Wohin mit dem Kreuz?: Die Bedeutung von Schuld und Sünde für die Evangeliumsverkündigung heute
Von Matthias C. Wolff, Marc Strunk und Helene Wuhrer
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Über dieses E-Book
Beides zugleich scheint in der heutigen Zeit kaum mehr vermittelbar. Eine Möglichkeit ist, das Sühnemotiv des Kreuzes lediglich als zeitgenössische Metapher zu verstehen, die heute anders interpretiert werden muss. Aber stimmt das mit den Aussagen in der Bibel überein?
Im vorliegenden Band untersuchen die Autoren die Bedeutung des Kreuzes sowohl exegetisch, wie soziologisch als auch missiologisch und kommen zu dem Schluss, dass die Versöhnungslehre der Schrift eine zeitlose Botschaft ist. Dieser tragende Grundgedanke entlastet aber nicht davon, immer wieder nach einer Sprache zu suchen, in der die Botschaft vom Kreuz auch heute noch verstanden wird.
Hinweis: Diese Veröffentlichung enthält die Beiträge zum theologischen Studientag des BFP 2024
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Buchvorschau
Wohin mit dem Kreuz? - Matthias C. Wolff
Vorwort
Die Vermittlung der Kreuzesbotschaft als Sühneort für unsere Sünden wird heute von manchen Kirchen als zunehmend schwierig empfunden. Wie lässt sich die Botschaft eines liebenden Gottes mit der Notwendigkeit eines blutigen Opfers vereinbaren? Handelt es sich beim Sühnemotiv des Kreuzes lediglich um eine zeitgenössische Metaphorik, die heute anders ausgedrückt und interpretiert werden muss, um sie verständlich zu machen? Oder ist das Kreuz lediglich, wie schon zu Paulus’ Zeiten, ein Stein des Anstoßes, den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit (1Kor 1,23)? Muss man es auch einem postmodernen und aufgeklärten Publikum zumuten, um den Kern der biblischen Versöhnungsbotschaft nicht zu verlieren?
Der vorliegende Band geht der Frage nach der Bedeutung des Kreuzes exegetisch, soziolologisch und missiologisch nach. Die Beiträge sind von dem grundlegenden Gedanken geprägt, dass es sich bei der Versöhnungslehre der Schrift um eine zeitlose Botschaft handelt, die freilich in den jeweiligen kulturellen Kontext eingetragen werden muss, ohne dabei jedoch die unvermeidliche Schroffheit von Kreuz, Sühne und Versöhnung zu verleugnen.
Dr. Bernhard Olpen
Leiter des Theologischen Ausschusses
A Anfragen an Kreuz und Sühne
Matthias C. Wolff, M. Th.
Das Kreuz ist das zentrale Symbol des Christentums. In ihm konzentriert sich buchstäblich das Heilsgeschehen, in dem sich Gott in Christus der Welt zuwendet und ihre Erlösung bewirkt. Unter „Kreuz" in diesem Zusammenhang verstehen wir den stellvertretenden Sühnetod Jesu Christi und den Ereignisverbund von Kenosis, Inkarnation, Thanatos und Anastasis (Erniedrigung, Menschwerdung, Tod und Auferstehung; Phil 2,5-11).
Das „Wort vom Kreuz" steht von Anfang an im Mittelpunkt der christlichen Verkündigung. Es hat einige Jahrhunderte gedauert, bis sich das Kreuz als Symbol oder Kunstgegenstand herauskristallisiert hatte. Sehr alte frühchristliche Darstellungen zeigen den Fisch, den guten Hirten oder XP, die griechischen Buchstaben „chi" und „rho" als Abkürzung für „Christos". Im Zuge der Hellenisierung des Christentums in den ersten Jahrhunderten standen zunächst andere theologische Themen wie Trinität oder der Logosbegriff im Vordergrund.
„Alexamenos betet seinen Gott an."
Das allererste bekannte Kruzifix ist eine eselköpfige Spottzeichnung in den Steinen einer Kaserne in Rom, mit der Legionäre um 200 n. Chr. anscheinend einen Kameraden verhöhnten, der Christ war. Die bildliche Darstellung des Kreuzes oder gar des Gekreuzigten, insbesondere die Entdeckung des Kreuzes als Kunstobjekt scheint sich erst nach der Abschaffung der Kreuzigung 320 als Todesstrafe durch Konstantin im Westen des Römischen Reiches verbreitet zu haben, als es niemanden mehr gab, der je eine Kreuzigung erlebt hatte. Erst 431, auf dem Konzil zu Ephesus, wurde das Kreuz offiziell als christliches Symbol anerkannt.
I Warum dieses Thema?
Das Kreuz – Tod und Auferstehung Christi – ist nach biblischer Darstellung Dreh- und Angelpunkt der Weltgeschichte. Es steht nicht nur im Zentrum christlicher Verkündigung, sondern ist auch weltgeschichtliche Zeitenwende mit ewiger und kosmischer Bedeutung, wofür die Einteilung der Geschichte in eine Zeit vor Christus und nach Christus fast noch das geringste, wenngleich auch ein symbolträchtiges Zeichen ist. Die Dimension dieses Geschehens gedanklich und sprachlich zu erfassen, ist selbst für die inspirierten Verfasser der Heiligen Schrift eine Herausforderung, der sie sich in verschiedenen Bildern nähern. Keines dieser Bilder kann dabei die ganze Breite und Gedankentiefe des Erlösungswerkes ausloten, und manche Konnotationen des einen oder anderen Bildes können isoliert betrachtet sogar zu Missverständnissen führen. Doch in der Gesamtheit des biblischen Zeugnisses entsteht ein Panorama, das Gottes Handeln mit den Menschen verdeutlicht und zeigt, wie sehr ihm an einer Wiederherstellung der Beziehung gelegen ist. Es wird aber kaum möglich sein, ein Gesamtbild zu zeichnen, das jedes Detail klärt, alle Spannungen ausbügelt und jede Unklarheit beseitigt.
Der biblische Opfer- oder Sühnegedanke sei nun heute nicht mehr zu vermitteln, hört man vermehrt. Vor allem die Vorstellung eines zornigen Gottes, der eines blutigen Opfers bedürfe, passe weder in unsere Zeit noch zu dem Bild eines liebenden Gottes, das im Neuen Testament gezeichnet werde. Anstößig ist dabei sowohl der Gedanke, dass ich – der einzelne – einen Stellvertreter brauche, um nicht an meiner Sünde zugrunde zu gehen, als auch die Vorstellung eines Gottes, der überhaupt eines derartig brutalen Opfers bedürfe und diese Grausamkeit auch noch an seinem eigenen Sohne vollziehe. Muss diese Kritik zu einer Neuinterpretation des Kreuzes führen, um dem Menschen von heute das Heilsgeschehen angemessen erklären zu können?
Dass die Botschaft vom Kreuz anstößig ist und auf Ablehnung stößt, ist eine Beobachtung, die schon Paulus machen musste (1Kor 1,23-24). Nicht erst dem heutigen Leser ist die Vorstellung, der Foltertod eines galiläischen Bauarbeiters im ersten Jahrhundert habe etwas mit seinem Leben zu tun, könne ihn „retten, ja, könne gar die Welt mit all ihren Missständen „erlösen
, fremd. Erst recht im Zuge der zunehmenden Säkularisierung in unserer Kultur ist die Rede vom Kreuzestod Christi als stellvertretendem Sühneopfer zunehmend missverständlich und fragwürdig geworden. Dabei denken wir nicht nur an Fußballvereine, die aus Liebe zu ihren arabischen Sponsoren das Kreuz aus ihren Wappen entfernen¹ oder an Tourismusagenturen, die in Erwartung muslimischer Gäste Gipfelkreuze aus ihren Bildbroschüren wegretuschieren².
Auch in der christlichen Theologie wird die Rede vom Kreuz umgedeutet oder in ihren klassischen Deutungen abgelehnt.
II Was genau ist der Streitpunkt?
Das Kreuz war schon immer Gegenstand von Diskussionen und Kontroversen und hat auch nach Jahrhunderten nichts von seiner Irritationskraft eingebüßt. Selbst in der Vergangenheit gab es nicht das Versöhnungsverständnis – genausowenig wie es den den heutigen Menschen gibt, für den diese Vorstellung nicht mehr akzeptabel sei. Es lassen sich aber einige theologische Grundkonstanten festhalten, die das Versöhnungsverständnis über die Jahrhunderte geprägt haben, und zwar konfessionsübergreifend in katholischen und reformierten Kirchen.
Zu nennen sind hier:
• Die Erlösungsnotwendigkeit des Menschen, die Gefallenheit der Schöpfung, die Sündenverderbtheit der ganzen Menschheit. Hier wird besonders auf die augustinische Erbsündenlehre zurückgegriffen.
• Die Vorstellung eines gerechten und heiligen Gottes, dessen berechtigter Zorn durch ein Opfer abgewendet werden müsse. Hier wirkt v. a. die Satisfaktionslehre Anselm von Canterburys nach.
• Die Stellvertretung Jesu Christi, der pro nobis starb (Röm 5,6,8,32; Eph 5,2; 1Tim 5,10; Tit 2,14; 1Petr 3,18; vgl. Mk 14,24), wobei das „für uns" sowohl „zu unseren Gunsten" als auch – noch stärker – „an unserer Stelle" bedeutet. „Das Bekenntnis, dass Christus für uns und unsere Sünden gestorben ist, findet sich in Schrift und Tradition, es ist im liturgischen Gebet der Kirche präsent und bildet eine ökumenische Brücke zur reformatorischen Tradition", fasst der katholische Theologe Jan-Heiner Tück zusammen.³
Selbstverständlich bilden diese Eckpunkte nicht die Breite der kirchenhistorischen Versöhnungsverständnisse ab. Doch sie zeigen Kernaspekte, die sowohl in katholischen als auch in evangelischen, evangelikalen und pentekostalen Traditionen eine Rolle spielen, weswegen sich – der Einfachheit halber – von „klassischer Versöhnungslehre" sprechen lässt. Die Eckpunkte drücken auch das aus, worauf sich die Kritik heutzutage konzentriert.
III Welche Vorwürfe werden den Eckpunkten der klassischen Versöhnungslehre entgegengebracht?
1 Ich bin kein Sünder!
Die Erlösungsbedürftigkeit wird in Frage gestellt, weniger die unserer Welt, als die des Einzelnen; vor allem die augustinische Erbsündenlehre steht in der Kritik. Dass mit der Menschheit und ihrem Zusammenleben auf diesem Planeten nicht alles in Ordnung ist, wird nicht bestritten. Diesen Umstand aber auf einen Sündenfall zurückzuführen, mit dem eine goldene Urzeit geendet habe, und seit dem eine – sexuell übertragene – Erbsünde für Schuld und Knechtung aller nachfolgenden Individuen und Generationen sorge, wird sowohl mit theologischen als auch mit evolutionshistorischen Begründungen abgelehnt.⁴ Zudem hat sich mit der Ausbreitung des Humanismus und dem Fortschrittsoptimismus der Aufklärung ein neues Bild vom Menschen durchgesetzt, das eine generelle Disposition zum Bösen zurückweist. Das hatte auch Auswirkungen auf das Versöhnungsverständnis.
Pädagogische Begriffe, die Jesus als Erzieher, Lehrer und moralisches Beispiel würdigen, wurden im Zeitalter der Vernunftreligion und der ethischen Selbstvervollkommnung bevorzugt. Auch heute gibt es Stimmen, die in der Preisgabe von Begriffen wie „Sühne, „Opfer
und „Genugtuung" einen theologischen Freiheits- und Humanitätsgewinn sehen.⁵
2 Gott braucht kein blutiges Opfer!
Die Vorstellung eines gerechten und heiligen Gottes, dessen berechtigter Zorn durch ein Opfer abgewendet werden müsse, gilt als unvereinbar mit dem Gott der Liebe, der sich in Christus offenbart.
Die Ablehnung erfolgt nicht nur mit Blick auf humanistische Ideale, sondern auch mit Verweis auf die Bibel. Ist Gott etwa sadistisch? Mit dem Bild eines liebenden und gnädigen Gottes lasse sich diese Theologie nicht mehr vereinbaren. Magnus Striet schreibt:
Wenn Gewalt abzulehnen ist, unbedingt, so darf auch Gott sie höchstens tolerieren, und auch dann noch wäre nach den Gründen zu fragen, die dies akzeptabel machen.⁶
Noch deutlicher wird Karl-Heinz Menke:
Gänzlich und endgültig zu verabschieden ist die unselige Vorstellung, Gott, der Vater habe gleichsam vom Himmel her zugeschaut, wie sein Sohn im Ereignis der Inkarnation auf die Seite der Menschen getreten ist und ersatzweise die Sünden der Brüder und Schwestern am Kreuz gesühnt hat (Satisfaktionstheorie) […] Wer es für möglich hält, dass der Vater den Kreuzestod seines Sohnes als Ausgleich (Satisfaktion) für die Sünde seit Adam wollte; und er außerdem für möglich hält, dass der Vater den unschuldigen Sohn ersatzweise für die Sünden sterben ließ, obwohl er dies hätte verhindern können, der vertritt nicht nur eine antibiblische Theologie, sondern auch eine theologische Rechtfertigung von Gewalt.⁷
Hier wird nicht nur eine zeitbedingte Schwierigkeit in Anschlag gebracht, die es unmöglich mache, mit der klassischen Versöhnungslehre auf Verständnis zu stoßen; vielmehr wird das gesamte Opfermotiv des Kreuzes rundweg als wesensfremd und dem Charakter Gottes widersprechend eingeordnet.
3 Ich brauche keinen Stellvertreter!
Es gelte die sittliche Unvertretbarkeit des Individuums. In Fragen der Moral könne es keine Stellvertretung geben, war Immanuel Kant überzeugt; niemand könne die moralische Schuld eines anderen übernehmen.
Es wird somit nicht nur das Sündersein des Menschen und seine Erlösungsbedürftigkeit abgelehnt, sondern auch ein funktionales Gegenargument in Anwendung gebracht: Schuld kann nicht auf jemand anderes übertragen werden.
4 Jesus verkündigte das angebrochene Gottesreich!
Die Theologiegeschichte habe eine „staurozentrische Engführung"⁸ hervorgebracht, die Leben und Lehre Jesu zugunsten seines Todes und dessen Deutung verdrängt habe.⁹ Auch werde dadurch die Botschaft Jesu von der befreienden Gottesherrschaft verdunkelt.¹⁰ Jesus habe die Menschen zur Umkehr aufgerufen und das Reich Gottes nicht als zukünftig, sondern als bereits begonnen verkündigt. Im Mittelpunkt seines Dienstes haben die Linderung des Leides und die Aufforderung zur Lebenswende gestanden. Eine soteriologische Bedeutung habe er seinem Tode nicht beigemessen; die wenigen Anspielungen in den Evangelien seien als nachträgliche Zuschreibungen und Gemeindebildungen zu deuten. Jesus habe die Menschen zum neuen Handeln aufgerufen.
Diese kurze Übersicht wird nicht als vollständige Aufzählung zeitgenössischer Deutungen des Kreuzes gelten dürfen. Es handelt sich aber um wesentliche Kritikpunkte, die im Zuge dieser Untersuchung behandelt werden sollen.
IV Welche alternativen Deutungen des Kreuzes werden vorgeschlagen?
Genauso wie es schwierig ist, das klassische Versöhnungsverständnis zu definieren, ist es auch unmöglich, dem das moderne Versöhnungsverständnis entgegenzuhalten. Gerade in konservativeren Kirchen und Konfessionen, die weltweit gesehen – das wird gerade von liberaleren Theologen gerne übersehen, wenn sie davon reden, was man heute noch oder nicht mehr sagen könne! – in der Überzahl sind, werden die klassischen Elemente keineswegs abgelehnt. Und wenn ein Theologe neue Deutungen des Kreuzes vorschlägt, heißt das noch lange nicht, dass er damit jedes Element eines klassischen Versöhnungsverständnisses verwirft. Überhaupt ist es zu begrüßen und einfach notwendig, über Theologie immer wieder neu zu reflektieren und die biblischen Wahrheiten in einer neuen Zeit für eine neue Generation neu zur Sprache zu bringen. Eine klare Grenzziehung oder Lagerzuweisung sollte also vermieden werden. Dennoch lassen sich