Glaubensbefreiung: Notwendige Reformen in Theologie und Kirchen
Von Herbert Koch
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Über dieses E-Book
Herbert Koch bietet eine Glaubensreform an, die mündige Zeitgenossen und Christen ernst nimmt, neuralgische Punkte in Glaube und Kirche benennt und Perspektiven eines aufgeklärten Glaubens vorschlägt. So wird Luthers Reformation für die christlichen Kirchen auf die Höhe unserer Zeit transformiert.
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Buchvorschau
Glaubensbefreiung - Herbert Koch
Herbert Koch
Glaubensbefreiung
Notwendige Reformen in Theologie und Kirchen
Über dieses Buch
In seinem neuen Buch verfolgt Herbert Koch die Frage, was heute als religiöse Wahrheit gültig ist und wer über die Definitionsmacht in Glaube, Theologie und Kirche verfügt. 500 Jahre nach Martin Luther weist Koch die Ansprüche von Priestern und kirchlichen Amtsträgern, von Pfarrern und Pfarrerinnen, von Theologinnen und Professoren zurück, Gläubigen vorzuschreiben, was und wie sie zu glauben haben. Theologie darf sich in ihrem Wesenskern nicht mehr als Dogmatik verstehen; Kirchenamtliche sind nicht Vormund der Christen.
Herbert Koch bietet eine Glaubensreform an, die mündige Zeitgenossen und Christen ernst nimmt, neuralgische Punkte in Glaube und Kirche benennt und Perspektiven eines aufgeklärten Glaubens vorschlägt. So wird Luthers Reformation für die christlichen Kirchen auf die Höhe unserer Zeit transformiert.
Über den Autor
Herbert Koch, geboren 1942, promovierte nach dem Theologiestudium bei Professor Eduard Lohse zum Dr. theol. im Fach Neues Testament. Außer im Gemeindedienst hat er als Gefängnisseelsorger und Industriepfarrer gearbeitet und ist heute Superintendent im Ruhestand. Mitarbeit im Ökumenischen Netzwerk »Initiative Kirche von unten« (IKvu); mehrere Buchveröffentlichungen, darunter: »Die Kirchen und ihre Tabus. Die Verweigerung der Moderne« (2006) und zuletzt in der Publik-Forum Edition: »Einfach glauben. Botschaften des Jesus von Nazareth« (2012).
Einleitung
»Ich frage mich vieles, vor allem das eine: Wie ist es möglich, daß 800 Millionen Christen diese Welt so wenig zu verändern vermögen, eine Welt des Terrors, der Unterdrückung, der Angst […]. Ich spüre, sehe und höre, merke so wenig davon, daß die Christen die Welt überwunden, von der Angst befreit hätten.« Heinrich Böll schrieb das im Jahr 1957.
Von unveränderter Aktualität sind diese Zeilen. Dies umso mehr, als die Zahl der »Anhänger der christlichen Religion« heute mit 2,2 Milliarden angegeben wird.
Einfach resignieren mochte Böll aber nicht, vielmehr schrieb er weiter: »Unter Christen ist Barmherzigkeit wenigstens möglich, und hin und wieder gibt es sie: Christen, und wo einer auftritt, gerät die Welt in Erstaunen. 800 Millionen Menschen auf dieser Welt haben die Möglichkeit, die Welt in Erstaunen zu setzen. Vielleicht machen einige von dieser Möglichkeit Gebrauch, einige, die sich aus dem Labyrinth der Taktiken zu befreien vermögen, so, wie es Gläubige anderer Religionen der Gewaltlosigkeit gab und gibt, die sich aus dem Labyrinth der Taktiken befreiten und die Welt in Erstaunen versetzten.«
In der Tat, es hat sie auch in den letzten hundert Jahren gegeben: weit herausragende Persönlichkeiten, die in charismatischer Weise humane Werte von übergeordneter Bedeutung und religiöser Dimension gewaltfrei verkörpert haben. Aus Situationen schwerster Unterdrückung sind sie hervorgegangen: Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela und andere. Mit Leiden haben sie ihre Wahrheiten beglaubigt und weite Teile der Welt verändert. Aber niemand sagt ihnen nach, dass sie einer anderen Welt entstammten, göttlich gezeugt seien, weshalb ihre Mütter sie jungfräulich zur Welt gebracht hätten. Und niemand wird ihnen das jemals nachsagen. Denn wer das ernsthaft wollte, würde in der aufgeklärten Welt wissenschaftlicher Erkenntnisse, in der wir leben, nicht nur sich selbst der Lächerlichkeit preisgeben. Er würde zugleich auch die Würde und Bedeutung solcher Vorbilder der Menschheit realsatirisch beeinträchtigen.
Dem charismatischen Propheten, Heiler und Lehrer religiöser Wahrheit Jesus aus Nazareth – Vorbild nicht weniger Menschheitsvorbilder – blieb und bleibt das jedoch nicht erspart. Seine Bedeutung wurde und wird dem Zeitgeist einer antiken Welt dargebracht, indem er zum Mensch gewordenen »wahren Gott« erhöht wird. Wie selbstverständlich wird sie von den Kirchen bis heute als zu glaubend propagiert, wenn jemand Christ sein will. Als habe es die großen geistesgeschichtlichen Umwälzungen nie gegeben, die seit dem 18. Jahrhundert Aufklärung genannt werden. Vielmehr gibt man sich in den Kirchen und weiten Bereichen der Theologie einer Illusion hin. Sie besteht darin, »Aufklärung« lediglich als Bezeichnung einer vergangenen philosophiegeschichtlichen Epoche anzusehen. Aufklärung bezeichnet aber keineswegs nur eine historische Episode, sondern ist eine irreversible, anhaltend bewusstseinsprägende Entwicklung. Dies zu ignorieren lässt Kirchen und Theologie zunehmend Merkmale fundamentalistischer Sekten annehmen.
Zur Zeit seines Vorsitzes im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat Wolfgang Huber diese Problematik im ökumenischen Kontext zur Sprache gebracht. In Heft 2/2007 der evangelischen Monatszeitschrift zeitzeichen war nachzulesen, dass Huber im Rundfunksender NDR zur damaligen Annäherung Roms und der orthodoxen Kirchen geäußert habe, es gebe bei beiden eine unterschiedlich stark ausgeprägte Tendenz, eine Gestalt des christlichen Glaubens zu leben, »die mit der Aufklärung nichts zu tun hat«. Er sehe ein großes Risiko darin, dass es »eine Annäherung vor der Aufklärung sein könnte«. Darauf kam es zu einer heftigen Reaktion des seinerzeitigen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Lehmann, über die nachzulesen war, dass Lehmann es für »absoluten Unsinn« erklärt habe, die Ökumene zwischen Katholiken und Protestanten gegen die zwischen Rom und der Orthodoxie auszuspielen.
Wie hat man diese schroffe, an Beleidigung grenzende Reaktion des sonst so diplomatischen Karl Lehmann zu verstehen? Offenbar hatte das Anschneiden des Themas Kirche und Aufklärung etwas von einem Stich ins Wespennest. Stets hat es ja auch einen deutlichen Zusammenhang mit dieser Thematik, wenn theologische Hochschullehrer von den Kirchen ins Abseits gestellt werden, wofür auf katholischer Seite Hans Küng und Eugen Drewermann, auf evangelischer Gerd Lüdemann die bekanntesten Namen sind. Dabei maßgeblich ist aber nicht nur, dass Theologie mit aufgeklärtem Menschenverstand konfrontiert wird. Vielmehr steht unverkennbar Immanuel Kants berühmte Bestimmung von Aufklärung im Hinter- bzw. Vordergrund, die besagt, Aufklärung sei die Maxime, »jederzeit selbst zu denken«, sich seines Verstandes zu bedienen »ohne Leitung eines anderen«. Auf staatlichen wie kirchlichen autoritären Anspruch zielte das im 18. Jahrhundert. Und es trifft die Kirchen bis heute: Dass der vom kirchlichen »Lehramt« festgelegte »Glaube der Kirche« als der allein wahre christliche Glaube zu glauben sei, ist unverändert der Anspruch. In der römischen Kirche ist er rechtlich unabänderlich festgezurrt. In der evangelischen wird er als »Bekenntnistreue« faktisch praktiziert, wenn auch nicht unter dem Unfehlbarkeitsanspruch, den Klaus Harpprecht einmal bezeichnet hat als die »hochmütigste Dummheit, die jemals zum Dogma erhoben wurde« (in: Die Zeit 22/2009).
Dass Kant zu einem der kirchlich meistangefeindeten Denker der Philosophiegeschichte geworden ist, kann also nicht verwundern. Denn mit seiner Perspektive erfasst der Blick auf die Kirchen eine so gut wie vollständige Strukturierung der Erkenntnis- und Wahrheitsfrage als Machtfrage. Eine durch Selbstermächtigung zur Herrschaft gelangte Hierarchie von kirchlichen Amtsträgern hat ein dogmatisches Lehrgebäude errichtet, innerhalb dessen sie selbst als der »geistliche Stand« der Ausgesonderten eine für Heil und Wohl der Menschheit prinzipiell unentbehrliche Position einnimmt. Schon früh in der Geschichte des Christentums wurde eine vertikale Spaltung der Kirche etabliert, die für die Beziehung zu Gott eine qualitative Zweiteilung vornimmt in Priester und »Laien«, Geweihte und gewöhnliche Christen, bildlich: Hirten und Schafe.
Die einen als »die Kirche« stehen den anderen als den »Gläubigen« an Gottes statt und als verbindlich für ihn handelnd gegenüber. Die Beziehung ist ein reines Abhängigkeitsverhältnis.
Der Beantwortung von Wahrheits- und Heilsfragen liegt also eine ganz bestimmte Klärung der Machtfrage zugrunde. Die kirchliche Aufklärungsfeindlichkeit ist damit strukturell bedingt. Sie zu überwinden ist somit gleichbedeutend mit der Herausforderung des Systems zu seiner Selbstaufgabe und alternativen Neustrukturierung. Da die Begründer und Überlieferer des Systems jedoch zugleich als die Machtträger seine größten Profiteure sind, ist das nicht zu erwarten. Was aber nicht folgenlos bleibt. Denn zutreffend stellt Frido Mann fest: »Die gegenwärtigen Massenaustritte aus allen christlichen Kirchen vor allem in Europa sind vor allem auf das Bedürfnis des Menschen zurückzuführen, sich aus religiöser Engstirnigkeit und Bevormundung zu befreien« (Mann 2013, S. 50).
Der junge Martin Luther hat zu seiner Zeit mit seinen Publikationen des Jahres 1520 solchem Bedürfnis folgenreich entsprochen. In seinen Schriften »An den christlichen Adel deutscher Nation …« und »Von der Freiheit eines Christenmenschen« nimmt er mit biblischer Begründung nichts Geringeres vor als eine radikale Bestreitung der Notwendigkeit einer machtvollen Priesterhierarchie für die Kirche. Aus der Unmittelbarkeit jedes Menschen zu Gott im allein ihn rechtfertigenden, vertrauenden Glauben ergibt sich vielmehr ein »allgemeines Priestertum« aller Getauften. Damit wird der Begriff des Priestertums als solcher ad absurdum geführt. Eines exklusiven Weihepriestertums bedarf es nicht, die vertikale Spaltung der Kirche in Laien und Priester ist aufgehoben.
Luther hat damit die damaligen Landesherren und Verantwortlichen der freien Städte als bisher abhängige »Laien« theologisch legitimiert, die Dinge der Kirche in die eigenen Hände zu nehmen. Die Reformationsgeschichte hat daraus ihren entscheidenden Impuls bezogen. Rom aber – den Kaiser auf seiner Seite – hielt entschlossen und dauerhaft an der inneren, qualitativen Kirchenspaltung fest, auf die seine ganze Macht gegründet war. Die Folge davon war und ist die bis heute bestehende äußere Spaltung der Kirche.
Die katholische Priesterweihe und die Ordination eines evangelischen Pfarrers sind zwei grundverschiedene Vorgänge. Der Sinn der Ordination ist ein rein funktionaler, weil die Kirche als Organisation nicht ohne eine Ordnung auskommt, die Aufgaben zuweist und die dafür nötigen Voraussetzungen festlegt. Evangelisch ist »Pastor« Berufsbezeichnung, nicht Benennung eines herausgehobenen Status. »Nennt man mich einen ›Geistlichen‹«, hat der evangelische Pfarrer Klaus Beckmann ausgeführt, »so ist das ein fahrlässiger Sprachgebrauch – zumindest, wenn es auf den Unterschied zu den Nicht-Ordinierten abhebt« (zeitzeichen 7/2006). Denn in ihrer Stellung vor Gott sind alle Getauften gleich. Die in den Kirchen der Reformation noch immer nicht ausgestorbene Redeweise von »Geistlichen« und »Laien« ist unevangelisch. Genau genommen skandalös war deshalb die bis vor wenigen Jahren in der Verfassung der größten »lutherischen« Kirche in Deutschland formulierte Unterscheidung zwischen »geistlichen« und »nichtgeistlichen« Mitgliedern ihrer Synode.
Unüberbrückbar ist an dieser Stelle der Gegensatz der Konfessionen. Was sich gegenwärtig besonders darin widerspiegelt, dass es sorgsam gemieden wird, ihn anzusprechen, wenn auf der Führungsebene der EKD und ihrer Landeskirchen die Perspektive einer ökumenischen Begehung des 500. Reformationsjubiläums öffentlich thematisiert wird. Dass sich Reformationsjubiläen traditionell auf das Jahr 1517 mit Luthers Wittenberger Thesenanschlag beziehen, kommt diesem Vermeidungsverhalten entgegen. Denn die 95 Thesen sind vergleichsweise eher harmlos. 1520 war mit Luthers Feststellung, dass »alle Christen wahrhaft geistlichen Standes« seien, das weitaus bedeutendere Reformationsjahr.
Was aber hat das Ausklammern des Gegensatzes, das es nur auf evangelischer Seite gibt, zu bedeuten? Signalisiert es Revisionsbereitschaft? Der Begriff des Protestantismus ist aus dem kirchenleitenden Sprachgebrauch seit Längerem schon gestrichen. Und gleich mehrfach ist in den letzten Jahren theologische Literatur aus pastoraler Feder erschienen, die sich der Begründung eines evangelischen Priesteramts widmet (siehe Kapitel 7). Vergleichbares hat es zuletzt in der Mitte des 19. Jahrhunderts gegeben (siehe Kapitel 5). Und es kann als sicher gelten, dass einem entschieden konservativen Luthertum der Gedanke einer evangelischen Rückkehr zum Weihepriestertum nicht fremd ist. Angesichts des magischen Charakters, der das römische Sakramentsverständnis ausmacht, wäre das allerdings eine zukunftslose »Annäherung vor der Aufklärung« (Huber). Protestantische Identität wäre damit weitgehend preisgegeben, neue horizontale Spaltungen zu erwarten. Die folgende Untersuchung, deren historische Kapitel ihren Hauptsinn in ihrer Relevanz für die Gegenwart finden, will daher auch als ein Beitrag auf dem Wege zum Reformationsjubiläum 2017 verstanden sein.
1. Jesus und der Heilige Vater oder: Prophetenzorn und die Folgen
Der Verzichtbare
Es ist ein Kreuz für die Kirchen mit dem charismatischen Wanderprediger aus Nazareth namens Jesus. Was soll man denn etwa anfangen mit seiner prinzipiellen Gewaltlosigkeit und seiner Rede von der Feindesliebe? Wenn man zum Beispiel eine Militärseelsorge betreibt, die der Verteidigungsminister finanziell bestens ausstattet. Und wenn man eine Priesterkirche ist, wie kommt man damit zurecht, dass bei diesem Jesus das Priestertum so besonders schlecht wegkommt (siehe weiter unten)?
Wer zu Letzterem eine theologische Grundinformation sucht, den könnte man auf die Stichwörter »Priester, Priesteramt, Priestertum« im dritten Band des »Evangelisches Kirchenlexikons« (EKL) von 1992 verweisen. Er würde sich damit einer fundierten Informationsquelle bedienen. Würde er aber erwarten, dort auch Information zu bekommen, ob und wie sich Jesus zum Thema geäußert hat, so wäre das vergeblich. Auch in den Passagen des EKL, die sich ausdrücklich mit dem Vorkommen der genannten Stichworte im Neuen Testament befassen, bleibt Jesus unerwähnt. Um das auffallend z u finden, muss man aber nicht einmal über besondere Bibelkenntnis verfügen. Es genügt schon, sich an einen der bekanntesten Texte der Jesus-Überlieferung zu erinnern: das »Gleichnis vom barmherzigen Samariter« (Lukas 10, 25-37). Ein Priester und ein Levit spielen darin eine bestimmte Rolle mit großer Bedeutung für die Botschaft dieses Textes.
Muss man dem EKL deshalb nun eine peinliche Lücke vorhalten? Wo sein Anspruch sogar lautet, eine »Internationale theologische Enzyklopädie« zu sein! Man muss nicht. Denn die Jesus-Lücke, wie man sie nennen könnte, ist üblich. Sie ist charakteristisch für eine bestimmte Grundorientierung kirchlicher Theologie. Deren Denken nimmt seinen Ausgangspunkt nicht bei dem, was Jesus selbst gesagt, getan, gelehrt und gelebt hat. Sondern es findet ihn in dem, was später über ihn gelehrt worden ist. Dass die Faszination, die von ihm ausging, zu seiner Verehrung als Messias (Christus) führte, hat sich nach Karfreitag und Ostern mehr und mehr ausgewachsen zu einer variantenreichen »Christologie«. Sie ist zum beherrschenden Zentrum des theologischen Denkens und der liturgischen Praxis geworden.
»An die Stelle der Botschaft ist die Person des Botschafters getreten« (Petersen 2005, S. 55). Man erklärt zwar, sich in der »Nachfolge Jesu« zu befinden. Das ist verbaler Standard. Man bekennt ihn auch als Sohn Gottes, ja Gott selbst in Menschengestalt und als den »Herrn der Kirche«. Man lässt ihn aber in dieser Institution mit seiner ureigenen Botschaft kaum Wege und Ziele bestimmen. Mit einem Vergleich aus dem politischen System könnte man auch sagen: Er hat eine Art Präsidentenamt inne, eine vorrangig repräsentative Funktion. Mit einem Premierminister oder Kanzler aber ist er nicht zu vergleichen. Denn die Richtlinien der Politik überlässt man ihm lieber nicht. Jedenfalls lässt man ihn auf dieser Ebene mit dem, was er selbst zu sagen hatte, als er unter seinen ersten Anhängern wie Gegnern auftrat, nur selten zu Wort kommen. Nur dann, wenn es nicht stört. Oder wenn es sich aus bestimmten Gründen einfach nicht vermeiden lässt.
Ein Beispiel für Letzteres ist eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) aus dem Jahre 2007. Sie ist betitelt: »Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen«. Wie es sich für eine kirchliche Stellungnahme gehört, verfügt sie auch über ein Kapitel zur theologischen Orientierung. Dieses kreist zunächst ausgiebig um die kirchliche Lehre von der Erlösung und Versöhnung durch das stellvertretende Sühnopfer Jesu. Erst zuallerletzt, ganz am Ende des Kapitels, kommt auch das Gebot der Feindesliebe aus der »Bergpredigt« Jesu (Matthäus 5,43 ff.) zur Sprache. Dieses Originalwort des Nazareners wird dann aber als »die deutlichste Weisung« charakterisiert. Das Deutlichste erst ganz zum Schluss, geradezu nachklappend erwähnt? In der Tat. Dorthin gehört das Jesuswort in dieser Denkschrift logischerweise. Denn für die vorausgehende Argumentation wird es nicht benötigt. Vielmehr würde es sogar stören. Einfach außen vor kann man dieses Wort aber wegen seines ungewöhnlich hohen Bekanntheitsgrades nicht lassen. Da könnte ein Verdacht aufkommen. Zumal diese Bekanntheit darin beruht, dass es immer schon ein sehr anstößiges, umstrittenes Wort war. So kommt er nun zwar doch vor, gerät aber einmal mehr an den Rand: der – im ganz wörtlichen Sinne – unerhörte Jesus.
Sehr lange schon geht es ihm so. »Lediglich an den Rändern der Kirche bleibt die Botschaft Jesu relevant« (Petersen 2005, S. 58). Sich wesentlich an dieser Botschaft zu orientieren wird im Laufe der Kirchengeschichte mehr und mehr zum Merkmal von Gruppierungen, die zu Ketzern erklärt werden. Mit der Folge, dass sie konsequent niedergemacht werden im Namen der für allein maßgeblich erklärten kirchlichen Lehren über ihn als den Christus, den Davidssohn, den kommenden Weltenrichter, den alleinigen Gottessohn. Und über sein Erlösungsopfer an unserer statt, die für unsere Sünden die Todesstrafe verdient hätten, die er aber unschuldig auf sich genommen hat. Ihn hat man gelehrt als den »Schöpfungsmittler«, den »Präexistenten«, der vor aller Zeit und Welt schon da war als die zweite Person des »dreieinigen« Gottes und damit auch ganz Gott selbst. Eine breite Blutspur hat die gewaltsame Durchsetzung dieser und anderer Lehren jahrhundertelang durch die Kirchengeschichte gezogen. In Form des amerikanischen »Kreuzzugs« – Originalton George W. Bush! – in den Irak hat vorgeblich christlich gebotene Kriegsgewalt sogar die jüngste Vergangenheit noch bestimmt (zum Letzteren vgl. Koch 2009).
Auch Martin Luthers persönliche Entwicklung zum Reformator ist ein Beleg dieser Dominanz der kirchlichen Dogmatik. Er war als junger Mönch vollständig in ihr gefangen. Eines gewaltigen inneren Ringens mit der herrschenden Lehre bedurfte es deshalb für ihn. Das Ergebnis war seine Erkenntnis über die Rechtfertigung des Menschen vor Gott allein durch vertrauenden Glauben. Sie machte ihn so frei und furchtlos, dass er zum erfolgreichsten Ketzer in der Geschichte des Christentums wurde (vgl. Boehmer 1955, S. 82 ff.). Diese Erkenntnis gewann er vor allem durch Befassung