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Schon Mensch oder noch nicht?: Zum ontologischen Status humanbiologischer Keime
Schon Mensch oder noch nicht?: Zum ontologischen Status humanbiologischer Keime
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eBook916 Seiten10 Stunden

Schon Mensch oder noch nicht?: Zum ontologischen Status humanbiologischer Keime

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Über dieses E-Book

Wann habe ich zu existieren begonnen? Mit der Geburt? Mit der "Empfängnis"? Oder noch davor? Wenige Fragen berühren unser Selbstverständnis so sehr wie diese. Diesen Fragen wird transdisziplinär theologisch-philosophisch-naturwissenschaftlich nachgegangen. Gezeigt wird, welcher Status dem Vorgeburtlichen in Geschichte und Gegenwart zugeschrieben wurde bzw. wird; Begriffe wie "biologisches Individuum", "Spezies" und "aktive Potenz" werden geklärt; sodann wird diskutiert, welche ontogenetischen Ereignisse als "Beginn" - sei es des Organismus, des Individuums, des Menschen oder der Person - taugen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum17. Dez. 2009
ISBN9783170274068
Schon Mensch oder noch nicht?: Zum ontologischen Status humanbiologischer Keime

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    Buchvorschau

    Schon Mensch oder noch nicht? - Johannes Seidel

    1 Einleitung

    Wenige Fragen der angewandten Ethik werden gegenwärtig derart kontrovers diskutiert wie die nach dem rechten Umgang mit und – damit impliziert – die Frage nach dem ontologischen Status humanbiologischen Keimmaterials, von Oocyten, Embryonen, Föten und Neugeborenen.

    1.1 Zur Themenstellung und ihrem systematischen Hintergrund

    Theologische Ethik oder Moraltheologie hat die Aufgabe, angesichts konkreter Handlungssituationen auf die ethische Frage „Was sollen wir tun?" (Lk 3,10–14) konkrete Antworten zu geben.¹ Konkrete ethische Antworten umfassen deskriptive und präskriptive Momente. Präskriptive Momente betreffen die Erkenntnis sittlicher Prinzipien. Deskriptive Momente umfassen u. a. Aussagen über den ontologischen Status von Handlungssubjekten und -objekten sowie über Handlungsumstände. Christliche Ethik versteht sich als Ethik im Horizont gelebten christlichen Glaubens², sie steht in der Tradition kirchlichen Denkens. Wie jede ernst zu nehmende Ethik steht sie unter dem Anspruch, dem gegenwärtigen philosophisch-theologischen sowie empirisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand gerecht zu werden. „In eine Kurzdefinition gefasst: Theologische Ethik ist die wissenschaftliche Reflexion auf das moralisch-sittliche Urteilen und Handeln des Menschen im Horizont christlichen Glaubens."³

    Im Unterschied zur gelebten Moral geht es der Ethik um rational verantwortete theoretische Begründungen sittlichen Urteilens und Handelns.⁴ Dabei ist zwischen allgemeiner und angewandter Ethik zu unterscheiden.⁵ Während die allgemeine Ethik nach ethischen Prinzipien und Handlungsmaximen, nach der Letztbegründung des Ethischen sowie nach dem Verhältnis von Normen und Gewissen (Stichwort: Epikie)⁶ und – im Fall theologischer Ethik – nach dem Verhältnis von geschichtlicher Offenbarung und ethischer Erkenntnis⁷ fragt, bezieht die angewandte oder spezielle Ethik die allgemeinen ethischen Prinzipien auf konkrete Handlungsfelder.⁸

    Indem angewandte Ethik sich auf konkrete individuelle oder soziale Handlungsfelder (Individual- oder Sozialethik) bezieht⁹, fällt sie „gemischte Urteile": Das heißt, neben präskriptiven Momenten oder Prämissen sind immer auch deskriptive Momente oder Prämissen Teil ihrer Urteile als angewandter Ethik¹⁰:

    Für die Lösung konkreter, sittlich-moralischer Probleme ist die praktisch-stellungnehmende Vernunft [...] auf den Beitrag der theoretisch-kenntnisnehmenden Vernunft in Form von empirischen Daten und Fakten angewiesen. Das heißt: Sittliche Einsichten und empirisches Wissen fließen gleichermaßen in pragmatische Erkenntnisse zur Bewältigung eines bestimmten Problems ein und schaffen eine konkrete Handlungsnorm.¹¹

    Deskriptive Sätze als Teil der angewandt ethischen Urteilsbildung zu formulieren, ist also keine der angewandten Ethik äußerliche Tätigkeit, sondern Teil ihrer ureigensten Aufgabe und hat nichts mit naturalistischen oder normativistischen Fehlschlüssen zu tun – solange klar unterschieden bleibt, was Deskription und was Präskription ist.¹² Deskriptive Momente angewandter Ethik betreffen (1.) den ontologischen Status des Menschen als Handlungssubjekt, (2.) den ontologischen Status von Handlungsobjekten und (3.) die speziellen Umstände einer konkreten Handlung.¹³

    Ad (1.): Zur ontologischen Statusbestimmung eines Menschen als Handlungssubjekt gehört seine Personalität – theologisch vertieft: seine Gottesbildlichkeit¹⁴– und seine je eigene Natur mit ihren vorgegebenen Grundbedürfnissen und Handlungsdispositionen (traditionell: die Lehre von den inclinationes naturales)¹⁵– theologisch vertieft: seine Geschöpflichkeit.

    Ad (2.): Ethisches Geboten- oder Verbotensein entscheidet sich sodann daran, um wen oder was es sich bei dem oder den menschlichen Handlungsobjekten handelt: um Personen, um leidensfähige Kreaturen, um nicht lebende Dinge oder um was sonst?

    Ad (3.): Die Umstände einer konkreten Handlung (traditionell: die Lehre von den circumstantiae) betreffen die „Vielfalt ihrer jeweiligen person-, sach- und situationsspezifischen Bedingungen und Konsequenzen"¹⁶; sie betreffen nicht nur den Bereich der Normanwendung, sondern auch den Bereich der Normgestaltung.¹⁷

    Vorliegende Untersuchung fragt nach dem ontologischen Status humanbiologischen Keimmaterials¹⁸, von Oocyten, Embryonen, Föten, Neugeborenen als möglichen Handlungsobjekten. Anders als in Zeiten spekulativer Naturbetrachtung und eines damit einhergehenden Naturrechts¹⁹ ist dieses „Material" heute Gegenstand empirisch arbeitender Biologie und – weil empirische Daten als solche noch keine Ontologie erzeugen²⁰ – einer naturwissenschaftlich geläuterten Naturphilosophie.²¹ Will die angewandte Ethik in der Frage nach dem rechten Umgang mit humanbiologischem Keimmaterial heute ernst zu nehmende Antworten geben, ist sie essentiell und elementar auf den interdisziplinären Diskurs mit der Biologie und einer empirisch orientierten Naturphilosophie angewiesen.

    Ethik sieht sich nicht mehr wie früher auf empirische Zufallsinformation und gängige Evidenzerfahrungen verwiesen, sondern kann erstmals auf Informationen rekurrieren, die im Rahmen methodisch gesicherter wissenschaftlicher Forschung erbracht werden. Diese wissenschaftlichen Informationen machen als solche zwar nicht Ethik überflüssig, binden sie aber ihrerseits stärker an die Einzelwissenschaften zurück. Dies zeigt sich besonders deutlich im Bereich materialer ethischer Sachfragen. Je mehr Ethik konkrete Ethik wird, um so mehr gewinnen die von den verschiedenen Einzeldisziplinen erschlossenen Gesetzlichkeiten [...] für den Normfindungsprozeß im Hinblick auf die jeweiligen Handlungsfelder Gewicht.²²

    In klarer Unterscheidung der Ebenen des Seins und des Sollens fließen hier „sowohl empirische Erkenntnisse als auch sittliche Einsichten gleichermaßen in die ethische Reflexion ein [...]."²³ Angesichts solcher Verwiesenheit von Ethik auf Empirie ist allerdings daran zu erinnern, dass empirische Daten und Deutungen prinzipiell der Falsifizierbarkeit ausgesetzt sind.

    Dennoch sollte dies [...] nicht dazu verleiten, die Lösung des Normproblems erneut in einem empirieenthobenen Konzept von Ethik zu suchen. Ethik und empirische Wissenschaft stehen nun einmal in unabdingbarem Verweisungszusammenhang. Menschliches Handeln vollzieht sich im Bedingungsfeld ethisch bedeutsamer, weil auf den Menschen bezogener Sachverhalte. [...] Korrekturen im Bereich empirischer Erkenntnisse ziehen dann aber auch zwangsläufig Korrekturen auf der sittlichen Entscheidungsebene nach sich. Es läßt sich nun einmal nicht prinzipiell ausschließen, daß man sich zur Begründung sittlicher Weisungen guten Glaubens auf empirisch verbürgte und jahrzehntelang als unumstritten gesichert geltende Einsichten in Sachverhalte beruft, deren tatsächliche Zusammenhänge erst durch weitere Forschung aufgedeckt werden, die dann gegebenenfalls zu neuen ethisch negativen oder auch positiven Bewertungen führen.²⁴

    Ethische Erkenntnis ist also notwendig unabgeschlossen, „weil sie immer nur vorläufig begreifen kann, nämlich: auf dem Niveau der jeweiligen Gegenwart, im Blick auf bestimmte Problemkonstellationen und auf dem Stand des aktuellen Wissens."²⁵

    Theologische Ethik versteht sich als Ethik im Horizont gelebten christlichen Glaubens. Damit ist sie – stärker als philosophische Ethik – auf die Tradition verwiesen, was in christlichem Kontext heißt: auf die jüdisch-abendländischkirchliche Tradition, vor allem auf die „Schrift", die Lehramts- und Theologiegeschichte sowie auf die gelebte jüdisch-christliche Moral. Dies nicht in dem Sinne, dass biblische oder lehramtliche Vorgaben aus sich heraus normativ zwingend wären²⁶ –

    [d]er christliche Glaube ist keine instrumentalisierbare Instanz, die Gebote und Verbote unhinterfragbar macht und zur Befolgung von bestimmten Regeln zwingt. Das christliche Menschenbild macht es gerade umgekehrt [...] zwingend erforderlich, sittliches Urteilen und Handeln in der Autonomie des Menschen [...], seiner Vernunft [...], seinem Gewissen [...] und seiner Verantwortung [...] zu verankern²⁷

    –, wohl aber in dem Sinne, dass das, was Christen in Jahrhunderten bedacht haben, nicht leichtfertig in Frage gestellt werden darf.²⁸ Theologische Ethik hat sich also nicht nur gegenüber der Vernunft, sondern auch gegenüber der Tradition zu verantworten. Diese Vorgabe verpflichtet jede an heutiger Entscheidungsfindung interessierte theologisch-ethische – im Unterschied zu einer rein philosophisch-ethischen²⁹ – Untersuchung dazu, die Tradition als Ausgangspunkt ihrer Untersuchung umfänglich zur Kenntnis zu nehmen.

    Die christliche Tradition einschließlich ihrer Wurzeln und ihrer säkularen Fortentwicklungen zur Kenntnis zu nehmen, öffnet zugleich den Blick auf die geschichtliche Bedingtheit vieler in Vergangenheit und Gegenwart vertretenen Positionen und führt damit von selbst zu einem kritischen Umgang mit eben dieser Tradition:

    Dem Traditionsbeweis kommt [...] insofern eine Bedeutung zu, als der geschichtliche Aufweis sittlichen Verhaltens und sittlicher Vorstellungen vergangener Zeiten unter Berücksichtigung der zeitbedingten Umstände zur Erkenntnis verhilft, was als eigentlicher Kern der jeweiligen Weisungen zu gelten hat und was angesichts neuer Umstände und Situationen eine andere Ausprägung zu erfahren vermag.³⁰

    Soll traditio nicht zu bloßer conservatio verkommen³¹, muss sie – den jeweils aktuellen, falsifizierbaren (!) wissenschaftlichen Erkenntnisstand integrierend – je neu fortgeschrieben und gegebenenfalls umgeschrieben (!) werden:

    Indem der Theologe um die Endlichkeit und Zeitbedingtheit menschlicher Erfahrung weiß, wird er seine sittlichen Forderungen auch immer wieder neu ‚in Frage stellen‘, um eine noch bessere, vertieftere und seiner Zeit entsprechendere Begründung geben zu können – oder aber, so die Begründungen nicht mehr tragen, um die Ungültigkeit bisheriger Forderungen festzustellen.³²

    Sachkonflikte sind in einem recht verstandenen Traditionsprozess vorprogrammiert.³³ Sachkonflikte sind als Konflikte in der Sache zu führen, also mit Sachargumenten, rational, ergebnisoffen – so auch der Sachkonflikt um den ontologischen Status humanbiologischen Keimmaterials, von Oocyten, Embryonen, Föten und Neugeborenen. Allzu oft allerdings entgleist der Sachkonflikt in dieser Frage gegenwärtig zu einem Überzeugungskonflikt³⁴ – erfahrungsgemäß oft dann, wenn den Opponenten – oder einem von ihnen – die Argumente ausgehen. Überzeugungskonflikte mögen gerechtfertigt erscheinen, wenn es um letzte Wahrheiten geht. In besagter Statusfrage – auch das lehrt der Blick auf die Tradition³⁵ – geht es darum nicht. Sie verlangt Verständigung in der Sache.

    Formale Bedingungen einer Verständigung in der Sache sind „vor allem Geduld, Redlichkeit, Lernoffenheit und Korrekturbereitschaft"³⁶; inhaltliche Bedingung ist in vorliegendem Falle biologische bzw. biologisch-philosophische Sachkompetenz.³⁷ Hier ist der Theologe auf das interdisziplinäre Gespräch mit dem Experten angewiesen³⁸:

    Wo immer wir heute Entscheidungen zu treffen haben, sehen wir uns zur Lösung der damit zusammenhängenden Probleme fast durchgängig auf das Wissen und den Rat von Experten verwiesen. Was diese hierbei an Sachkompetenz einbringen, ist als Entscheidungshilfe für die Bestimmung des bestmöglichen Weges längst unentbehrlich geworden. Darin liegt zugleich ein ungeheurer Fortschritt. Wir sind nicht auf Zufallseinsichten angewiesen, sondern können uns auf methodisch erschlossenes und wissenschaftlich gesichertes Wissen stützen. Der Experte zeichnet sich dadurch aus, daß er in bezug auf bestimmte Bereiche der Wirklichkeit über qualifizierte Kenntnisse verfügt, die er seinerseits wiederum für andere verfügbar machen kann³⁹.

    Als Naturwissenschaftler (Biochemie und molekulare Zellbiologie), Philosoph (Dozent für Naturphilosophie, biologische Grenzfragen zur Philosophie und Theologie sowie für Wissenschaftstheorie) und als Theologe bin ich in einer für das interdisziplinäre Gespräch zur Sache vergleichsweise seltenen und privilegierten Ausgangssituation.

    1.2 Zur formal-inhaltlichen Vorgehensweise

    Diesen Rahmenvorgaben folgend ist vorliegende Untersuchung – anders als üblich⁴⁰ – formal-inhaltlich wie folgt aufgebaut: Ausgangspunkt ist die Zurkenntnisnahme der Tradition zur Frage nach dem ontologischen Status humanbiologischen Keimmaterials: primär der römisch-katholischen Lehramts- und Theologiegeschichte (2.1.2), wesentlich aber auch der biblisch-jüdischen und der griechisch-römischen Geistesgeschichte im Vorfeld des abendländischen Christentums (2.1.1), sodann aber auch der diversen säkularen oder wissenschaftlichen Fortentwicklungen der kirchlich-mittelalterlichen Tradition bis hin zur molekularen Entwicklungsbiologie (2.1.3); und schließlich einiger Gegenwartspositionen zur Frage (2.2). Darauf aufbauend werden in der Tradition vorgefundene themenrelevante Begriffe expliziert (3.1) und, sofern erforderlich – hier liegt der Hauptschwerpunkt der Untersuchung –, im Licht gegenwärtiger biologischer Erkenntnis kritisch diskutiert: vor allem der Begriff des biologischen Individuums, zumal in seiner Bezogenheit auf den Begriff des Genoms (3.2.2), der Begriff der Spezies (3.2.3) und der Begriff der „aktiven Potenz (3.2.4). Erst dann werden mit Hilfe dieses aus der Tradition gewonnenen und im Licht wissenschaftlicher Wirklichkeitserkenntnis bereinigten Begriffsapparats verschiedene ontogenetische Phasen und Zäsuren daraufhin befragt, ob sie als „Beginn – sei es des Organismus, sei es des Individuums, sei es des Menschen, sei es der Person – geeignet sind (4). Schließlich wird auf einige spezifisch theologische Implikationen der zuvor erarbeiteten Ergebnisse aufmerksam gemacht (5). Das Spezifikum dieser Untersuchung liegt darin, den biologischen Sachverhalt zur Geltung zu bringen: in Teil 4, wo es um ontogenetische Phasen und Zäsuren geht; mehr noch in Teil 3, wo es um die biologisch-philosophische Klärung zentraler diskussionsrelevanter Begriffe geht.

    Vorliegende Untersuchung beschränkt sich auf die Frage nach dem ontologischen Status humanbiologischen Keimmaterials. Negativ bedeutet dies, dass Antworten auf die Frage, ob und wenn ja in welchen Fällen Kontrazeption oder Abtreibung ethisch erlaubt sind, ebenso wenig zu erwarten sind wie eine Antwort auf die Frage, ob die Gewinnung embryonaler Stammzellen gerechtfertigt ist – auch wenn ontologische Statusaussagen zu humanbiologischen Entwicklungsphasen und -zäsuren essentieller Teil solcher Antworten sind. Zur Beantwortung weitergehender Fragen bedürfte es zusätzlich der Diskussion medizinischer Vorgehensweisen sowie der Klärung ethisch relevanter Prinzipien, z. B. wie weit das tutioristische Argument trägt.

    1.3 Bemerkung zu Literatur und Glossaren

    Die Literatur zum Thema ist unübersehbar. Es wird in dieser Untersuchung nicht der Anspruch erhoben, auch nur annähernd alles zu erfassen; die Auseinandersetzung mit der Literatur erfolgt exemplarisch oder tendenziell stichprobenartig⁴¹ – zumal der Blick auf die Literatur zeigt, dass praktisch immer wieder die gleichen Argumente wiederholt werden.

    ⁴²

    Speziell mit Blick auf die deutschsprachige Diskussion sticht sodann hervor, dass die biologische Kompetenz bei philosophisch-theologischen Autoren meist katastrophal ist. Dieses Defizit wird durch – häufig ähnlich dünn gesäte – medizinische Kompetenz nicht wettgemacht: Die ontologische Fragestellung ist interdisziplinär biologisch-philosophisch-theologisch ausgerichtet, nicht medizinisch-theologisch. Dies aus dem einfachen Grund, dass die Humanmedizin ein anderes Formalobjekt hat als die Biologie: Während sich die Humanmedizin für den Menschen als Patienten unter der Rücksicht ärztlichen Behandelns interessiert⁴³, geht es der Biologie als „Gesamtwissenschaft vom Lebendigen"⁴⁴ um die unvoreingenommen objektive Zurkenntnisnahme biologischer Wirklichkeit.

    ⁴⁵

    Was die Verwendung von biologischer Literatur betrifft, beziehe ich mich weniger auf biologische Fachartikel als vielmehr auf international und allgemein anerkannte Standardlehrbücher. Dies deshalb, weil es in dieser Untersuchung nicht um innerbiologische Quisquilien geht. Vielmehr hat der allgemein anerkannte Sachstand Ausgangspunkt der ontologischen Diskussion zu sein.⁴⁶ Zudem vereinfacht diese Vorgehensweise für Nichtbiologen das Nachschlagen und Weiterlesen. Im Mittelpunkt stehen vor allem folgende Lehrbücher:

    Bruce Alberts et al.: Molekularbiologie der Zelle

    Rüdiger Wehner & Walter Gehring: Zoologie

    Scott F. Gilbert: Developmental Biology

    Werner A. Müller & Monika Hassel: Entwicklungsbiologie und Reproduktionsbiologie von Mensch und Tieren

    Es wurde so weit wie möglich darauf verzichtet, fachsprachlich zu argumentieren. Nur: So wie sich im Zusammenhang der synoptischen Evangelien Begriffe wie „Zweiquellentheorie nicht vermeiden lassen, so lassen sich z. B. im Zusammenhang genetischer Fragen Begriffe wie „Plasmid oder „Promotor" nicht umgehen. Im Übrigen sei auf die Glossare von Wehner & Gehring: Zoologie, sowie von Müller & Hassel: Entwicklungsbiologie, verwiesen.

    1 Vgl. Gründel: Entscheidungen 83; Korff: Ethik 56 [Hervorh. im Original]: „Das ethische Problem hat seine Realität nur im Zusammenhang mit konkreten materialen Sachverhalten menschlichen Lebens. Insofern geht es bei aller Grundlagenreflexion auf allgemeine ethische Gesetzlichkeiten letztlich um ethische Normierung der konkreten menschlichen Lebensvollzüge, und zwar auch dort, wo es in der Grundlagenreflexion um das Ethische menschlichen Handelns überhaupt und damit um die Begründung des Ethischen selbst geht."

    2 Vgl. Hunold et al.: Annäherungen 1.

    3 Hunold et al.: Annäherungen 3.

    4 Vgl. Ricken: Ethik 10–17; Steinvorth: Ethik 25–26; Hunold et al.: Absichten VII: „Theologische Ethik reflektiert [...] als Theorie über Praxis für Praxis auf die Grundfrage des Menschen nach dem ethisch gerechtfertigten Handeln."

    5 Vgl. Korff: Ethik 60.

    6 Dazu u. a. Gründel: Ethik 19–23, 39; Korff: Ethik 19–31, 63–64; ders.: Mensch 79–91.

    7 Dazu u. a. Gründel: Ethik 26–41, 59; Korff: Ethik 31–39, 76–79.

    8 Vgl. Hunold et al.: Annäherungen 6–7.

    9 Vgl. Hunold et al.: Annäherungen 7–8.

    10 Vgl. Beckmann & Greis: Vernunft 154, die im Anschluss an Schüller von „gemischten Normen sprechen. Vgl. auch Gründel: Menschliche Person 167: „Nicht wenige ethische Urteile tragen Mischcharakter. Dies bedeutet: Sie sind zusammengesetzt aus Fakten und aus Wertungen.

    11 Beckmann & Greis: Vernunft 158. Vgl. Marx: Ethik 17: „Ethische Theoriebildung, die sich nicht von vornherein dem Verdacht aussetzen will, ihre Relevanz durch Nichtbeachtung der Anwendungsdimension aufs Spiel zu setzen, ist notwendig daran gehalten, so gründlich wie nur möglich die vorgegebene Realität zu erschließen."

    12 Mehr zu naturalistischen oder normativistischen Fehlschlüssen vgl. Beckmann & Greis: Vernunft 152–153.

    13 Zur Verhältnisbestimmung von Deskription und Ontologie, von Naturwissenschaft und Naturphilosophie siehe Drieschner: Naturphilosophie 57–75; Köchy: Naturphilosophie 38–56; Lyre: Naturphilosophie 28–37; Seidel: Konzeption 20–25.

    14 Dazu ausführlich siehe Seidel: Gentechnik.

    15 Vgl. Beckmann & Greis: Vernunft 153–154. Gegen ein neuscholastisches Naturrechtsverständnis, das „die diesem empirischen Dispositionsfeld innewohnende normative Logik als eine von sich aus bereits statisch ausdefinierte metaphysische Wesensordnung [...] im Sinne einer inhaltlich absolut geltenden gottgewollten Sittenordung missversteht, so Korff: Mensch 56 [Hervorh. im Original], ist mit Beckmann & Greis: ebd. 154, festzuhalten, „daß die inclinationens naturales menschliches Handeln prägen, aber nicht aus sich heraus Normen stiften oder zu erkennen geben. Es ist vielmehr die Aufgabe der praktischen Vernunft, ihre Ziele zu bestimmen. Umgekehrt bildet so die naturale Disposition einen Bezugsrahmen für die praktische Vernunft und entzieht so das menschliche Handeln der Beliebigkeit. Damit sind weder die natürlichen Neigungen bloßes Material der praktischen Vernunft, noch erscheint die praktische Vernunft lediglich als reines Ableseorgan der inclinationes naturales.

    16 Korff: Kernenergie 38 [Hervorh. im Original]: „Wer ist es, der handelt? Um was geht es? Wo liegen die Beweggründe? Was sind die Folgen? Welche Mittel wurden eingesetzt bzw. sind einzusetzen, um das erstrebte Handlungsziel zu erreichen? Welche äußeren und inneren Voraussetzungen müssen hierbei in Rechnung gestellt werden? (Zeit, Ort, Alter, funktions- und strukturbezogene Bedingungen, Einsichtskraft, Intelligenz, Charakter, Temperament, Stimmung.) Die Tradition faßt hier wesentliche, wenn auch nicht alle Aspekte der Handlungsumstände in dem Merkvers zusammen: quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando."

    17 Vgl. Korff: Kernenergie 39–40.

    18 Den Ausdruck „humanbiologisches Keimmaterial" verwende ich, sofern nicht anders kenntlich gemacht, als unspezifischen Oberbegriff für sämtliche vor-adulten ontogenetischen Zustände: angefangen von den Urkeimzellen über Oocyten, Embryonen, Föten, Neugeborenen, Kindern, Adoleszenten – und zwar ohne jede wertende Konnotation (!); dies einfach deshalb, weil mir zur Abgrenzung von adulten Menschen als Begriff für die Gesamtheit prä-adulter Zustände kein geeigneterer Ausdruck bekannt ist, auch wenn ich gelegentlich in ähnlich umfassendem Sinne vom Status „des Un- und Neugeborenen" spreche. Keiner der beiden Ausdrücke befriedigt. Das heißt, ich stehe vor dem Sachproblem, für einen zu bildenden Begriff kein richtig passendes Wort zu finden.

    19 NB: Biologie als Wissenschaft gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert.

    20 Vgl. Marx: Ethik 19: „[I]n den empirischen Einzelwissenschaften, die die Kondition des Menschen zu analysieren haben, [kann] eine Grundwertung wie die, der Mensch sei Zweck an ihm selbst, schlechterdings nicht vorkommen".

    21 Ähnlich vgl. Marx: Ethik 19.

    22 Korff: Mensch 51.

    23 Beckmann & Greis: Vernunft 160. – Diese Verhältnisbestimmung von Empirie und Ethik ist philosophiegeschichtlich keineswegs selbstverständlich; anders z. B. der „von Kant her vorgezeichnete[...] Ansatz einer radikalen Trennung des Ethischen vom Empirischen, Korff: Mensch 55. Zu den Schwächen von Kants Ansatz vgl. ebd. 52–55, 61. Zu Recht hält Marx: Ethik 20, fest: „Philosophie – und selbstverständlich auch die zuständigen theologischen Disziplinen – wirken als Hüterin von Grundnormen und Grundrechten schlechthin albern, wenn sie lediglich deklamatorisch die Fahnen hochhält, ohne in Kooperation mit den einschlägigen Einzelwissenschaften genau zu überlegen, wie moralische und rechtliche Werte in Funktion zu setzen und d. h. den empirischen Lagen anzupassen sind.

    24 Korff: Mensch 61–62 [Hervorh. im Original].

    25 Hilpert: Moraltheologie 181.

    26 Vgl. Gründel: Konvergenzargumentation 1625–1627.

    27 Hunold et al.: Annäherungen 2.

    28 Es geht darum, so Korff: Ethik 25–26, „daß eine durch Geltung ausgewiesene vorfindbare oder überkommene Norm einen bereits durchmessenen Weg an Wahrheitserkenntnis repräsentiert und darin einen erreichten Bestand an Einsichten vermittelt, an dem sich jede auch problemoffene, auf ‚Objektivität gerichtete aktuale Vernunft orientieren muß, will sie nicht hinter schon Erreichtes zurückfallen oder gar etwas verfehlen, was gegebenenfalls durchaus nur auf diesem Wege für sie erreichbar ist, auch wenn sie im konkreten Aneignungsprozeß darüber hinaus zugleich zu Erkenntnissen vorstößt, die sie zu neuen, weitertragenden Lösungen führen.

    29 Obwohl selbst hier gilt, „die Geschichte der Werte und Grundvorstellungen zu berücksichtigen, die in der Tradition von Philosophie und Theologie entwickelt worden sind. Ein Rückgriff auf traditionelle Bestände kann blind machen, ebenso aber ist ein solcher geeignet, den Blick von aktuellen Befangenheiten zu befreien", Marx: Ethik 17.

    30 Gründel: Ethik 46 [Hervorh. im Original]. Vgl. ebd.: „Hierfür wird die historische Forschung, u. a.

    die Kirchengeschichte als Problemgeschichte, dem Moraltheologen eine gute Hilfestellung leisten." .

    31 Zum Verständnis dieser begrifflichen Unterscheidung siehe Mt 25,14–30 par. Zur Gefahr ungeschichtlicher Engführungen vgl. Gründel: Entscheidungen 81.

    32 Gründel: Ethik 68. – Ausführlich zur Abhängigkeit theologischer Aussagen von Ergebnissen und Daten profaner Wissenschaften und der damit gegebenen Falsifizierbarkeit vgl. Hintersberger: Ethik 23–37.

    33 Vgl. Gründel: Entscheidungen 82f.: „Die Geschichte der Theologie ist also eine Konfliktgeschichte – und sie wird es weiterhin sein. Konflikte haben eben oftmals einen anstehenden Entwicklungs- und Denkprozeß in Gang gebracht und aufs Ganze gesehen der Entfaltung des Glaubens gedient."

    34 Überzeugungskonflikte sind dadurch gekennzeichnet, so Korff: Energiefrage 232, mit Blick auf die in vieler Hinsicht ähnlich geführte Kernenergiedebatte, „daß sich die Opponenten aus ihrer Sicht uneingeschränkt im Recht glauben. Sie machen ihr Urteil und ihre Position mit einem unverrückbaren Wahrheitsanspruch geltend. Wo immer aber Wahrheit für eine Position reklamiert wird, bleiben Zugeständnisse ausgeschlossen. Wahrheit läßt sich nicht teilen, sie duldet keine Kompromisse. [...] Soll [...] ein Überzeugungskonflikt darüber hinaus auch politische Brisanz gewinnen, so [müssen] [d]ie vertretenen Standpunkte [...] nicht nur miteinander unvereinbar sein, [...] sie müssen zugleich auch als schlechthin konstitutiv für das Gemeinwohl und deshalb als der jeweils einzig gangbare, unter allen Umständen gesellschaftlich durchzusetzende Weg zur Sicherung dieses Wohls angesehen werden."

    35 Ausführlich dazu s. u. 2.1.

    36 So Korff: Energiefrage 235, wiederum mit Blick auf die Kernenergiedebatte, und weiter: „Jede Beschönigung, aber auch jede Aufblähung von Risiken, jede Verharmlosungs- aber auch jede Verteufelungsstrategie, überhaupt jede selektive Informationssteuerung ist hier von Übel. [...] Emotionalisierte Kritik [...] entwickelt ihr eigenes moralisches Pathos und ihre eigene Logik. In ihrer Argumentation ist sie eher abwägungsfeindlich. Sie tendiert in einem hohen Maß an Eigendynamik zum Grundsätzlichen, Bekenntnishaften. An die Stelle von Sachfragen treten Prinzipienfragen."

    37 Vgl. Gründel: Ethik 62: „Die Tatsache der Perspektivität menschlicher Erkenntnis erfordert [...] gerade für den Moraltheologen eine grundsätzliche Bereitschaft und Offenheit zu einer komplementären Ergänzung der eigenen Erkenntnisse durch die anthropologischen Forschungsergebnisse anderer einschlägiger Wissenschaften [...]. Für den einzelnen Menschen dürfte es eine Überforderung seiner Kräfte und Fähigkeiten darstellen, müßte er sich in jedem Fall ohne fremde Hilfe ein Urteil über die Gültigkeit oder Fragwürdigkeit der jeweils vertretenen Theorien bilden. Er bedarf der Hilfestellung."

    38 Vgl. Gründel: Argumentation 510: „Heute ist kein theologisches Fach so sehr auf einen interdisziplinären Dialog angewiesen wie gerade die Moraltheologie, will sie zu den immer wieder neu anstehenden ethischen Fragen eine sachgerechte Antwort haben." Ausführlich zur Interdisziplinarität als Strukturelement der Theologie vgl. Hintersberger: Ethik 32–37.

    39 Korff: Energiefrage 256. Mögliche „Fallen expertengestützter Entscheidungsfindung finden sich sowohl auf Seiten des Experten wie auf Seiten der medialen Vermittlung wie auf Seiten des Adressaten, so u. a. (1.) wenn der Experte keine Öffentlichkeit findet oder es vernachlässigt, sein Sachwissen in geeigneter Form zur Verfügung zu stellen, vgl. ebd. 257; (2.) wenn „der Experte seine Rolle als neutraler Sachverständiger mit der eines parteiischen Interessenvertreters vertauscht, ebd. 259; (3.) wenn es sich um den „nicht so seltene[n] Fall des ‚selbsternannten Experten‘ handelt, der „auf Grund einer besonderen Betroffenheit sich zu Fragen äußert, in denen er in Wahrheit „nicht wirklich sachkundig ist, ebd. 259. – NB: Sachkompetenz fällt nicht vom Himmel – kein theologischer oder philosophischer Trick führt an dieser Tatsache vorbei –, üblicherweise wird Sachkompetenz durch sachbezogene Studiengänge erworben und durch entsprechende Zeugnisse bescheinigt, ansonsten keine Sachkompetenz; (4.) wenn Medien in bestimmter Trägerschaft aufgrund eines „ideologisierten Vorverständnis[ses] „über die Auswahl des Personals bis hin zu Direktiven inhaltlicher und formaler Art nur das rezipieren, was der eigenen Bestätigung dient, und indoktrinativ ihr vorgefasstes Bild von der Wirklichkeit verbreiten, ebd. 263; (5.) wenn sich der Adressat „mit voneinander abweichenden oder sogar einander widersprechenden Expertenmeinungen konfrontiert sieht, ebd. 257.

    40 Polemisch zugespitzt sind Akademietagungen, z. B. die Philosophische Woche der Katholischen Akademie in Bayern vom 08.–12.10.2001, und entsprechende Veröffentlichungen zum Themenkomplex, z. B. Rager: Beginn, häufig folgendermaßen oder ähnlich aufgebaut: Erst der „naturwissenschaftliche Befund, wo unter weitgehendem Ausschluss von Naturwissenschaftlern merkwürdigerweise Medizinern das Wort gegeben wird; dann der „philosophische Teil, in dem anhand von Philosophen von Aristoteles bis Kant Antworten auf Fragen gegeben werden, die besagte Philosophen mangels wissenschaftlicher Biologie – die gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert – noch gar nicht stellen konnten; schließlich der „theologische Beitrag", wo – idealerweise konfessionell paritätisch besetzt – für letzte, rational nicht mehr voll einholbare Sinnhorizonte um Nachsicht geworben wird. Wissenschaftstheoretisch sinnvoller ist, der Wissenschaftsgeschichte folgend, die umgekehrte Reihenfolge: von der Religion zur Philosophie, und von da zur Empirie als theoriegeleiteter Erfahrung.

    41 Das Risiko, wichtige Außenseiterbeiträge zu übersehen, muss damit in Kauf genommen werden.

    42 So manche, oder – angesichts der Unzahl international erschienener und erscheinender, aus den verschiedensten Fachrichtungen stammender, direkt oder indirekt zu der in vorliegender Untersuchung verhandelten Problematik Stellung nehmender Veröffentlichungen – nur wenige, von mir rezipierte oder zur Kenntnis genommene Beiträge werden aus eben diesem Grund nicht erwähnt; zwei Beispiele: (1.) Der von Juan de Dios Vial Correa und Elio Sgreccia herausgegebene Band: Identità e statuto dell’ embrione umano. Città del Vaticano 1996, dessen Niveau so manche Gegenwartsbeiträge zwar erfreulich übertrifft, aber doch hinter den in vorliegender Untersuchung geforderten biologisch-philosophischen Standards zurückbleibt und vor allem keine neuen Argumente beisteuert, wird deshalb nicht berücksichtigt; (2.) Anton Leist: Eine Frage des Lebens. Ethik der Abtreibung und der künstlichen Befruchtung. Frankfurt 1991, wird trotz leichterer Lesbarkeit deshalb, weil Hoerster vergleichsweise scharfsinniger argumentiert, in vorliegender Untersuchung nicht berücksichtigt.

    43 Vgl. Pschyrembel & Hildebrandt: Pschyrembel 997: Medizin, „[d]ie Wissenschaft vom gesunden u[nd] kranken Menschen, von den Ursachen, Wirkungen u[nd] der Vorbeugung u[nd] Heilung der Krankheiten".

    44 Vogel & Angermann: dtv-Atlas 3.

    45 Oder in Analogie: Ein Ingenieur hat ein anderes Formalobjekt als ein Physiker. Und so wie ein Biologe als Biologe nicht sonderlich zum Arzt befähigt ist, so kein Mediziner als Mediziner zum Biologen – was einzelne Mediziner nicht daran hindert, nebenbei auch gute Biologen zu sein – und umgekehrt. Zu höchst themenrelevanten Implikationen der Tatsache unterschiedlicher Formalobjekte s. u. zum Beispiel 4.2.7 Fußnote 259.

    46 Dies sehr wohl im Wissen darum, dass auch Daten und Deutungen, die es in Lehrbücher „geschafft" haben, nicht vor Falsifikation gefeit sind!

    2 Vorstellungen zur Beseelung und Ontogenese in Geschichte und Gegenwart

    In Teil 2 kommen Versuche zur Statusbestimmung humanbiologischen Keimmaterials in Geschichte und Gegenwart zur Darstellung – dies nicht als Selbstzweck, sondern in systematischer Absicht: In Teil 3 der Untersuchung werden zentrale Begriffe der Diskussion um den ontologischen Status des Vor- und Neugeburtlichen aufgegriffen und in Anwendung neuerer biologischer Erkenntnisse kritisch diskutiert. Mit diesem Begriffsinstrumentarium werden dann in Teil 4 verschiedene ontogenetische Phasen und Zäsuren daraufhin befragt, ob bzw. inwiefern sie als Beginn – sei es des Organismus, sei es des Individuums, sei es des Menschen, sei es der Person – taugen.

    2.1 Vorstellungen zur Beseelung und Ontogenese in der abendländischen Geschichte

    2.1.0 Vorbemerkungen zum geschichtlichen Überblick

    2.1.0.1 Zweck und Methode des geschichtlichen Überblicks

    Im Zentrum der Untersuchung steht die systematische Frage nach dem ontologischen Status des humanbiologischen Keimmaterials in seinen verschiedenen ontogenetischen Entwicklungsphasen. Es stellt sich daher die Frage: Wozu ein historischer Überblick zur ontologischen Statusbestimmung humanbiologischen Keimmaterials¹ in der abendländischen, insbesondere in der christlichabendländischen Geschichte? Erstens steht die systematische Frage von heute nicht geschichtslos im Raum, sondern sie hat eine Geschichte und ist das Produkt einer Geschichte. Vor dem Hintergrund dieser Geschichte bekommt die heutige systematische Frage ihr spezifisches Profil.² Zweitens macht ein derartiger geschichtlicher Überblick deutlich, welche ontogenetischen – wie auch immer (vor-)wissenschaftlich vorgestellten – Phasen und Ereignisse im Fokus der ontologischen Fragestellung standen und deshalb auf ihre systematische Relevanz hin zu befragen sind. Drittens lehrt ein geschichtlicher Überblick, wie eng – was die Frage nach dem ontologischen Status humanbiologischen Keimmaterials betrifft – (vor-)wissenschaftliche Embryologie, Ontologie, Anthropologie, Ethik und Recht miteinander verzahnt sind. Die Einbeziehung naturwissenschaftlicher Kompetenz in die Diskussion der Statusfrage ist deshalb geboten. Viertens aber – und das ist beim gegenwärtigen innerkirchlichen Diskussionsklima hervorzuheben – kann ein Blick in die Geschichte helfen, sich selbst verabsolutierende Positionen zu relativieren und die Angst vor einer ergebnisoffenen Diskussion der systematischen Frage nach dem ontologischen Status humanbiologischen Keimmaterials zu überwinden.

    Da die Aufgabenstellung dieser Untersuchung primär eine systematische und keine historische ist, impliziert das für den folgenden geschichtlichen Teil zweierlei: Es geht erstens nicht um eine erschöpfende Darstellung der in der Geschichte vertretenen Vorstellungen. Vergeblich wird man suchen, was z. B. Epikur oder das Konzil von Mainz 847 oder George-Louis Leclerc de Buffon (1707–88) oder Wilhelm His (1831–1904) usw. zur Ontogenese und zur ontologischen Statusbestimmung des Ungeborenen beizutragen wussten. Vielmehr geht es darum, repräsentativ die wichtigsten Autoren und Auffassungen zur Frage kurz vorzustellen oder mindestens zu nennen. Eine auf Vollständigkeit angelegte historische Arbeit zum Thema wäre nur als mehrbändiges Werk zu verwirklichen. Zweitens geht es nicht darum, historische Positionen und Gedankengänge direkt anhand von Quellen und Originaltexten herauszuarbeiten; vielmehr wird anhand der reichlich vorhandenen Sekundärliteratur ein repräsentativer Überblick in systematischer Absicht gegeben. Originaltexte wurden nur bei sehr wichtigen Autoren und Texten oder dann konsultiert, wenn die Sekundärliteratur Widersprüchliches bietet.³ Im geschichtlichen Überblickskapitel wird also nicht das Ergebnis eigener Quellenforschung vorgestellt, sondern es werden Erkenntnisse aus bereits vorliegenden Monographien, Aufsätzen und Artikeln zusammengetragen.

    In der abendländischen Geschichte wurde die Statusfrage humanbiologischer Keime gemeinhin als Beseelungsfrage diskutiert. Da diese Diskussion aber nicht nur von theoretischem, sondern auch von höchst praktischem Interesse ist, z. B. für die Behandlung der Abtreibungsproblematik, wird man in sehr unterschiedlichen Kontexten fündig: Rechts- und embryologiegeschichtliche Arbeiten sind ebenso zu konsultieren wie philosophie- und theologiegeschichtliche Literatur. Die Zusammenschau unterschiedlicher Ansätze, Arbeiten und Ergebnisse führt allerdings – über die reine Darstellung hinaus – gelegentlich zu neuen, teilweise spannenden Erkenntnissen.

    Gegliedert ist der geschichtliche Überblick in drei Kapitel: Im Zentrum steht das zweite Kapitel mit seinen Ausführungen zum ontologischen Status humanbiologischer Keime in der mittelalterlich-christlichen Tradition. Im ersten Kapitel werden die dem Christentum vorgegebenen Traditionen vorgestellt: die griechisch-römische und die biblisch-jüdische. Im dritten Kapitel geht es um die sich von der mittelalterlich-christlichen Tradition emanzipierenden Sichtweisen des säkularen Rechts und der Embryologie. Gegliedert sind diese drei Kapitel in eine Bestandsaufnahme; jeweils nachgestellt sind weiterführende Überlegungen und Präzisierungen.

    2.1.0.2 Hinweise zur naturwissenschaftlichen Kompetenz und zur Terminologie

    Biologie ist eine junge Wissenschaft. Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts – mit der Formulierung der Zelltheorie, der Evolutionstheorie und der Mendel’schen Gesetze – wurde die Biologie zu einer Naturwissenschaft; erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde die Säugetieroocyte entdeckt, die Cyto- und die Karyogamie beobachtet. Mit anderen Worten und zugespitzt: Bis ins 19. Jahrhundert herrschten über „Beiwohnung, „Empfängnis und frühembryonale Ereignisse Vorstellungen, die denen vor 10.000 Jahren ähnlicher waren als dem heutigen Wissensstand. Dies gilt es zu berücksichtigen, will man nicht bei Autoren von Aristoteles bis Kant Antworten auf Fragen finden, die sie noch gar nicht stellen konnten.

    Die meisten für die heutige Fragestellung relevanten Begriffe waren in der abendländischen Tradition inhaltlich anders gefüllt bzw. wurden anders verwendet als heute. Einige Hinweise zum Verständnis des geschichtlichen Überblicks sollen deshalb vorausgeschickt werden:

    Unter „Empfängnis" wurde nicht die Befruchtung oder die Nidation verstanden, sondern irgendein fiktives Gesamtereignis aus Koitus und Schwangerschaftsbeginn.

    Unter „Samen und „Sperma verstand man keine Spermatozoen, sondern Samenflüssigkeit; man sprach nicht nur von männlichem, sondern auch von weiblichem Samen.

    Anders als heute waren die Begriffe „Embryo, „Fötus⁵, „(Leibes-)frucht – von mir noch ergänzt um die wertneutralen Begriffe „Ungeborenes, „Vorgeburtliches, „Keim – weitgehend gegeneinander austauschbar. Der von mir verwendete Begriff „humanbiologisches Keimmaterial ist – keineswegs abwertend gemeint!⁶– dort sinnvoll, wo eine Verwendung der anderen aufgeführten Begriffe zu kurz greifen würde: wenn z. B. bereits der „Samen als beseelt gedacht wird und „Samen und „Föten etc. unter einem Begriff zusammengefasst werden sollen.

    In der mittelalterlich-christlichen Tradition wurde mit Blick auf die Embryonalentwicklung gemeinhin unterschieden zwischen einer Phase, in der der Keim als schon „reif, „ausgebildet, „geformt, „gegliedert, „belebt, „(vernunft-)beseelt und damit ontologisch als Mensch angesehen wurde – die Begriffe sind austauschbar⁷–, und einer Phase, in der er als noch „unreif, „unausgebildet, „ungeformt, „ungegliedert, „unbelebt und „unbeseelt galt – wobei „unbelebt und „unbeseelt die Negation von Belebt- und Beseeltsein bedeuten konnten, aber auch bloß vegetatives Belebt- und Beseeltsein. Erst in der Neuzeit wurde die Ineinssetzung von Ausgebildetheit, Geformtsein, Belebtsein und Vernunftbeseeltheit in Frage gestellt oder bestritten.⁸

    Die Grenze zwischen „Abtreibung" und Kindstötung wurde zu verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Autoren unterschiedlich gezogen, z. B. bei der Geburt oder bei Erwerb der extrauterinen Lebensfähigkeit.

    2.1.1 Dem Christentum vorgegebene Vorstellungen zur Beseelung und Ontogenese

    2.1.1.1 Dem Christentum vorgegebene Vorstellungen zur Beseelung und Ontogenese – Bestandsaufnahme

    Die Vorstellungen, die sich die frühen Christen von der Beseelung und über den ontologischen sowie moralischen Status des Ungeborenen und des Neugeborenen machten, waren keine Neuschöpfungen. So wie das Christentum im Judentum wurzelt, so wurzeln auch seine Beseelungsvorstellungen im biblisch-jüdischen Denken. Zugleich waren die frühen Christen Teil der antiken griechischrömischen Welt, mit deren Auffassungen zum ontologischen und moralischen Status des Ungeborenen und Neugeborenen sie sich auseinanderzusetzen hatten.

    2.1.1.1.1 Vorstellungen zum ontologischen Status menschlicher Keime in der griechisch-römischen Antike

    In der griechischen Antike galten Embryonen und Neugeborene nicht als Menschen im vollen Sinn, ihre Tötung wurde nicht als Mord verstanden. Von einem Lebensrecht des Un- und Neugeborenen konnte keine Rede sein.⁹ Im griechischen Volksglauben stellte man sich die Beseelung vermutlich im Allgemeinen so vor, dass die Seele mit dem ersten Atem, also nach der Geburt, in den Körper eintritt.¹⁰ Aber auch mit der Geburt galt das Neugeborene noch nicht als vollwertiger Mensch: In Sparta waren nach dem Gesetz des Lykurg Eltern verpflichtet, ihr Neugeborenes vor die Versammlung der Gemeindeältesten zu bringen, die dann anhand seiner körperlichen Qualität entschied, ob es aufgezogen oder in der Schlucht des Taygetus ausgesetzt werden sollte.¹¹ Überhaupt scheint Kindsaussetzung üblich gewesen zu sein. So gibt es Schätzungen, dass im klassischen Athen mehr als zehn Prozent aller neugeborenen Mädchen ausgesetzt wurden.¹²

    Bei den Vorsokratikern finden sich unterschiedliche Vorstellungen zur menschlichen Entwicklung und Beseelung: Parmenides (* um 540 v. Chr.), der das Seelenleben aus den den Körper bildenden Elementen erklärt, scheint davon ausgegangen zu sein, dass der Embryo ab der Zeugung über Empfinden und Denken verfügt.¹³ Der Pangenesislehre des Atomisten Demokrit (460–370 v. Chr.) zufolge enthält der Samen beider Elternteile atomare Korrelate ihrer Seelen- und Körperatome.¹⁴ Der Zeugungsakt wird dementsprechend als Ablösung eines in seinen Bauteilen bereits präformierten Keimes¹⁵ und der Beischlaf als das Herausstürzen eines Menschen aus einem anderen Menschen vorgestellt.¹⁶ Wie Demokrit und Parmenides war auch Empedokles (483–423 v. Chr.) der Auffassung, dass der männliche und der weibliche Elternteil gleichermaßen zur Zeugung des Nachwuchses beitrügen.¹⁷ Im Übrigen hielt er den männlichen Keim 30 Tage, den weiblichen dagegen erst 42 Tage nach der Zeugung für gegliedert. Kindsbewegungen sollten beim männlichen Fötus drei Monate, beim weiblichen vier Monate nach der Zeugung einsetzen.¹⁸ Zwar betrachtete Empedokles den Fötus als Lebewesen, aber als ein odemloses, und somit als eine niedrigere Lebensstufe.¹⁹ Im Gegensatz zu den drei vorgenannten Philosophen war Anaxagoras (um 499–428 v. Chr.) der Ansicht, dass nur der männliche Elternteil mit seinem Sperma zeuge, während der weibliche mit seinem Uterus lediglich den Entwicklungsort bereitstelle.²⁰ Weiterhin nahm er an, dass im Samen die Organteile des künftigen Menschen bereits in Miniatur vorgebildet seien.²¹ Die Beseelung des Keimes allerdings findet nach Anaxagoras dadurch statt, dass der unsterbliche Nous von außen in den Körper eintritt.²² Sein Schüler Diogenes von Apollonia (5. Jh. v. Chr.) schrieb dem Samen zwar warmes Seelenpneuma zu, die eigentliche Beseelung aber findet ihm zufolge erst nachgeburtlich mit dem Eindringen kalter Luft in die Lunge statt.²³

    Im Corpus Hippocraticum²⁴ wird eine modifizierte Form der Pangenesislehre vertreten, der zufolge im Samen sämtliche Körpersäfte und -teile präformiert sind²⁵; beide Elternteile steuern gleichwertig Samen zur Zeugung bei²⁶, weshalb zur Empfängnis nicht nur die Aufnahme des männlichen Spermas in den Uterus, sondern auch dessen Verbindung mit dem weiblichen Samen gehöre.²⁷ Während der ersten sieben Tage dickt sich nach hippokratischer Vorstellung das Samengemisch ein, bevor es pneumatisiert und zum gegliederten Fötus wird – zu einem männlichen nach 30 Tagen bzw. zu einem weiblichen nach 42 Tagen.²⁸ Mit Erwerb der Bewegungsfähigkeit gilt der Embryo als Lebewesen²⁹ – allerdings eher pflanzlicher Art: Im hippokratischen Werk werden menschliche Embryonalentwicklung und pflanzliches Wachstum bis hin zur Gleichsetzung analogisiert.³⁰ Föten abzutreiben galt der hippokratischen Medizin nicht nur als zulässig, sondern geradezu als medizinische Standardmaßnahme.³¹ Diese Tatsache stand nicht im Widerspruch zum Hippokratischen Eid. Abgesehen davon, dass sein Autor wohl einer kleinen pythagoreischen Sekte angehörte³² und es völlig unklar ist, wer überhaupt diesen Eid geleistet hat³³, verbietet er – entgegen einem verbreiteten Missverständnis³⁴ – nicht die Durchführung von Abtreibungen generell³⁵, sondern nur das Verabreichen von abortiv wirkenden Zäpfchen oder Pessaren; er richtet sich aber nicht gegen Kontrazeptiva, oral verabreichte Abortiva oder gegen chirurgische Abtreibungsmethoden.³⁶

    Platon (427–347 v. Chr.) sah wie Anaxagoras den Ursprung des Keimes allein im Samen des Vaters, den Uterus dagegen betrachtete er als reines Depositorium des Samens³⁷, vergleichbar mit dem Ackerboden.³⁸ Die präexistente und unsterbliche Seele tritt nach Platon erst nach Fertigstellung des Körpers, also nach der Geburt, in den Körper ein.³⁹ Schwächliche und missgestaltete Kinder sowie Nachwuchs von Eltern, die außerhalb des von ihm vorgeschriebenen Zeugungsalters zeugten, wollte Platon ausgesetzt bzw. abgetrieben wissen.⁴⁰

    Aristoteles (384–322 v. Chr.) zufolge durchläuft der Keim nach der Empfängnis zunächst eine vegetativ-pflanzliche, sodann eine animalisch-sensitive Entwicklungsphase, bevor er in die rationale Lebensphase eintritt und damit zum Menschen wird.⁴¹ Während der vegetativen Phase denkt sich Aristoteles den Keim mit einer vegetativen oder Ernährungsseele (ψυχὴ θρεπτική) ausstaffiert, bevor er – der männliche Keim 40 Tage, der weibliche Keim 90 Tage nach der Empfängnis⁴² – mit einer animalischen oder Empfindungsseele (ψυχὴ αἰσθητική) ausgestattet wird; schließlich tritt von außen die präexistente unsterbliche Geist- oder Vernunftseele (ψυχὴ νοητική) hinzu⁴³ – welche die anderen Seelen nicht ersetzt, sondern in sich einschließt.⁴⁴ Sukzessive Beseelung und epigenetisch gedeutete biologische Entwicklung verlaufen parallel.⁴⁵ Ab wann der Keim vernunftbeseelt sein soll, erklärt Aristoteles nicht.⁴⁶ Jedenfalls wird ihm zufolge der Embryo nicht simultan Lebewesen und Mensch, sondern Mensch erst, nachdem er Empfindungsfähigkeit erworben hat.⁴⁷ Als aktuell mit einer Vernunftseele ausgestattet dachte Aristoteles den Keim wohl erst nachgeburtlich, wenn das intellektuelle Denken einsetzt⁴⁸; zugleich aber muss bereits der Fötus über die Vernunftseele verfügen, da er andernfalls kein menschentypisches Herz und kein menschentypisches Gehirn ausbilden könnte; d. h. nach Aristoteles besitzt schon der Embryo die Vernunftseele potentiell.⁴⁹

    Die Ernährungs- und die Empfindungsseele bekommt der Embryo nach Aristoteles durch den männlichen Samen; und auch das äußere Hinzutreten der präexistenten Vernunftseele ist der Wirkung des Samens zuzuschreiben.⁵⁰ Als Ursprung der Entwicklungsbewegung und Überträger der Form wirkt der männliche Same wie ein Werkzeug des väterlichen Elternteils aktiv auf das stoffliche Substrat der Zeugung, nämlich auf das Menstruationsblut.⁵¹ Materie trägt allein der weibliche Elternteil mit seinem Menstruationsblut zur Keimbildung bei.⁵² Aristoteles veranschaulicht seine Vorstellung von der Wirkung des Spermas auf das Menstruationsblut mit der käsetechnischen Analogie der Wirkung des Labs auf die Milch.⁵³ Sobald der Same das Menstruationsblut wie Lab die Milch zum Gerinnen gebracht hat, ist ein Fötus gegeben⁵⁴, der nicht nur über eine vegetative Seele, sondern auch über das Potential verfügt, sensitiv beseelt und vernunftbeseelt zu werden.⁵⁵ Mittels der vegetativen Seele lässt der Same ein empfindendes Wesen mit einer Empfindungsseele und Empfindungsorganen entstehen.⁵⁶ Er formt ein embryonales Herz als Sitz der Seele und der Sinnesempfindung⁵⁷, welches dann seinerseits den restlichen Organismus entstehen lässt.⁵⁸

    Ist die Entwicklungsbewegung durch den Samen von außen in Gang gesetzt, betreibt nach Aristoteles der Embryo seine Entwicklung selbst.⁵⁹ In einer Art Kettenreaktion überführt die vom Samen vermittelte Entwicklungsbewegung die im Menstruationsblut vorhandenen Entwicklungspotenzen nacheinander in die Wirklichkeit⁶⁰: Sobald die Entwicklungsbewegung in Gang gesetzt ist, folgt kontinuierlich ein Entwicklungsschritt auf den anderen.⁶¹

    Abtreibungen – Aristoteles empfiehlt sie als Mittel gegen übermäßiges Bevölkerungswachstum – sollen nur vorgenommen werden, solange der Keim noch nicht empfindungsfähig geworden ist.⁶² „Das mit der tierischen Seele einsetzende Empfindungsvermögen und die damit verbundene Eigenständigkeit foetalen Lebens setzte also der von Aristoteles postulierten Abtreibungspflicht eine Grenze."⁶³ Zugleich allerdings möchte Aristoteles durch gesetzlich vorgeschriebene Kindsaussetzung verhindert sehen, dass deformierte Kinder am Leben bleiben.⁶⁴

    Der Stoa zufolge entsteht bei der Zeugung aus dem männlichen Samen durch die Verbindung seines Pneumas mit dem weiblichen Pneuma eine vegetative Seele, die durch ihre Bildungskräfte die Frucht heranwachsen lässt.⁶⁵ Bis zur Geburt galt der Fötus nicht als eigenständiges Lebewesen, sondern er wurde, gleich der Frucht einer Pflanze, als Teil des mütterlichen Organismus (portio mulieris) verstanden.⁶⁶ Erst nach vollendeter Geburt und durch das nachgeburtliche Einatmen kühler Luft wird nach stoischer Auffassung aus der vegetativen eine animalische Seele; als sicheres Zeichen für das Einsetzen der Atmung galt der erste Schrei des Neugeborenen.⁶⁷

    Da der Fötus bis zur Geburt nicht als eigenständiges Lebewesen betrachtet wurde, galt Abtreibung nicht als Menschentötung. Wenn der Spätstoiker Musonius Rufus (30–100 n. Chr.) Abtreibung verurteilt, so aus anderen Gründen: Empfängnisverhütung und Abtreibung standen deshalb im Gegensatz zur stoischen Lehre, weil sexuelle Betätigung allein der biologischen Fortpflanzung zu dienen habe⁶⁸; dazu kamen bevölkerungspolitische Überlegungen⁶⁹. Welcher ontologische Stellenwert dem Fötus und dem Neugeborenen im stoischen Naturrechtsdenken zukam, macht z. B. Seneca (ca. 1–65 n. Chr.) deutlich, wenn er das Ertränken missgestalteter und schwacher Neugeborener als vernünftige Handlungsweise ausgibt.⁷⁰

    Soran (ca. 98–138 n. Chr.) unterschied das bloße Eindringen des Samens in den Uterus, die Analepsis, von der eigentlichen Empfängnis, der Syllepsis, nämlich der endgültigen Aufnahme des Samens in den Uterus und dessen Verbindung mit dem weiblichen Samen – wobei er noch einmal zwei Phasen der Syllepsis unterschied: die Phase des noch ungeformten Samens und die Phase der bereits gegliederten und beseelten Frucht.⁷¹ Nach Soran entsteht aus dem männlichen Samen, ohne dass der weibliche Elternteil einen Zeugungsbeitrag leisten würde, zunächst eine vegetative Seele; im Gegensatz zur stoischen Lehre, der er ansonsten sehr nahe steht, findet Soran zufolge die animalische Beseelung schon vor der Geburt statt.⁷² Ob er den Fötus damit als vollwertigen Menschen betrachtete, ist unsicher; zugunsten des Lebens der Mutter befürwortete er jedenfalls die intrauterine Zerstückelung von Föten.⁷³

    In der Frage der Zeugung orientierte sich die im ersten Jahrhundert v. Chr. von Athenaios von Attaleia begründete pneumatische Ärzteschule den Vorstellungen des Aristoteles.⁷⁴ Diesen Ärzten zufolge wird der Fötus mit dem ersten Herzschlag, den sie 18 Tage nach der Zeugung ansetzen, zum Lebewesen.⁷⁵

    Derselben Auffassung war Galen (129–ca. 200 n. Chr.): Auch für ihn wird der Embryo mit der Ausbildung des Herzens zum animal – was allerdings keine Beseelung im strikten Sinne besagen muss.⁷⁶ Im Gegensatz zu Aristoteles meinte Galen, dass beide Elternteile zur Gestaltung des Embryo beitragen.⁷⁷ Er unterschied vier Entwicklungsphasen des Keimes: zunächst ein Stadium des noch flüssigen Samens; mit der anschließenden Bildung von Leber, Herz und Gehirn erreiche der Keim die Daseinsstufe niederer Tiere; sodann die Bildung von Teilen der Bauchgegend; den voll ausdifferenzierten Fötus schließlich bezeichnet Galen als Kind (παιδίον).⁷⁸ Wie die antike Ärzteschaft generell so war auch Galen der Überzeugung, dass männliche Embryonen sich schneller entwickeln und früher bewegen als weibliche.⁷⁹

    Nach Porphyrius (233–300 n. Chr.) ist, wie bereits der Same, so auch der Embryo nur mit einer vegetativen Seele, der Physis, ausgestattet, welche bei der Geburt zur Psyche wird.⁸⁰

    Auch im landläufigen römischen Verständnis galten Föten nicht als Lebewesen⁸¹; und nach dem stark durch stoische Vorstellungen geprägten römischen Recht war die Leibesfrucht kein Mensch, sondern lediglich ein Teil der Mutter bzw. ihrer Eingeweide (mulieris portio vel viscerum).⁸² Mensch wurde das Neugeborene durch das Einsetzen der Lungenatmung.⁸³ Je nach Entwicklungsstand der Leibesfrucht wurde zwischen conceptus, fetus, partus und puerperium unterschieden.⁸⁴ Unter den Schutz des römischen Rechts fiel das Neugeborene allerdings erst dann, wenn der Familienvater es angenommen hatte.⁸⁵ Bis in das vierte Jahrhundert galt es als das Recht des pater familias, ein neugeborenes Kind anzunehmen oder auszusetzen.⁸⁶ Das ius vitae necisque, d. h. das Recht, über Leben oder Nichtleben von Nachkommen sowie über Abtreibungen zu entscheiden, war Teil des Vaterrechts, der patria potestas.⁸⁷ Von der Aussetzung sittlich unterschieden wurde die Tötung eines Neugeborenen, die dann als gerechtfertigt erschien, wenn es schwere körperliche Mängel aufwies.⁸⁸ Ein solches Vorgehen wurde ebensowenig wie Abtreibung als parricidium, d. h. als vorsätzliche und widerrechtliche Tötung eines Verwandten, gewertet.⁸⁹

    Abtreibung, Kindsaussetzung und Empfängnisverhütung scheinen wesentlich dazu beigetragen haben, dass während der ersten Jahrhunderte n. Chr. die römische Bevölkerung, vor allem deren herrschende Schicht, zahlenmäßig schrumpfte.⁹⁰ Wenn eine von einer Frau gegen den Willen ihres Mannes vorgenommene Abtreibung als schwerer Sittenverstoß galt, so nicht deshalb, weil das Lebensrecht des Ungeborenen, sondern weil das Recht des Mannes auf sein Kind verletzt worden war.⁹¹ Und sofern überhaupt Gesetze gegen Schwangerschaftsabbruch und Empfängnisverhütung erlassen wurden, so hatten sie nicht den Schutz des Ungeborenen, sondern das Motiv oder die Mittel zum Gegenstand: sei es, dass die Gattin ihrem Mann keine Kinder vorenthalten können sollte, sei es, dass das Verabreichen abortiver und kontrazeptiver Tränke wegen ihrer Nebenwirkungen für Leib und Leben der Frau unterbunden werden sollte.⁹²

    In diesem Sinne stellte das um 200 n. Chr. erlassene Reskript des Severus und Antonius in Anlehnung an die lex Cornelia de sicariis et veneficis aus dem ersten Jahrhundert n. Chr. Abtreibung unter Strafe: zum einen, um das Leben von Frauen vor Giftmischern zu schützen; zum anderen, weil es nicht angehen könne, dass Frauen ihre Männer um Kinder betrögen.⁹³ Das Reskript galt für Ehefrauen und schwangere Geschiedene; es bezog sich jedoch nicht auf Abtreibungen von nicht-ehelich gezeugten Föten.⁹⁴

    Auch die um 200 n. Chr. entstandene Sentenz des Paulus, eines römischen Rechtsgelehrten, stellte das Verabreichen von Abortiv- und Liebestränken sowie von kontrazeptiven Drogen unter Strafe, um Leben und Gesundheit von Frauen vor magiebehafteter Giftmischerei zu schützen.⁹⁵ Die Sentenz war auf den Schutz der Gesellschaft vor Scharlatanen, nicht auf den Schutz des Fötus ausgerichtet.⁹⁶

    2.1.1.1.2 Vorstellungen zum ontologischen Status menschlicher Keime in der biblisch-jüdischen Tradition und Auslegung

    Direkte und explizite Aussagen zum ontologischen Status vom Embryonen und Föten finden sich in der Bibel nicht. Wohl aber lässt sich aus einigen Schriftstellen auf biblische Vorstellungen zur Ontogenese und deren ontologischer Bewertung rückschließen. Darüber hinaus hilft die reiche nachbiblische jüdische Auslegungtradition, das biblische Denken angemessener zu verstehen. „Talmud, Tosephta und Midrasch […] legen […] Zeugnis ab von Werten und Gedanken, die zur Zeit der Entstehung und Ausbreitung des Christentums wahrscheinlich allgemein verbreitet waren."⁹⁷ Eine Schriftstelle, die für die Fragestellung von zentraler Relevanz ist, ist Ex 21,22f.:

    Wenn Männer miteinander raufen und sie verletzen dabei ein schwangeres Weib, sodass eine Fehlgeburt eintritt, aber kein [weiterer] Schaden entsteht, so soll es mit Geld gebüsst werden; was der Ehemann dem Täter auferlegt, das soll dieser geben für die Fehlgeburt. Entsteht aber ein [weiterer] Schaden, so sollst du geben Leben um Leben.⁹⁸

    Derjenige, der die fahrlässige Fremdabtreibung zu verantworten hat, ist verpflichtet, dem Ehemann einen Geldbetrag zu zahlen. Falls zusätzlich auch die Schwangere zu Tode kommt, gilt das Talionsgesetz. Das Talionsgesetz „Leben für Leben" hat immer dort und nur dort zu greifen, wo ein Mensch getötet wird;⁹⁹ denn der Mensch ist als „Bild Gottes geschaffen (Gen 9,6).¹⁰⁰ Im Falle der fahrlässigen Fremdabtreibung greift das Talionsgesetz „Leben für Leben nicht, weil, so ist rückzuschließen, nach biblisch-jüdischem Verständnis das Ungeborene kein Mensch ist.¹⁰¹ Die Tötung eines Fötus kann dementsprechend weder als Totschlag noch als Mord bestraft werden.

    Nach Flavius Josephus (ca. 37–ca. 100 n. Chr.) soll derjenige, der eine fahrlässige Fremdabtreibung zu verantworten hat, zusätzlich zum Geldbetrag für den Ehemann noch eine Geldstrafe wegen Populationsminderung zahlen; das Talionsgesetz selbst aber greift nicht.¹⁰²

    Ähnliche Regelungen wie in Ex 21,22f. finden sich in anderen altorientalischen Gesetzgebungen, z. B. im Codex des Hammurapi¹⁰³, ferner in der assyrischen, der sumerischen und der hethitischen Gesetzgebung.¹⁰⁴ Im Unterschied zur biblischen Gesetzgebung sind die zu zahlenden Beträge entsprechend dem sozialen Status der Schwangeren gestaffelt. Das hethitische Gesetz staffelt zusätzlich nach dem Entwicklungsstand des Fötus.¹⁰⁵

    Abweichend von der hebräischen Vorlage lautet Ex 21,22f. in der im dritten Jahrhundert v. Chr. entstandenen griechischen Septuaginta:

    Wenn zwei Männer kämpfen und eine schwangere Frau stoßen, und wenn ihr Kind (τὸ παιδίον) [noch] nicht ausgebildet (μὴ ἐξεικονισμένον) abgeht, so soll eine Strafe gezahlt werden: Wie sie der Mann der Frau auferlegt, wird er [der Täter] sie nach Wertschätzung geben. Wenn es aber ausgebildet (ἐξεικονισμένον) war, so soll er geben Leben für Leben.¹⁰⁶

    Während es im hebräischen Text vor allem um das Schicksal der Schwangeren geht, richtet die Septuaginta-Version den Blick auf das Ungeborene.¹⁰⁷ Die Originalformulierung „[wenn] kein [weiterer] Schaden entsteht gibt die Septuaginta mit „[wenn] es [noch] nicht ausgebildet [war] (μὴ ἐξεικονισμένον) wieder; und entsprechend „[wenn] aber ein [weiterer] Schaden entsteht mit „[wenn] es aber ausgebildet war. Die Septuaginta-Version unterscheidet also zwischen dem noch nicht ausgebildeten und noch ungeformten Ungeborenen, dessen fahrlässige Fremdabtreibung mit einer Geldbuße abzugelten ist, und dem schon ausgebildeten Ungeborenen, das bereits menschliche Form angenommen hat und für dessen fahrlässige Fremdabtreibung wie für Totschlag das Talionsgesetz gilt, weil es – so ist rückzuschließen – von den Verfassern der Septuaginta-Version als Mensch, genauer: als Bild Gottes angesehen wurde.

    Ob hinter der Septuaginta-Version eine samaritanische Lesart steht oder ob es sich hier um eine schlichte Fehlübersetzung handelt¹⁰⁸ oder ob die alexandrinischen „Übersetzer" versucht haben, griechische Philosophie in den Bibeltext einzuarbeiten¹⁰⁹, mag vorläufig dahingestellt bleiben.

    Faktum ist, dass die Kirchenväter – sofern sie ihr Denken in der Beseelungsfrage von der Bibel und nicht von heidnischen Philosophen bestimmen ließen – die Septuaginta-Version rezipierten¹¹⁰ und dementsprechend zwischen nochnicht-menschlichen und schon-menschlichen Ungeborenen unterschieden.¹¹¹

    In der jüdischen Tradition blieb es eine Minderheit, die sich diese Sichtweise der Septuaginta zu eigen machte: so z. B. Philo von Alexandrien (25 v.–41 n. Chr.), der die Tötung eines bereits geformten Fötus als todeswürdiges Verbrechen erachtete.¹¹² Mit dem Bedeutungsverlust der Septuaginta für das Judentum gegen Ende des ersten Jahrhunderts n. Chr. verschwand auch die durch sie gestützte Vorstellung, dass schon das ausgebildete, geformte Ungeborene ein lebender Mensch sei. Der Oberrabbiner des britischen Commonwealth, Sir Immanuel Jakobovits, stellt deshalb gegen Ende des 20. Jahrhunderts fest, dass sich zwar die authentischen Lehrer des Judentums zur Frage alles andere als einheitlich äußerten, jedoch völlige Übereinstimmung darin bestehe, dass der Fötus den vollmenschlichen Status nicht vor der Geburt erwirbt und dass Abtreibung deshalb kein Mord ist.¹¹³

    Die Auslegung des hebräischen Textes von Ex 21,22f. sieht sich gestützt durch den Kontext: Ex 21,12 („Wer einen Menschen schlägt, sodass er stirbt, der soll getötet werden") bezieht sich auf Geborene und nicht auf Ungeborene.¹¹⁴ Sodann wird die biblisch-jüdische Auffassung, dass erst nach seiner körperlichen Fertigstellung der Mensch als eigenständiges Lebewesen ins Dasein tritt, gestützt durch Gen 2,7: Erst zusätzlich zur vorausgegangenen körperlichen Erschaffung haucht Gott dem Menschen Lebensodem in die Nase¹¹⁵ – Leben und Atem sind begrifflich äquivalent (vgl. Gen 7,22; 1 Kön 17,17, Ijob 27,3; Jer 10,14; 51,17).¹¹⁶ Bezogen auf den Embryo zeigt Gen 2,7 „deutlich […], daß [er] nicht als beseelt gedacht wurde."¹¹⁷ Auch das Bild von der Erweckung des toten Gebeins in Ez 37,5–10 unterstreicht, dass nach biblisch-jüdischer Sicht Gott erst nach Abschluss der körperlichen Fertigstellung Lebensodem in den Menschen legt.

    Ijob 10,8–12 knüpft einerseits an Gen 2,7 an, wenn Hiob Gott daran erinnert, wie er ihn aus Ton gebildet hat (V.9), anderseits sieht er sein körperliches Entstehen in Analogie zur Käsegerinnung (V.10), bevor Gott in den fertiggestellten Organismus „Leben und Lebenskraft gelegt hat (V.12). Weish 7,1–3 lässt Salomo auf die vorgeburtliche Zeit seiner körperlichen Bildung zurückblicken: „geronnen im [Mutter-]Blute, aus Mannessamen und in der Lust des Beischlafes (V.2).¹¹⁸

    Nicht erst sein Leben verdankt der Mensch Gott, vielmehr verdankt er sich ihm zur Gänze: Gottes Hände bereiten ihn (Ps 119,73); Gott webt ihn im Mutterschoß (Ps 139,13; Jes 44,2); er ist es, der ihn aus dem Mutterschoß zieht (Ps 22,10f.); er ist es, der das hörende Ohr und das sehende Auge bildet (Ps 94,9; Spr 20,12), der die Sprache schafft (Ex 4,11) und Einsicht verleiht (Ps 119,73; Sir 17,5–10). In diesem Sinne begründet später der Sohar das Abtreibungsverbot damit, dass, wer abtreibt, das entweiht, was durch Gott gebildet wurde.¹¹⁹

    Biblisch hat eine nachgeburtliche Berufung Konsequenzen bis in vorgeburtliche Phasen hinein: Nicht erst mit der Geburt und nicht erst mit der Bildung im Mutterschoß, sondern noch davor weiht Gott Jeremia zum Propheten (Jer 1,5). Und die Mutter des Simson soll während der Schwangerschaft keinen Wein oder sonst ein berauschendes Getränk trinken und nichts Unreines essen, weil Simson „vom Mutterschoss an" ein Gottgeweihter sein soll (Ri 13,4–5.7.13f.); das Gleiche dürfte für Elisabeth, die Mutter von Johannes dem Täufer gegolten haben (Lk 1,15).¹²⁰

    So einig sich – nach dem Bedeutungsverlust der Septuaginta – die biblischjüdische Tradition negativ darin ist, dass das Ungeborene kein Mensch ist, so facettenreich sind die Meinungen darüber, welcher ontologische und moralische Status ihm positiv zuzuschreiben ist. Da gibt es zunächst einmal die Auffassung, dass der Fötus keine separate Entität, sondern Teil des Körpers der Schwangeren ist.¹²¹ Sodann findet sich im Talmud die Lehrmeinung, dass der Embryo während der ersten 40 Tage nach der Empfängnis „nichts weiter als Wasser ist¹²² – weshalb die auf Geburten und Fehlgeburten bezogenen levitischen Reinigungsgesetze bei Abgängen während der ersten 40 Tage nicht greifen.¹²³ Anderseits schreibt die biblisch-jüdische Tradition den noch Ungeborenen gewisse moralische und spirituelle Fähigkeiten zu, wenn es z. B. heißt, die Gottlosen seien abtrünnig „vom Mutterleib an (Ps 54,4); oder wenn der Legende nach Esau sich besonders dann lebhaft im Uterus bewegt haben soll, wenn Rebekka einen Götzentempel passierte, Jakob dagegen, wenn sie sich einem Lehrhaus näherte¹²⁴; oder wenn es im Talmud heißt, dass die Ungeborenen nach der Befreiung Israels aus Ägypten in den Gesang des Mose und der Israeliten eingestimmt hätten¹²⁵. Ähnlich, wenn es heißt, das Kind der im sechsten Monat schwangeren Elisabeth habe auf den Gruß der ebenfalls schwangeren Maria mit Hüpfen reagiert (Lk 1,41.44).

    In einer gewissen Spannung zur sonstigen biblisch-jüdischen Sicht steht die Erzählung des Talmud von einem Disput zwischen dem römischen Kaiser Antoninus und Rabbi Judah ha-Nasi, in dessen Verlauf Rabbi Judah seine ursprüngliche Meinung, der Embryo werde erst, nachdem er menschliche Form angenommen hat, beseelt, zugunsten der Auffassung des Antoninus fallen lässt, der zufolge er schon bei der Empfängnis beseelt wird.¹²⁶ Für die Statusbestimmung des Embryos im Judentum ist diese Geschichte allerdings ebenso folgenlos geblieben wie die oben genannten Legenden und Anekdoten.¹²⁷

    Ein Indikator dafür, welcher Status dem Ungeborenen im biblisch-jüdischen Denken zukommt, ist die Regel, dass die Sabbatgesetze¹²⁸ außer Kraft zu setzen sind, sobald zu befürchten ist, dass deren Befolgung Leib und Leben eines Menschen in Gefahr bringen könnte.¹²⁹ Dass diese Regel auch gilt, wenn das Leben eines Ungeborenen in Gefahr ist, wird zwar weder in der Bibel noch im Talmud expliziert, wohl aber von Rabbinern des Mittelalters und der Gegenwart¹³⁰ – was als Ausdruck dafür gewertet wird, dass das Ungeborene bereits in den „Halbschatten des Personseins" tritt.¹³¹

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