konfession angehören - und es ändert sich alles, nicht sofort, aber nach und nach.

    Religion wird irgendwann bewusst als etwas wahrgenommen, das die Menschen trennt. Die katholische Leitkultur im Niederrhein der 50er Jahre sah Protestanten nicht vor. Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg aber zwangen die Einheimischen dazu, sich mit der Existenz von „Ketzern in ihrer nächsten Umgebung abzufinden. Dies wurde dadurch erschwert, dass die „zugereisten Protestanten ihrerseits die neue katholische Umgebung ebenfalls schwer akzeptieren konnten. Der konfessionelle Glaube wurde damals noch gelebt. So dauerte es nicht lange, bis meine Spielkameraden mir vorwarfen, gar kein Christ zu sein. Halb scherzhaft wurde gesagt, dass man mich ja ungestraft schlagen könne, da ich ja nicht katholisch und damit ungläubig sei. Die Kommunionszeit meiner Spielgefährten führte dann zu „Erkenntnissen", dass man im Garten nicht zu tief graben dürfe, da dort der Teufel wohne, und dass man im Keller durchaus Verbotenes tun könne, da Gottes Blick nicht bis dorthin reiche. Wenn doch, stehe einem ja immer noch die Beichte offen, die alles wieder ungeschehen macht. Damit wäre man wieder mit Gott im Reinen. Für mich als Kind war dies alles verstörend.

    Wie weit das ökumenische Verständnis damals gediehen war, zeigt sich darin, dass einmal der Wagen eines uns bekannten evangelischen Pfarrers vor unserer Wohnung mit dem Wort „Heide" beschriftet wurde. All das spielte sich Ende der Fünfziger, Anfang der Sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ab.

    Obwohl - oder vielmehr -, weil ich von meiner Mutter nicht religiös, sondern eher religionskritisch erzogen wurde, war Religion immer ein Thema. Meine Mutter hatte einen sehr kritischen Blick auf die Katholiken, besonders auf den Klerus und die Rolle des Papstes und sprach auch mit mir darüber. Kirchenbesuche waren eher selten, ich fand sie auch wenig interessant, eher langweilig. Wenn ich unsere Religiosität beschreiben soll, so war sie eher pantheistisch: Gott war überall, vor allem in der Natur. Ein Spaziergang durch den Wald war ein vollgültiger Ersatz für einen Gottesdienst.

    Anfang der 60er Jahre zogen wir nach Mönchengladbach, einer der größeren Städte des Niederrheins. Durch den Konfirmandenunterricht bei einem ausgesprochen freundlichen und empathischen Pfarrer, dessen Name, Bruno Weiß, hier durchaus genannt werden soll, „fand ich zum Glauben" an den christlichen Gott. Dieser Pfarrer war es auch, der in mir das Interesse an einem Theologiestudium entstehen ließ. Als ich in der Schule Altgriechisch wählen konnte, entschied ich mich auch aus diesem Grunde dafür. Mit der möglichen Perspektive, Pfarrer zu werden, lernte ich in der Schule neben Latein und Altgriechisch später noch Hebräisch und war somit für das Theologiestudium bestens gerüstet.

    Rückblickend war es weniger der Wunsch, den Beruf des Pfarrers auszuüben, als das Verlangen danach, mehr über die Hintergründe der Religion zu erfahren. Mit der endgültigen Entscheidung, Theologie zu studieren, war das Ziel verbunden, irgendwann in meinem Leben wissen und sagen zu können, ob es einen Gott gibt oder nicht. Genau so habe ich dies damals in jugendlicher Naivität formuliert. Ob diese Zielsetzung wirklich so naiv war, wird sich in den nächsten Kapiteln zeigen.

    Religion und Theologie waren also für mich eher mit Fragen als mit Antworten verbunden. Und die Fragen nahmen mit dem Verlauf des Theologiestudiums zu.

    Zunächst war ich überrascht, wie sachlich an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, meinem ersten Studienort¹⁰, mit den Themen des christlichen Glaubens umgegangen wurde. Etwas mehr Spiritualität hatte ich schon erwartet. Biblische Texte wurden nüchtern wie jede andere Literatur mit den gleichen Methoden untersucht. Von göttlicher Inspiration war keine Rede.

    Thematisiert wurden literarische Abhängigkeiten, die unterschiedlichen Intentionen der Autoren, unter denen sie biblische Texte formuliert haben, die verschlungenen Wege der Überlieferung und die historische Bedingtheit der sogenannten „Glaubenszeugnisse". Ich wurde schlicht mit dem konfrontiert, was man historisch-kritische Forschung nennt.

    Natürlich spielte im Hintergrund meines Denkens immer noch die Melodie der göttlichen Inspiration. Zudem war Jesus doch der Sohn Gottes – oder etwa nicht? Ich erklärte mir die Wege der Überlieferung, die unterschiedlichen Theologien und historisch bedingten Aussagen der biblischen Texte damit, dass die Menschen eben verschiedene Wege zu Gott gesucht und gefunden hatten, und dass die Offenbarungen Gottes – so es denn welche gab - immer in der beschränkten menschlichen Sprache geschehen mussten, damit Menschen sie verstehen konnten. Missverständnisse und Fehlinterpretationen waren wohl so gleichsam vorprogrammiert.

    Ein damals äußerst umstrittener Theologe namens Rudolf Bultmann hatte bereits in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts den Versuch gemacht, die biblischen Texte zu entmythologisieren, um ihre eigentliche Aussage herauszuarbeiten. Seine Position war auch Thema unter den Professoren und Studenten, seine Gedanken waren sozusagen an den Universitäten Allgemeingut. Für die bibeltreuen Studenten waren sie jedoch blanke Häresie, für mich ein Anlass, über vieles neu nachzudenken.

    Wenn von Bultmann die Jungfrauengeburt und die Wunder Jesu als zeitbedingte Mythen herausgearbeitet wurden, stellte sich natürlich für viele Studenten die Frage, inwieweit denn wirklich noch von Jesus als dem Sohn Gottes geredet werden konnte. Dafür hatte Bultmann selbst eine Antwort. Es gehe primär nicht um die Historizität der Auferstehung und um die Wahrheit von Mythen, z.B. der Himmelfahrt, sondern um die Botschaft, das sogenannte Kerygma Jesu Christi, in dem der Herr der christlichen Kirche heute noch präsent sei. Der Christ sei vor die Entscheidung gestellt, der Botschaft gläubig zu folgen.

    Diese Antwort konnte mich nicht zufrieden stellen. Ich sollte glauben, obwohl die theologische historisch-kritische Forschung gerade Grundlagen dieses Glaubens in Frage stellte. Ich wollte mehr über den historischen Jesus wissen. Je mehr ich mich mit ihm beschäftigte, desto deutlicher erschloss sich mir das Bild eines jüdischen Predigers, dessen Botschaft in dem Satz zusammengefasst werden kann: „Denkt um, denn das Reich der Himmel ist nahe"¹¹ (Matth. 4,17). Alle Hoheitstitel (Messias, Gottessohn, Menschensohn, Herr) – so wurde es gelehrt - waren Bildungen der Gemeinde, die sich natürlich an den zur Verfügung stehenden Begriffen des Judentums und anderer Glaubensrichtungen orientiert haben. Die Religion kann auch ein Forschungsgebiet für Linguisten sein.

    Mich wunderte, dass trotz der Erkenntnisse der Exegeten des Alten und Neuen Testaments und scheinbar völlig unbeeindruckt von religionshistorischen Forschungsergebnissen im Bereich der Systematik und Homiletik (Predigtlehre) von Jesus Christus als dem letztgültigen Wort Gottes gesprochen wurde, davon, dass Gott sich in Jesus ein für alle Mal offenbart habe. Selbst sogenannte moderne Theologen und Theologinnen wie Dorothee Solle sprachen davon, dass Jesus Christus den nicht mehr sichtbaren Gott vertrete. Eigentlich hätte meiner Ansicht nach sich die Botschaft der Kirche den historischen Erkenntnissen anpassen müssen. Anstelle des Glaubens an Jesus Christus hätte der Glaube Jesu an einen liebenden und gnädigen Gott stehen müssen.

    Die Diskrepanz zwischen den wissenschaftlichen Erkenntnissen und der systematischen Lehre der evangelischen Kirche war für mich schließlich unerträglich. Leider habe ich damals nicht gefragt, warum die offensichtlichen Widersprüche für Theologen und Pfarrer erträglich waren, (vergl. Kap.6)

    Je länger ich mich mit der Frage des Glaubens, der Religionsgeschichte und den verschiedenen theologischen Strömungen beschäftigte, wurde auch Gott selbst eher zu einer Frage denn zu einer Antwort. Aufgrund meiner immer größeren Distanz zu den Inhalten der Vorlesungen und Seminare konnte ich es nicht mehr ertragen, dass Theologen an allen religionswissenschaftlichen und auch theologischen Erkenntnissen vorbei, das „Dennoch" des Glaubens mit verklausulierten und missverständlichen, nach allen Seiten offen scheinenden Argumenten verteidigten. Schließlich war es für mich nicht nur intellektuell unerträglich, diesen Gedanken zu folgen, sondern auch physisch. Der Ärger ging so weit, dass ich mitten in einer Vorlesung den Hörsaal der Bonner Universität verlassen musste, um im Hofgarten wieder erleben zu können, dass trotz der theologischen Lehren die Sonne immer noch scheint, und es ein wahres Leben jenseits abstruser weltfremder Spekulationen gibt. Ich zog die Konsequenzen, vielleicht passender ausgedrückt, die Reißleine. Kurz vor dem Examen, mit sämtlichen Voraussetzungen inklusive des Biblikum¹², brach ich mein Studium ab.

    Wie sehr ich auch von der Richtigkeit meiner Entscheidung überzeugt war, so deutlich empfand ich mein „Nicht-glauben-können" unterschwellig als Defizit. Die verkomplizierende, verschleiernde, dann wieder überzeugend erscheinende theologische Sprache wirkte offensichtlich weiter. Insgeheim bewunderte ich meine Kommilitonen, dass sie trotz allem, vielleicht auch trotz besseren Wissens, glauben konnten. Ich ging davon aus, dass sie einen Weg gefunden hatten, beides, Wissen und Glauben, zu verbinden, einen Weg, der mir verschlossen geblieben war. Dass dies ein Weg war, den man nur mit Krücken begehen konnte, erschloss sich mir erst später. Erstaunt war ich allerdings, dass die Krücken sogar als Vorzug angesehen werden konnten.

    Krücken ermöglichen es einem Menschen trotz Behinderung vorwärtszukommen. Hätten mich Sachzwänge, z.B. familiäre Verantwortung, dazu veranlasst, den Beruf des Pfarrers auszuüben, dann hätte ich aufgrund meines Handicaps intellektuelle und moralische Hilfen gebraucht, um diesen Weg zu gehen. Vielleicht hätte ich mich darauf gestützt, dass gerade mein Zweifel mir ermöglicht, Solidarität mit den vielen Menschen zu erleben, die ebenfalls in ihrem Glauben an Gott unsicher sind. Ich hätte die ethischen Ansprüche des christlichen Glaubens in den Vordergrund gerückt und versucht, sie in der Gemeindearbeit zu realisieren. Vielleicht hätte ich gute therapeutische Fähigkeiten gehabt, um Menschen in Nöten helfen zu können. In Predigten hätte ich mich auf soziale Themen konzentrieren und derart von Gott reden können, dass er zum Symbol für Mitmenschlichkeit geworden wäre.

    Damit aber hätte ich, um es mit den Worten Buggies auszudrücken, versucht, „das defizitäre Ethos der Wahrhaftigkeit, der intellektuellen Redlichkeit … durch das Ethos der mitmenschlichen Solidarität, Hilfe, Zuwendung und des politisch-sozialen Engagements (zu) kompensieren"¹³.

    All dies wären, wie gesagt, Krücken einer misslingenden Kompensation gewesen, mit denen ich als Glaubensbehinderter meinen Lebensweg hätte gehen müssen. Dieser sublimierte Glaube an Gott wäre eine Krücke gewesen, die mich mein Leben lang behindert hätte, obwohl ich sie wohl euphemistisch als „Stecken und Stab" (Psalm 23) verstanden hätte.

    Um mein weiterhin bestehendes Interesse an Fragen der Religion mit einem Beruf verbinden zu können, entschied ich mich - nach reiflicher Überlegung und mit einem gewissen zeitlichen Abstand - Religionslehrer zu werden. Zum einen war ich von der Last befreit, einen nicht vorhandenen Glauben bekennen zu müssen, zum anderen sah ich für mich die Möglichkeit, Schüler mit den Erkenntnissen der Theologie und Religionswissenschaft vertraut zu machen. Als zweites Fach wählte ich Russisch.

    Im Religionsunterricht war es mein zentrales Anliegen, Schülerinnen und Schüler über die Bedingtheiten des christlichen Glaubens aufzuklären. Viele meiner Schüler hatten ohnehin kaum noch Kontakt zur Kirche, trugen aber tradierte Vorstellungen von Gott, Jesus und Bibel aus dem Kindergottesdienst und der

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