Biblische Schöpfungsordnung in der Spannung von Genderideologie und sexueller Vielfalt
Von Mathias Nell, Michael Seifert und Christoph Raedel
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Buchvorschau
Biblische Schöpfungsordnung in der Spannung von Genderideologie und sexueller Vielfalt - Mathias Nell
Vorwort
Das Thema „Transgender" steht in den letzten Jahren vermehrt auf der politischen und gesellschaftlichen Agenda und wird kontrovers diskutiert. Einerseits geht es um Betroffene, die sich auf einer ganz persönlichen Ebene mit der Frage ihrer Identität auseinandersetzen. Auf der anderen Seite wird das Thema von weltanschaulichen Strömungen aufgegriffen und als Teilaspekt einer viel grundlegenderen gesellschaftspolitischen Neukonstruktion behandelt. Es treffen in der entsprechenden Debatte daher zutiefst persönliche, individuelle Herausforderungen auf gesellschaftspolitische Motive, wobei es nicht immer leicht ist, diese unterschiedlichen Sphären sauber auseinander zu halten.
Was konstituiert Geschlecht? Geht es dabei lediglich um gesellschaftliche Konstruktionen oder haben wir es mit biologischen Fakten zu tun, die letztlich nicht hintergehbar sind? Gibt es zwischen beiden Polen auch Graubereiche? Ist das biologische Geschlecht Gabe und Aufgabe des Schöpfers an den Menschen oder erst in zweiter Linie ausschlaggebend für die Identität des Einzelnen? Was bis vor wenigen Jahren noch als klar, eindeutig und gesetzt erschien, ist heute alles andere als sicher. Was also sind die Grundlagen, um eine begründete Antwort geben zu können? Welche Rolle spielen die Aussagen der Heiligen Schrift und äußert sie sich überhaupt dazu? Gibt es neue medizinische Erkenntnisse, die bisheriges Wissen mit Recht in Frage stellen? Welche weltanschaulichen Motive beeinflussen uns bei der Wahrnehmung und Deutung von Fakten? Diese drei Ebenen, die systematisch-theologische, die humanmedizinische und die gesellschaftspoltische bilden die Grundlage der Artikel dieses Bandes.
Es schließt sich die Veröffentlichung des Präsidiums des BFP zum Thema „Transgender" an, die auf den Ergebnissen einer eingehenden Erörterung der genannten Ebenen aufbaut. In ihrem Mittelpunkt steht die pastorale Handreichung, die das Ziel verfolgt, Seelsorgern zu helfen, persönlich Betroffene bestmöglich und verantwortlich zu begleiten und dabei zugleich die ekklesiologischen Rahmenbedingungen im Auge zu behalten.
Dr. Bernhard Olpen
Leiter des Theologischen Ausschusses
A Eine biblisch-exegetische Studie über Vorkommen, Bedeutung und Umgang des Transgender-Phänomens in der Bibel
Mathias Nell, M. Th.
I Hinführung und Leseorientierung
Zur Erhebung eines Befundes darüber, wo und wie in der Bibel das Phänomen der Transgeschlechtlichkeit bzw. Transgender berührt wird, sollen folgende Definitionen nach Kessler¹ zu Grunde liegen:
• Transgeschlechtlichkeit entspricht der medizinischen Bezeichnung Transsexualität, welche von Betroffenen jedoch meist abgelehnt wird. Denn es geht im Kern „nicht um ein Problem bei der Sexualität, sondern um die Geschlechtsidentität, da die betroffenen Personen sich nicht mit dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren können. Das äußerlich faktische, körperliche Erscheinungsbild weicht also „vom inneren Empfinden ab.
• Transgender meint die sozialen Aspekte der Transgeschlechtlichkeit.
• Intergeschlechtlichkeit entspricht der medizinischen Bezeichnung Intersexualität, welche von Betroffenen ebenfalls meist abgelehnt wird. Denn auch hier geht es in erster Linie nicht um Sexualität an sich, sondern um Geschlechtlichkeit, die in diesem Fall uneindeutig ist. Dabei wird unterschieden zwischen „zwischen offensichtlich so Geborenen und verborgener Intersexualität. Letzterer Typ wird manchmal auch von transgeschlechtlich empfindenden Personen beansprucht, die die Kategorien „Mann und Frau
gänzlich ablehnen.
Die Bibel behandelt auf den ersten Blick diese (modern benannten) Phänomene an keiner Stelle, zumindest nicht innerhalb eigener und entsprechend abgegrenzter Themengebiete. Es gibt jedoch einige wenige Stellen, an denen diese Phänomene in übergeordneten Zusammenhängen berührt sind oder berührt sein könnten. Dabei handelt es sich bei allen Stellen um solche, die im Selbstanspruch der Texte einen Umgang von Gott her regeln bzw. im Letzten aus Gottes Perspektive darüber berichten oder werten.² Im Folgenden sollen diese Stellen genauer auf unsere Fragestellung hin untersucht werden: Wo und wie wird in der Bibel das Phänomen der Transgeschlechtlichkeit bzw. Transgender berührt?
Dazu werden zunächst Texte des Alten Testaments (1) konsultiert, erstens über etwaigen Transvestismus in 5Mo 22,5 (1.1), zweitens über Eunuchen in 3Mo 22,24f, 5Mo 23,2 und Jes 56,4f (1.2). Daraufhin folgt ein Durchgang der relevanten Texte im Neuen Testament (2): In Mt 19,12 begegnet eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Intersexualität sowie erneut der Eunuchie ebenso wie letzteres in Apg 8,26-40 (2.1). In 1Kor 6,9 und 1Kor 11,4.7.14f folgt erneut eine Untersuchung auf vermuteten Transvestismus (2.2). Im Anschluss erfolgt als Hintergrundperspektive ein Aufzeigen der biblischen, komplementär-polaren Geschlechterordnung (3). Abschließend folgen eine Verortung des Arbeitsprozesses sowie eine Zusammenfassung für den weiteren Diskurs (4).
Ein Wort zur Leseorientierung: Die Fragestellung, wo und wie in der Bibel das Phänomen der Transgeschlechtlichkeit bzw. Transgender berührt wird, lässt sich bei engem Fokus auf diese Fragestellung rasch beantworten. Deswegen wird in diesem Beitrag der Fließtext – dem in einer wissenschaftlichen Arbeit stets das Hauptthema vorbehalten sein sollte – exklusiv eben diese Fragestellung im engeren Sinn behandeln und daher vergleichsweise prägnant ausfallen. Der Vergleichspunkt ist hierbei der Fußnotentext der vorliegenden Studie. Denn dieser fällt im Verhältnis zum Fließtext deutlich größer aus als üblich und als für die Beantwortung der eigentlichen Fragestellung nötig. Zwar gehört zu jeder wissenschaftlichen Arbeit ein Fußnotentext, worin zur Beantwortung der Hauptfragestellung (weitere) Fragen und Argumente eingebracht und diskutiert sowie Quellenverweise aufgezeigt werden. Für diese Studie sollen jedoch zusätzlich auch Fragestellungen und Themen in die Fußnoten eingebracht und andiskutiert werden, die den Bereich der unmittelbaren Fragestellung verlassen, jedoch für das weitere Themenfeld von Sexualität und Sexualethik aus biblischer Perspektive hilfreich sein können.
II Altes Testament
1 Transvestismus in 5. Mose 22,5?
Als einzig wirklicher und daher prominenter Beleg aus dem Alten Testament gilt 5Mo 22,5: „Eine Frau soll keine Männersachen tragen, und ein Mann soll keine Frauenkleider anziehen, denn der HERR, dein Gott, verabscheut jeden, der dies tut."³ Während manche hier primär Transvestismus adressiert sehen,⁴ also die „Annahme der Rolle des anderen Geschlechts mittels Kleidung, Schminke, Gestik u. Ä.⁵, scheint der Text doch eher Dahinterliegendes anzusprechen: Es wird um Vorbeugung von homosexuellem Verkehr gehen, der „auch nicht auf diese Weise erschlichen werden
sollte.⁶ Dafür spricht auch, dass der Text in 5Mo 22,1-12 als eine Sammlung von Übergangsparagraphen zu verstehen sein wird, denn:⁷
Der Textabschnitt Dtn 22,5-12 liegt innerhalb der Einzelbestimmungen des Deuteronomiums, welche sich von Kapitel 12-26 erstrecken.⁸ Offensichtlich folgt die Auflistung dieser Einzelbestimmungen systematisch der Reihenfolge des Dekalogs (5,6-21), wodurch sich von einer Gesetzessystematik mit dekalogischer Makrostruktur im Deuteronomium sprechen lässt.⁹ Übereinstimmend wird dabei der Text ab 19,1 dem sechsten Gebot zugeordnet und somit dem Gebot zum Schutz des Lebens unterstellt. Unklar ist die Abgrenzung dieses Abschnitts nach hinten. Kaufman (1979, 105ff) sieht die Ausführungen zum siebten Gebot mit 22,9 begonnen, während Braulik (1988, 231ff) den Schnitt erst bei 22,13 ansetzt und dabei 22,1–12 komplett als Übergangsparagraph wertet. Tatsächlich sind die Verse 22,5-12 am treffendsten als Übergangsparagraphen zu bezeichnen, da überlappend sowohl das vorausgehende sechste Dekaloggebot (22,6f.8), das nachfolgende siebte Dekaloggebot (22,5[.9-12]) sowie das alles überragende und zugrunde liegende erste Gebot (22,5[.6f].9-12) aufgegriffen und ausgeführt werden […].¹⁰
Daher wird 5Mo 22,5 im übergeordneten Zusammenhang des siebten Gebotes zum Schutz der ehelichen Treue zu verstehen sein. Im Blick auf das im Vers verbotene Verhalten mag es vordergründig zwar um Transvestismus gehen,¹¹ es wird jedoch auf homosexuellen Verkehr abzielen. Ein möglicherweise dahinter liegendes homosexuelles oder transgeschlechtliches Empfinden, das sich transgender¹² auszudrücken sucht, wird nicht thematisiert. Abschließend sei noch darauf verwiesen, dass der in 5Mo 22,5 beschriebene Fall von der Basis zweier eindeutig vorausgesetzter Geschlechter, Mann und Frau, handelt.
2 Über Eunuchen: 3. Mose 22,24f, 5. Mose 23,2 und Jesaja 56,4f
Zwar begegnen immer wieder Eunuchen im Alten Testament,¹³ jedoch sind die Belege entweder zu deutungsoffen oder für unsere Fragestellung nicht brauchbar.¹⁴ So ist Kastration in Israel nach 3Mo 22,24f¹⁵ generell verboten, nach 5Mo 23,2¹⁶ sind Eunuchen aus der gottesdienstlichen Gemeinschaft ausgeschlossen. (Prophetische) Aufbrüche zur vollumfänglichen Akzeptanz geschehen allerdings schon innerhalb des Alten Testaments:
Denn so spricht der HERR: Den Eunuchen, die meine Sabbate halten und wählen, woran ich Gefallen habe, und die an meinem Bund festhalten, ihnen gebe ich in meinem Haus und in meinen Mauern Denkmal und Name, was mehr ist als Söhne und als Töchter. Einen ewigen Namen werde ich ihnen geben, der nicht getilgt wird. (Jes 56,4-5)
Soviel lässt sich auf jeden Fall sagen: Ein Bezug zur Transgeschlechtlichkeit oder gar zum Phänomen Transgender lässt sich im Blick auf Eunuchen im Alten Testament nicht herstellen.
III Neues Testament
1 Über Eunuchen und Intersexuelle: Mt 19,12 und Apg 8,26-40
Auch im Neuen Testament begegnen der Sache nach Eunuchen, auch wenn diese – je nach Bibelübersetzung – nicht immer als solche erkennbar werden. Eine unmittelbare Ansprache durch Jesus findet sich in Mt 19,12: „Ja, es gibt Eunuchen, die von Geburt an so waren, und es gibt Eunuchen, die von Menschen zu solchen gemacht wurden, und es gibt Eunuchen, die sich um des Himmelreiches willen selbst zu solchen gemacht haben. Wer das fassen kann, fasse es!" Hier spricht der Text
über drei verschiedene Typen von Eunuchen: Da sind erstens diejenigen, die bereits so geboren wurden (Intersexuelle), zweitens solche Menschen, die dazu gemacht wurden (Kastrierte), und drittens solche, die für Gottes Reich zölibatär leben. Den Zusammenhang des Textes bildet eine Diskussion über die Ehe, in der Jesus einen Fragesteller daran erinnert, dass wir als „Mann und Frau" in das Ebenbild Gottes geschaffen sind. Der Abschnitt ist ein Beispiel dafür, wie Jesus das göttliche Ordnungsmuster bestätigt und zugleich in unserem Denken Raum für Menschen und Situationen schafft, die nicht eindeutig in dieses Muster hineinpassen.¹⁷
Maier bringt die heilsgeschichtlichen Implikationen noch deutlicher auf den Punkt: In allen Fällen wird „für die Heilszeit die Verheißung ausgesprochen, dass die Verschnittenen […] in Gottes Haus eine Heimat finden sollen, wenn sie Gottes Willen tun. Der Ausschluss von 5Mo 23,2 wird damit aufgehoben."¹⁸
Gemeinsam ist den ersten beiden Gruppen, dass es sich bei ihnen um „Menschen ohne Zeugungskraft"¹⁹ handelt und zwar in beiden Fällen unfreiwillig (wofür im zweiten Fall der Duktus der Aussage spricht).²⁰ Für unser Thema rückt jedoch nur die erste Gruppe in den Blick, für die im Zitat oben bereits der Begriff der Intersexualität eingebracht wurde. Denn je nach Ausprägung und Art einer angeborenen Intersexualität²¹ könnte sich diese – besonders, sollte es sich um verborgene Intersexualität handeln – in einem transsexuellen bzw. transgender Empfinden und Verhalten äußern bzw. von außen als transgender wahrgenommen werden.²² Daher sollte Transgeschlechtlichkeit hier in zweiter Reihe mit bedacht werden.
Für die Deutung des Abschnitts bleibt noch festzuhalten, dass Jesus die drei Gruppen anführt, um wesentliche Gründe für Eheunfähigkeit bzw. „Eheuntauglichkeit"²³ zu benennen,²⁴ wodurch zugleich auf die Grundsätzlichkeit und Normalität ausgelebter Sexualität innerhalb der Ehe von in ihren körperlichen Voraussetzungen ehefähigen Männern und Frauen verwiesen ist.²⁵
Eine praktisch greifbare Erfüllung des Prophetenwortes aus Jes 56,4f wird in Apg 8,26-40 in der Taufe des nubischen Eunuchen²⁶ (die ausdrückliche Benennung geschieht in Vers 27²⁷) durch Philippus berichtet.²⁸
Philippus’
