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Neurobiologische Orientierungshilfe
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eBook555 Seiten5 Stunden

Neurobiologische Orientierungshilfe

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Über dieses E-Book

Christoph von Campenhausen (*1936) beschäftigte sich beruflich mit der Neurobiologie von Tieren und Menschen. Er studierte an den Universitäten Tübingen, Heidelberg, Kiel und Göttingen, promovierte 1963 in Tübingen mit einer im Max-Planck-Institut für Biologische Kybernetik angefertigten Arbeit über einen lichtempfindlichen Muskel. Danach Research Fellow am California Institute of Technology in Pasadena/California/USA (1963-1965), Habilitation für Zoologie (1969) und Wiss. Rat u. Prof (1971) an der Universität in Köln, von 1972 bis 2004 Professor für Zoologie (Fachrichtung: Neurobiologie) an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz.  Arbeitsgebiete: Psychophysik, Sinnes- und Verhaltensphysiologie bei Tieren und Menschen, insbesondere Farbensehen und Orientierungsleistungen. Mitglied des Leitungskreises für das Naturwissenschaftlich-Philosophische Kolloquium der Universität Mainz, diverse kirchliche Ehrenämter.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum4. Sept. 2017
ISBN9783744847681
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    Buchvorschau

    Neurobiologische Orientierungshilfe - Christoph von Campenhausen

    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort

    Vom Einfluss der Neurobiologie auf das menschliche Selbstverständnis

    Menschen, Tiere und Maschinen

    Neurobiologie im Zwielicht

    Irrlehren und Ausblick

    Leib und Seele

    Materialien zu Leib und Seele

    Leib und Seele als Problem der Wissenschaft

    2.a Die Qualia und die Naturwissenschaft

    2.b Psychophysische Beziehungen als Übersetzungsproblem

    Zerlegung des psychophysischen Problems

    Früher vermutete Erkenntnisgrenzen beim Leib-Seele-Problem

    4.a Methoden begrenzen die Forschungsergebnisse

    4.b Exkurs über die weltanschaulichen Voraussetzungen des Leib-Seele-Problems bei Emil Du Bois-Reymond

    4.c Irrungen und Wirrungen

    Reduktionismus als Irrlehre

    5.a Reduktionismus als Vorwurf und als Arbeitsprogramm

    5.b Die phänomenologische Begründung des Reduktionismus-Vorwurfs

    Philosophische Theorien zum Leib-Seele-Problem

    6.a Vorbemerkung

    6.b Drei Leib-Seele-Theorien

    6.c Was kann man von einem Vergleich der Theorien lernen?

    Der Zusammenhang von Leib und Seele vorgeführt am Beispiel des Farbensehens

    Psychophysik des Farbensehens im Überblick

    1.a Naturwissenschaftliche Aspekte

    1.b Philosophische Probleme des Farbensehens

    Die subjektive Farbenwelt: Das Ästhetische Farbsystem

    Objektive Aspekte des Farbensehens

    3.a Körperfarben und die Farben des Lichtes

    3.b Der Wahrnehmungsvorgang für Farben im Überblick

    3.c Die Trichromatische Theorie des Farbensehens

    3.d Das Physiologische Farbsystem

    3.e Beweis für die formale Übereinstimmung des Physiologischen mit dem Ästhetischen Farbsystem

    Körperfarben und Farbkonstanz

    4.a Die Körperfarben, das Himmelslicht und das Problem der Farbkonstanz

    4.b Der Beitrag der chromatischen Adaptation zur Farbkonstanzleistung

    4.c Helligkeitskonstanz

    4.d Die Retinextheorie für die Farbkonstanzleistung

    4.e Licht, Schatten und die parallele Informationsverarbeitung im Auge und Gehirn

    Warum können wir Farben sehen?

    Bilanz des Gewinns vom Farbensehen für das Verstehen von Leib und Seele

    6.a Warum der Umweg durch das Farbensehen?

    6.b Psychophysische Zusammenhänge sind nicht in jeder Richtung durchsichtig

    6.c Repetitorium zum Erkenntnisgewinn durch das Farbensehen

    Vorsicht! Farben verführen zu befremdlichen Theorien

    Über die Weiterentwicklung der Wahrnehmungsfähigkeiten

    Biologische Begründung der persönlichen Individualität

    Zielbestimmung für dieses Kapitel

    Das Innere Umweltmodell (IUM)

    2.a Zur Einführung: Das IUM der blinden mexikanischen Höhlenfische

    2.b Umgebung, Umwelt und die Idee des Inneres Umweltmodells (IUM)

    Kulturelle Aspekte des IUMs

    3.a Zusätzliche Information, die das IUM zur Verfügung stellt

    3.b „Erlernt oder angeboren" ist eine falsche Alternative. Die Sprache als Beispiel

    Das Innere Umweltmodell (IUM) als Modell der Wirklichkeit

    4.a Die subjektive und objektive Seite des IUMs

    4.b Emanzipation zum eigenständigen Verhalten

    4.c Modell und Wirklichkeit

    4.d Das menschliche Selbstverständnis und das Innere Umweltmodell (IUM)

    Die Zeit im Inneren Umweltmodell (IUM) und in der Außenwelt

    Das Innere Umweltmodell (IUM) als Ursprung von intuitivem und rationalem Verhalten

    6.a Intuition und Rationalität

    6.b Die perspektivische Täuschung der divergierenden Sonnenstrahlen

    6.c Die Kalt/Warm-Täuschung des Drei-Schalen-Versuchs

    6.d Intellektuelle Fehleinschätzungen

    6.e Die Weisheit der Intuition

    Die menschliche Person

    7.a Zusammenführung von Mitteilungen dieses Kapitels

    7.b Menschen sind von Natur aus individuell verschieden: körperlich und geistig.

    Neurobiologische Grundlagen zum Person-Sein

    8.a Lernen und Gedächtnis.

    8.b Motivationen, Emotionen, Stimmungen

    8.c Einzelheiten zur Neurobiologie des Inneren Umweltmodells (IUM)

    Wissenschaft und Religion

    Lösbare und unlösbare Probleme

    Wissen, Glaube, Weltanschauung

    Die äußere Wirklichkeit, das Innere Umweltmodell (IUM) und die Weltanschauungen

    3.a Anpassung der IUMe an die Wirklichkeit

    3.b Probleme mit der Vergänglichkeit der Weltanschauungen

    Das Retortenbaby als Beispiel für die Geschichte eines Konflikts zwischen Wissenschaft und Weltanschauung

    Religion

    5.a Naturwissenschaft und Religion

    5.b Außenansichten der Religionen

    5.c Innenansicht der Religion

    5.d Anmerkungen zur Natürlichkeit der Religionen

    5.e Konstruktive und destruktive Religionskritik

    5.f Verhaltensbeobachtungen im Blick auf Religion

    5.g Religiöse Modellvorstellungen der Wirklichkeit

    Die Unterscheidung von Wissenschaft und Weltanschauung fällt oft schwer

    Das von der Neurobiologie unterwanderte religiöse Selbstverständnis

    „Die Erziehung des Menschengeschlechts"

    8.a Eigene und fremde Glaubensvorstellungen

    8.b Zielvorstellungen und Nebenwirkungen

    8.c Einige Beobachtungen zum friedlichen Sozialverhalten

    8.d Anmerkungen zu Krieg und Frieden. Rotes Kreuz

    Folgerungen für die persönliche Einstellung zur eigenen und zu fremden Religionen

    9.a Bündelung von naturgegebenen Voraussetzungen der Religionen

    9.b Wie soll man sich bei religiösen Auseinandersetzungen verhalten?

    Menschen, Macht und die höheren Werte

    Anmerkungen zur persönlichen religiösen Lebenspraxis

    Weitere biologische Einzelheiten zum besseren Verständnis der Menschen

    Den Einzug naturwissenschaftlicher Vorstellungen in das menschliche Selbstverständnis kann man nicht aufhalten

    Gedanken über den Tod

    Gedanken über das Leben

    3.a Was ist Leben?

    3.b Anmerkungen zur umgangssprachlichen Bedeutung des Wortes „Leben"

    3.c Komplexität der molekularbiologischen Lebensvorgänge

    3.d Zufall und Notwendigkeit

    3.e Zusammenfassung: Leben, ein dynamischer Ordnungszustand der Materie

    Evolutionstheorie

    4.a Darwinismus und Schöpfungsglaube

    Wahrheit und Lüge

    Literaturverzeichnis

    Personen- und Sachverzeichnis

    Personenverzeichnis

    Sachverzeichnis

    Vorwort

    „Kein Ding sieht so aus, wie es ist. Am wenigsten der Mensch."¹

    Mit diesen Sätzen leitete Wilhelm Busch seine kurze Autobiographie ein. Viele Menschen glauben, sie seien Experten, wenn schon nicht für das Wissen der ganzen Menschheit, so doch für ihr eigenes Selbstverständnis. Tatsächlich wissen die Menschen erstaunlich wenig über sich. Sie haben sich nicht selbst erfunden. Darum gibt es für Menschen weder Konstruktionspläne noch Bedienungsanleitungen. Aber die Wissenschaft hilft weiter. Die Biologie lehrt, dass die Menschen nicht alle gleich sind. Man kann ihnen nicht ansehen, was in ihnen steckt und was noch aus ihnen werden könnte. Außerdem entwickeln sie sich immer weiter. Darum ist jeder Mensch physisch und psychisch eine unverwechselbare Person. Das Interesse am eigenen Körper, den menschlichen Verhaltensweisen und den kulturellen Errungenschaften und nicht zuletzt an der Begründung des persönlichen Selbstverständnisses ist groß. Darum denken Menschen viel über sich selbst nach und entwickeln weltanschauliche Vorstellungen über Ursprung und Ziel sowie Sinn und Zweck ihres Daseins.

    Es gibt viele natur- und geisteswissenschaftliche Disziplinen, die sich mit der Erforschung der Menschen befassen, und demensprechend auch viele Fachleute mit Spezialkenntnissen. Trotz des gemeinsamen Forschungsgegenstandes fällt es aber gerade den Fachleuten schwer, einander zu verstehen. Sie errichten lieber unüberwindbare Erkenntnis-Grenzen zwischen ihren Fachgebieten, als dass sie das Wissen erarbeiten, das nötig wäre, um zu verstehen, was die jeweils anderen Gelehrten treiben. Die Grenzen zwischen ihren Disziplinen verteidigen sie mit heiligem Ernst wie Festungsmauern.

    Den Neurobiologen geht es weniger darum, die Probleme zu lösen, mit denen sich die Menschheit schon beschäftigte, als es noch keine Neurobiologie gab, als vielmehr um die Untersuchung spezieller Zusammenhänge von mentalen Erlebnissen mit neuronalen Vorgängen im Gehirn. Mit der Aufklärung psychophysischer Beziehungen waren die Neurobiologen in Einzelfällen bereits sehr erfolgreich. Um das zu verstehen, muss man in den jeweiligen Fachgebieten auf beiden Seiten der psycho-physischen Beziehungen sachkundig sein.

    Von mentalen Vorgängen und subjektiven Befindlichkeiten wird oft mit pauschalen Argumenten behauptet, dass sie mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht aufzuklären seien, obwohl das Arbeitsprogramm der Neurobiologie gerade darin besteht, subjektiv Erlebtes auf neuronale Vorgänge zurückzuführen. Manchmal ist abfällig von „den Versprechungen der Neurobiologie" die Rede, so als ob alle Vertreter dieses Fachgebietes ihre Erkenntnis-Möglichkeiten überschätzten. Die Wahrheit über Menschen zeigt sich weniger in Prinzipien, die mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit daherkommen, als in speziellen Forschungsergebnissen, die wegen ihrer Überprüfbarkeit für alle Menschen verbindlich gelten und mit hinreichender Sachkenntnis auch zu verstehen sind. Der Einfluss von neurobiologischen Erkenntnissen dieser Art auf das menschliche Selbstverständnis wird oft unterschätzt.

    Dementsprechend werden in diesem Buch keine Probleme allgemeiner Art gelöst und es wird auch kein revolutionäres Programm entwickelt. Es werden vielmehr viele spezielle Beobachtungen und Forschungsergebnisse angesprochen, die zeigen, dass der Zusammenhang zwischen mentalen und neuronalen Vorgängen keineswegs unverstehbar ist. Die Beziehungen zwischen der real existierenden Welt und den Vorstellungen, die wir uns von ihr machen, können nur Schritt für Schritt durch viele neurobiologische Einzelerkenntnisse aufgeklärt werden. Die Ergebnisse dieses Bemühens machen sich bereits im menschlichen Selbstverständnis bemerkbar und werden in diesem Buch bis in den Bereich der Religionen verfolgt.

    Es ist vorhersehbar und wurde auch schon von einigen Lesern des Manuskripts bestätigt, dass nicht jeder alle Kapitel mit gleicher Sorgfalt lesen wird. Darum wurden in den Text außer gelegentlichen Querverweisen auch einige Redundanzen eingebaut, die dem Leser erlauben, einzelne Abschnitte zu überspringen. Schön wäre es, wenn er oder sie den Gesamtzusammenhang der mannigfaltigen Mitteilungen trotzdem nicht aus dem Auge verlieren würde.

    Der Autor dankt den bisherigen Lesern für Kritik und Ratschläge und insbesondere seiner Frau für die Geduld, mit der sie seine Monologe ertragen und mit klugen Anmerkungen ergänzt hat. Nicht zuletzt dankt er seinem langjährigen wissenschaftlichen Weggefährten Dr. Jürgen Schramme, der ihm wie schon oft zuvor bei der Herstellung der Bilder mit Rat und Tat geholfen hat.

    Mainz am 4. April 2017

    Christoph von Campenhausen


    1 Wilhelm Busch (1886). Anfang der Schrift: „Von mir über mich".

    I. Vom Einfluss der Neurobiologie auf das menschliche Selbstverständnis

    1. Menschen, Tiere und Maschinen

    Zoologen sind Glückskinder. Sie können davon ausgehen, dass sich fast alle Menschen für ihre Wissenschaft interessieren. Die einschlägigen Schriften von Aristoteles (384–322 v. Chr.) bis hin zu Brehms und Grzimeks Tierleben aus dem 19. und 20. Jahrhundert werden auf der ganzen Welt in vielen Sprachen gelesen. Im Fernsehen erzielen Tiersendungen hohe Einschaltquoten. Tiere waren für Menschen schon immer wichtig – als gefährliche Feinde, als mögliche Beute und seit einigen Jahrtausenden auch als gezähmte Nutztiere. Zu Hunden, Pferden und anderen Haustieren entwickeln Menschen freundschaftliche Beziehungen. Sie sprechen mit ihnen wie mit kleinen Kindern. Sie beobachten hingebungsvoll ihre artspezifischen Besonderheiten und lassen sich auch gerne darüber belehren. Dass es Unterschiede zwischen Menschen und Tieren gibt, bestreitet niemand. Unterschiede schließen aber Gemeinsamkeiten nicht aus.

    Auf die lächerliche Ähnlichkeit von Affen und Menschen muss man niemanden aufmerksam machen. Das sehen Kinder im Zoo schon von alleine. Bereits Aristoteles fand gute Gründe dafür, den Menschen in das System der Tiere einzuordnen. Spätere Gelehrte konnten die Richtigkeit dieser Entscheidung immer nur bestätigen. Heute kann man die genetische Verwandtschaft durch Untersuchung der Erbinformation studieren, die bei allen Lebewesen, die man kennt, in Nukleinsäure-Molekülen verschlüsselt ist. Was Menschen mit anderen Lebewesen gemeinsam haben, kann man mit naturwissenschaftlichen Methoden erforschen.

    Was die Menschen von den anderen Lebewesen unterscheidet, beruht auf Überlegungen anderer Art. Immer schon wird den Menschen eine Sonderstellung in der Natur zugeschrieben. Als Begründung werden in der Regel ihre geistigen Fähigkeiten angeführt. Prägend ist aber auch das nicht weiter hinterfragte überlieferte kulturelle Selbstverständnis der Menschen. Die Anfänge kann man bis in älteste Schöpfungsmythen der Menschheit zurückverfolgen. In der Bibel wird der Mensch als Gottes Ebenbild gedeutet.² Damit wird seine Sonderstellung in der Natur begründet. Daraus folgt u. a., dass man Menschen nicht töten darf.³ In abendländischen Kulturen sind die meisten Menschen von ihrer singulären Einzigartigkeit in so hohem Maße überzeugt, dass ihnen alles, was Menschen mit Tieren verbindet, unwichtig zu sein scheint. In dieser geistigen Tradition gelten Vergleiche von Mensch und Tier als wenig aufschlussreich und schon eher als Angriff auf die Menschenwürde. Die wissenschaftlichen Fächer, die diese kulturelle Einstellung pflegen oder wenigstens begünstigen, werden oft unter der Sammelbezeichnung Geisteswissenschaften⁴ zusammengefasst.

    Dass Tiere und Menschen manches gemeinsam haben und sich trotzdem in anderer Hinsicht unterscheiden, ist eigentlich nicht schwer zu verstehen. Trotzdem wollen manche Denker unbedingt eine klar definierte Grenze zwischen Tier und Mensch ziehen. Davon erhoffen sie sich Argumente für die Sonderstellung der Menschen in der Welt sowie für eine angemessene Regelung ihres Umgangs mit Tieren, den Tierschutz oder die Frage nach Tierrechten in Analogie zu Menschenrechten. Auch Männer und Frauen haben vieles gemeinsam, obwohl sie genetisch, morphologisch und in ihrem Verhalten mehr oder weniger verschieden sind, so dass die subjektive und die rechtliche Zuordnung manchmal zum Problem wird. Leider kann man die Genderprobleme und übrigens auch den Rassismus und den Sexismus nicht aus der Welt schaffen, indem man entweder die real existierenden Unterschiede oder die Gemeinsamkeiten leugnet.

    Um Klarheit zu schaffen, befragt man gern die Wissenschaft. Aber von dort kommt bis jetzt kaum Hilfe. Es gibt vielmehr zwei entgegengesetzte akademische Ansichten, eine zoologische, in der die biologischen Gemeinsamkeiten von Tieren und Menschen den Vorrang vor den Unterschieden genießen, und eine abendländisch-kulturelle, nach der die prinzipielle Verschiedenheit allen Gemeinsamkeiten vorgeordnet ist. Eine weiterführende Sicht auf das Tier-Mensch-Verhältnis ist erstrebenswert. Die Verständigung zwischen den Vertretern der Natur- und Geisteswissenschaften ist allerdings erfahrungsgemäß schwierig. Jede wissenschaftliche Disziplin beansprucht für sich die Deutungshoheit in grundsätzlichen Angelegenheiten. Man sollte aber die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich neue Ansätze für einen interdisziplinären Gedankenaustausch finden lassen, die mehr Klarheit in die Beziehung zwischen Mensch und Tier bringen. Dazu will diese hoffentlich allgemeinverständliche Abhandlung einen Beitrag leisten.

    Die Menschen haben sich immer schon für die Zusammenhänge und Unterschiede von Mensch und Tier interessiert. So wurde beispielsweise die Darstellung menschlicher Charaktere in der Gestalt von Tieren zu einer hohen Kunst entwickelt. Man denke nur an die Fabeln des Äsop (um 600 vor Christus), von Jean de la Fontaine (1621–1695) oder an die mittelalterlichen Geschichten von Reineke Fuchs, die Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) nachdichtete. In diesen menschlichen Tiergeschichten kommen die verbindenden und trennenden Eigentümlichkeiten von Menschen und Tieren gleichermaßen zum Vorschein. Auch die bildende Kunst kennt Mischwesen aus Menschen und Tieren wie die Sphinxe, Kentauren oder Meerjungfrauen mit Fischschwanz. Bewusstsein und Geist wurden immer schon nicht nur den Menschen zuerkannt, sondern auch bei Tieren vermutet. Poeten und Tierfreunde reden deshalb unwidersprochen von Angst, Freude und Schmerz der Tiere wie auch von ihren Befindlichkeiten wie Hunger und Durst, Mutterliebe oder Bewusstsein.

    Heute benutzen auch die Verhaltensforscher diese menschliche Terminologie. Sie wissen, dass man am Seelenleben anderer Lebewesen nicht unmittelbar teilnehmen kann. Der subjektive Lebensbereich ist bekanntlich eine individuelle Privatangelegenheit, jedenfalls von außen nicht einfach einsehbar. Wenn man sich vorstellen will, wie anderen zumute ist, was sie denken und fühlen, muss man noch immer von den eigenen subjektiven Erlebnissen auf die der anderen schließen. Das gilt für die Mitmenschen, für Tiere und sogar für Maschinen. Es gibt bekanntlich lernende Automaten mit Informationsspeichern und der Fähigkeit, Entscheidungen zu fällen. Auch bei diesen Geräten ist die innere Informationsverarbeitung von außen nicht erkennbar. Darum können Schach-Computer ihre menschlichen Gegner überlisten und schlagen. So gibt es auch zwischen Lebewesen und Maschinen nicht nur Unterschiede, sondern auch Gemeinsamkeiten.

    Wenn man die Unterschiede zwischen Maschinen und Menschen suchen möchte, sollte man nicht bei den molekularen Vorgängen in den lebenden Zellen anfangen. Diese kann man nämlich von unbelebten Prozessen nicht unterscheiden. Die Herstellung einer künstlichen Zelle mit Eigenschaften, die man von natürlichen Zellen kennt, wäre beim heutigen Stand der Forschung ein experimentelles Kunststück, aber nicht unmöglich. Unter dem Stichwort „Synthetische Biologie" wird darüber diskutiert. Es gibt bereits viele erfolgreiche von der Natur kopierte molekulare Maschinen und genetisch veränderte Lebewesen, die dem Menschen dienen, z. B. bei der Herstellung bestimmter Chemikalien. Weil ihre Herstellung viel Geld kostete, möchte man die Eigentumsrechte an ihnen schützen. Ob man Lebewesen patentieren darf, ist allerdings umstritten.

    Zur Bestimmung der Unterschiede von Maschinen und Menschen muss man nach anderen Ansätzen suchen. Von Maschinen kennt man für gewöhnlich einen Konstruktionsplan und den Zweck, für den sie gebaut wurden. Weil somit Sinn und Zweck von Maschinen normalerweise bekannt sind, kann man prüfen, ob sie die vorgesehenen Aufgaben dem Zweck entsprechend erfüllen. Je nach Ergebnis kann man sie benutzen, reparieren oder mitleidlos entsorgen. Dass das beim Umgang mit Menschen nicht üblich ist, darf als bekannt vorausgesetzt werden. Es lässt sich aber auch begründen.

    Tatsächlich kennt man von den Menschen und allen anderen Lebewesen weder den Ursprung noch Sinn und Zweck ihrer Existenz. Das muss man nicht als Mangel auffassen. Es ist vielmehr die Voraussetzung dafür, dass Menschen sich selbst über den Sinn ihres Daseins Gedanken machen und dass sie ihre vorfindlichen Begabungen weiterentwickeln können. Man wüsste selbstverständlich gerne, worin Sinn und Zweck des Menschseins bestehen. Die Frage danach ist aber letztlich unsinnig, weil sie zu keiner erschöpfenden Antwort führen kann. Niemand kann genau wissen, warum und wozu es Menschen gibt. Weil eine vollständige Instruktion dazu nicht zu haben ist, sollte man für teilweise Einsichten dankbar sein. Sie sind besser als gar nichts und reichen trotz ihrer Unvollständigkeit bereits für wichtige Folgerungen aus. Offensichtlich kann und soll man Menschen nicht instrumentalisieren, d. h. man soll Menschen nicht wie Maschinen verwenden und ausbeuten, so als ob man genau wüsste, warum und wofür sie existieren. Selbst wenn die Geschichte der Natur von Anfang an lückenlos bekannt wäre, wüsste man kaum genug, um Sinn und Zweck des Lebens zu begründen. Aber man kann sich darüber Gedanken machen.

    Frühe Deutungen für den Sinn des Lebens findet man in den überlieferten Schöpfungsmythen. Die Götter werden darin nach menschlichem Vorbild wie Konstrukteure beschrieben, die wissen, wie, warum und wofür sie die Menschen und Tiere geschaffen haben. So kann man in der biblischen Schöpfungsgeschichte lesen, wie Gott den Menschen nach Art der Töpfer aus vorfindlichem Material hergestellt, ihm das Leben eingeblasen und ihn in seine Aufgaben eingewiesen hat.⁶ In dieser biblischen Geschichte wird der Mensch als Gottes Ebenbild geschaffen.⁷ Aber Gott wird auch nach menschlichem Vorbild dargestellt. Nach Homer konstruierte der griechische Gott Hephaistos schöne Mädchen „mit Verstand im Herzen und sprechender Stimme mit „Gaben der Götter.⁸ Nach mythischen Vorstellungen dieser Art muss man ein Gott sein, um das zu können.

    Trotzdem ist der von Menschen geschaffene Homunculus seit der Antike ein unerschöpfliches und geheimnisvolles Thema der schönen Literatur. Auf dem Homunculus liegt kein Segen. In Goethes Faust II wird er von dem streberhaften Gelehrten Wagner in einem Glaskolben hergestellt, aber nicht vollendet. In der Science-Fiction-Literatur tritt der Roboter als unheimlicher und gefährlicher Konkurrent des Menschen auf. In Mary Shelleys Roman „Frankenstein" rächt sich das missratene Geschöpf an seinem menschlichen Konstrukteur und vernichtet dann selbst sein eigenes trostloses Leben.⁹ In Treguboffs großem Roman über die Russische Revolution „Der fahle Reiter"¹⁰ verwendet der geheimnisvolle Helfer eines Gelehrten für dessen Homunculus lebende Spermien. Hier geht das Experiment gut aus. Das entstehende Mädchen erschreckt anfangs seine Mitmenschen durch seine schnelle Entwicklung, aber es leidet, weil es nicht weiß, ob es ein normaler Mensch ist. Es entwickelt sich dann aber zur kämpferischen Heldin und zuletzt zur liebenden Frau eines vorzüglichen Mannes. Die durch Zufall aus Froscheiern erzeugten Monster in einer Erzählung von Bulgakow¹¹ und die mit Hilfe von Saurier-DNA aus blutsaugenden Insekten im Bernstein wiederhergestellten Bewohner

    des Jurassic Park¹² sind beängstigende Visionen. Man kann nicht wissen, ob die Menschheit die „Geister, die sie rief", immer auch wird beherrschen können.

    Zusammenfassung: Es gibt Gemeinsamkeiten zwischen Menschen, Tieren und sogar Maschinen. Diese kann man mit naturwissenschaftlichen Methoden erforschen. Gemeinsamkeiten schließen aber Unterschiede nicht aus.

    2. Neurobiologie im Zwielicht

    Zunächst soll noch einmal auf ein psychologisches Hindernis für die Verständigung zwischen Vertretern verschiedener Fachgebiete hingewiesen werden. Niemand kann sich in allen wissenschaftlichen Disziplinen auskennen. Jedes Fach hat seine eigene gewachsene Kultur und Terminologie. In jeder Disziplin ist die Beherrschung spezieller Methoden notwendig. Das alles hat Konsequenzen für den interdisziplinären Gedankenaustausch. Es ist viel einfacher, die Kenntnisse, die man im Erfahrungsbereich des eigenen Faches erworben hat, nachdrücklich und mit Überzeugung vorzutragen, als sich auf die komplizierten Tatbestände anderer wissenschaftlicher Disziplinen einzulassen. Wissenschaftler tendieren dazu, ihre Fachgebiete mit grimmiger Rücksichtslosigkeit gegen die Einmischung von Vertretern anderer Disziplinen zu verteidigen. Sie benutzen lieber die Zahnbürste ihrer Kollegen als deren Terminologie. Im Grenzbereich zwischen den Fachgebieten entstehen Gerüchte und Feindbilder, die oft in der Form von Glaubensbekenntnissen vorgetragen und in der Manier religiöser Debatten bekämpft werden. Insbesondere gegen die Neurobiologie sind erstaunliche Vorurteile weit verbreitet. Davon soll hier kurz die Rede sein.

    Der Ehrgeiz der Neurobiologen, mehr zu versprechen, als ihr Fach leisten kann, wird oft überschätzt. Der Einfluss ihrer Wissenschaft auf das menschliche Selbstverständnis wird dagegen nur zu oft unterschätzt. Oft wird gefragt, ob die Naturwissenschaften und damit auch die Neurobiologie überhaupt etwas zum menschlichen Selbstverständnis beitragen könne. Die Frage scheint berechtigt zu sein, denn von den messbaren Vorgängen im Gehirn, für die sich die Neurobiologen interessieren, merken die Menschen normalerweise nichts. Wenn man wie die Steinzeitmenschen nichts über Neurobiologie weiß, ist tatsächlich nicht leicht einzusehen, warum sinnes- und neurophysiologische Prozesse für das Verständnis von Wahrnehmen, Denken und Fühlen und vielleicht sogar für das Bewusstsein aufschlussreich sein sollten.

    Darum sollen zunächst einige einfache zoologische Einsichten zur Natur des Menschen in Erinnerung gerufen werden. Erst auf der Grundlage dieser unstrittigen Erkenntnisse wird die Frage angegangen, warum die Neurobiologie für das menschliche Selbstverständnis von Bedeutung ist. Dieses Kapitel liefert nur einen Einstieg in die Biologie des Menschen. Man muss mehr wissen, um etwas davon zu verstehen. Spätere Kapitel liefern noch viele hilfreiche Einzelerkenntnisse zum Verständnis der biologischen Grundlagen des Mensch-Seins. Pauschale Behauptungen über die menschliche Natur helfen nicht weiter. Es kommt auf die Einsicht in überprüfbare Tatbestände an.

    Es ist kein Geheimnis mehr, dass Menschen vielzellige Lebewesen sind. Bereits dieser einfache Befund ist höchst aufschlussreich. Jede einzelne Zelle zeigt während der Embryonalentwicklung wie auch im erwachsenen Zustand des Menschen verschiedene Verhaltensweisen.¹³ Die Zellen können sich teilen und im Körper umherwandern, sie können sich miteinander verbinden und wieder voneinander lösen, sie bilden zusammen Organe oder bleiben einzeln und beweglich wie Amöben oder Geißeltierchen. Die Körperzellen kooperieren auf verschiedene Weise miteinander. Ihre Genaktivitäten und die Umsätze in ihrem Stoff- und Energiehaushalt können auf Signale, die von außen in den Organismus gelangen, reagieren. Aber nicht nur die einzelnen Zellen, auch der ganze Mensch kann sein Verhalten ändern und seine physischen und geistigen Fähigkeiten weiterentwickeln. Was die vielen Zellen des Gehirns dabei tun, gelangt nicht ins menschliche Bewusstsein. Darum versteht der Mensch weder sich selbst noch sein Verhalten vollständig. Aber er kann erforschen, was im Nervensystem beim Wahrnehmen, Denken und Fühlen vorgeht.

    Die wissenschaftlichen Fächer, die mit dem menschlichen Verhalten befasst sind, werden heute meistens unter der Bezeichnung Neurobiologie zusammengefasst. Dazu gehört die Hirn- und Verhaltensforschung mit der Sinnesphysiologie, Neuroanatomie und -physiologie und nicht zuletzt die Molekularbiologie. Die Grenzen zu weiteren Disziplinen wie Psychologie, Soziologie, Ökologie u. a. sind fließend. Die Neurobiologie entwickelt sich immer schneller. Niemand übersieht mehr alle ihre Teildisziplinen. Damit werden auch die Vorstellungen, die Menschen über sich selbst entwickeln, immer unübersichtlicher, jedenfalls nicht einfacher. Was kann man von der Neurobiologie über den Menschen lernen?

    Was ein Mensch sei, kann man, wenn überhaupt, nur historisch erklären. Aber auch damit kommt man nicht beliebig weit. Alle bekannt gewordenen Lebewesen stammen von lebenden Vorfahren ab. Die Anfänge verlieren sich im Dunkel der früheren Naturgeschichte. Von den Menschen kennt man nur ihr gegenwärtiges Übergangsstadium zwischen Vergangenheit und Zukunft, gewissermaßen einen mittleren zeitlichen Ausschnitt¹⁴ ihrer Natur- und Geistesgeschichte. Wir wissen nur sehr lückenhaft, warum und wozu sich die Menschen so entwickelt haben, wie sie heute sind. Noch weniger weiß man darüber, was Menschen künftig noch lernen, wissen und tun werden. Der gegenwärtige neurobiologische Forschungsstand macht keine Hoffnung auf ein umfassendes und noch weniger auf ein endgültiges Menschenbild.

    Wie weit die neurobiologischen Forschungsmöglichkeiten reichen, ist umstritten. Dass es zu dieser Frage Meinungsverschiedenheiten gibt, ist nicht überraschend. Das kann kaum anders sein, weil sowohl die subjektive Erlebniswelt als auch Bau und Funktion der Sinnesorgane und des Gehirns bekanntlich einigermaßen kompliziert sind. Man muss, wie gesagt, viel wissen, um sich eine angemessene Vorstellung von Leib und Seele zu machen und über ihr Zusammenwirken nachzudenken. Einfache Erklärungen sind selbstverständlich immer erstrebenswert. Für komplexe Tatbestände gibt es aber meistens keine einfachen Erklärungen. Theoretische Überlegungen mit begrifflicher Klarheit und logische Argumente können die Kenntnis neurobiologischer Tatbestände leider nicht ersetzen. Wer an allgemeingültigen Lehrsätzen Halt sucht, wird in der Neurobiologie immer öfter enttäuscht. Spezielle Fachkenntnisse sind unverzichtbar.

    Weil nicht klar ist, wohin die neurobiologische Forschung noch führen wird, ängstigen sich manche Menschen vor ihren möglicherweise unerwünschten Folgen. Sie fürchten, dass in der Neurobiologie das spezifisch Menschliche aus dem Blick gerate und darum verloren gehe. Deshalb könne, so argumentieren sie, das Ergebnis dieser Forschung nicht der besser verstandene Mensch sein. Die Neurobiologie sei auf ein maschinenartiges Menschenbild gegründet, das unvereinbar sei mit Freiheit und Menschenwürde. Nur Roboter, nicht aber Menschen seien den Gesetzen der Naturwissenschaften unterworfen. Gehirn und Geist seien qualitativ verschieden. Das eine sei durch das andere nicht erklärbar. Auch deshalb könne der Geist nicht als Folge physiologischer Vorgänge im Gehirn beschrieben werden. Neurobiologen, die trotzdem versuchten, das Bewusstsein, Denken und Fühlen auf Gesetze der Naturwissenschaft zurückzuführen, seien die letzten Deterministen unter den Wissenschaftlern. Für den freien Willen sei in derartigen Vorstellungen kein Platz. Vor der Weltanschauung der Neurobiologen müsse gewarnt werden.¹⁵

    Die Neurobiologen werden durch die hier angesprochenen Problemanzeigen kaum beunruhigt. Neurobiologen verstehen meistens gar nicht, weshalb ihre Wissenschaft bei Außenstehenden Beunruhigung und derartige Zwangsvorstellungen hervorruft. Sie interessieren sich in der Regel mehr für spezielle und überprüfbare Tatbestände als für weiter reichende, aber spekulative Folgerungen. Die gerade aufgezählten Unterstellungen sind mit den Mitteln der Neurobiologie nicht begründbar. Das kann man leider nicht mit einem einzelnen durchschlagenden Argument beweisen. Man muss sich die Mühe machen, die Einzelheiten der neurobiologischen Forschungsergebnisse zu studieren, um zu verstehen, warum sie für die Menschen wichtig sind. Die Fülle des in diesem Buch Gebotenen sollte ausreichen, um die Bedenken gegen die Neurobiologie zu zerstreuen. Den Einfluss der Neurobiologie auf das menschliche Selbstverständnis sollte man aber auch nicht unterschätzen. Dazu wird in den nächsten Kapiteln noch mehr mitgeteilt werden.

    3. Irrlehren und Ausblick

    Man darf den Ausführungen dieser Schrift eine aufklärerische Absicht unterstellen. Zu den Errungenschaften der geistesgeschichtlichen Aufklärungsepoche gehörte einstmals nicht nur das Mündigwerden der Menschen in weltanschaulicher Hinsicht, sondern auch die Anerkennung des Wertes wissenschaftlicher Fakten. Letzteres zeigte sich am Aufkommen der Enzyklopädien in der Epoche der Aufklärung. In diesen reallexikalischen Kompendien werden keine weltanschaulichen Prinzipien allgemeiner Art gefeiert, sondern vielmehr der Wert spezieller Dinge und Tatbestände, die man vorfinden und überprüfen kann. Beides ist unverzichtbar, Weltanschauung und Fakten-Wissen. Menschen müssen in ihrem Leben sowohl den Fakten, soweit sie überprüfbar sind, als auch ihren Weltanschauungen vertrauen. Davon wird im Kapitel V. noch ausführlich die Rede sein.

    Leider passen die Entdeckungen der Wissenschaft nicht immer zu den überlieferten religiösen oder profanen Weltanschauungen. Man muss deshalb immer mit Konflikten zwischen Wissenschaft und Weltanschauung rechnen. Manchmal vergehen Jahrhunderte, bis die Widersprüche zwischen gewohnten Vorstellungen und neu entdeckten Fakten überwunden werden können. In der Zwischenzeit gibt es zu manchen Problemen kontroverse Ansichten und fortgesetzte Streitereien. Man wünscht sich den Abbau der Spannungen zwischen gegensätzlichen Überzeugungen. Aber die Menschen lösen sich nicht leicht von den Vorstellungen, die sie früher einmal für richtig und wichtig gehalten haben. Das soll mit einigen Beispielen illustriert werden. Ein Anliegen dieser Abhandlung ist die Harmonisierung überkommener Weltanschauungen mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen für das gegenwärtige Stadium der Auseinandersetzung. Die Beispiele werden in der Reihenfolge zunehmender Aktualität vorgeführt.

    1. Beispiel: Friedrich Nietzsche (1844-1900) schreibt in seinen „Unzeitgemäße[n] Betrachtungen"¹⁶: „Betrachte die Herde, die an dir vorüberweidet: sie weiß nicht, was Gestern und Heute ist, springt umher, frißt, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschentums sich vor dem Tier brüstet und nach seinem Glück eifersüchtig hinblickt Der Mensch fragt wohl manchmal das Tier: warum redest du mir nicht von deinem Glück und siehst mich nur an? Das Tier will auch antworten und sagen: das kommt daher, dass ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergaß es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so dass sich der Mensch darob verwunderte."

    Was hier im Stile einer Fabel anmutig erzählt wird, ist die Einführung in den zweiten Teil des Buches mit dem Untertitel: „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben". Es geht um Kritik an der Geschichtswissenschaft, genauer: Kritik an dem, was Historiker nach Nietzsches Vorstellung absichtsvoll in ihren Beschreibungen der Vergangenheit zusammenreimen. Sie tun es nach Nietzsche, um die Menschen für die Gegenwart und Zukunft auf bestimmte Traditionen zu verpflichten. Die Möglichkeit zur freien Gestaltung der Zukunft werde dadurch eingeschränkt. Es ist nicht zu leugnen, dass alles, was man tut und plant, durch das historische Wissen angebahnt und in jedem Fall beeinflusst wird. Ob und inwieweit die Historiker die Gestaltungsfreiheit der Menschen einengen, ist eine interessante Frage. Die Geschichte, so kann man die Kritik zusammenfassen, ist viel zu wichtig, um sie den Historikern zu überlassen.

    Aber war es notwendig, zur Illustration dieser Gedanken eine Herde von Tieren ohne Gedächtnis zu erfinden? Das widerspricht doch jeder Erfahrung! Hat etwa Nietzsche nie erlebt, wie ein Hund seinen Herrn begrüßt? Schon den heimkehrenden Odysseus soll zuerst sein sterbender Hund erkannt haben.¹⁷ Bei Konrad Lorenz¹⁸ kann man lesen, wie Graugänse noch nach Jahren ihre inzwischen eingegangenen Familienbindungen sofort lösen, wenn sie wieder mit ihren früheren Lebenspartnern zusammengebracht werden. Bei Vögeln gibt es Gesangstraditionen, die durch Lernen von Generation zu Generation weitergegeben werden.¹⁹ Die Beispiele für Gedächtnisleistungen und Traditionen bei Tieren lassen sich vermehren. Die Gegenüberstellung des glücklichen Tieres ohne und des darauf neidischen Menschen mit Erinnerungsvermögen ist blanker Unsinn. Trotzdem eröffnete ein Kirchenhistoriker meiner Universität seine Einführung in die Geschichtswissenschaft, wie er mir versicherte, immer mit dem zitierten Nietzsche-Text. Man sollte in seine gedanklichen Vorstellungen nicht so verliebt sein, dass man versäumt, sie richtig zu begründen.

    Das 2. Beispiel betrifft verschiedene Ordnungssysteme des Wissens. Die Menschen wissen viel, aber nur zu oft bringen sie auch viel durcheinander, weil ihnen ein brauchbares Ordnungssystem fehlt. Das Periodische System der Elemente ist eine allgemein akzeptierte systematische Ordnung des Wissens über die chemischen Elemente. Es ist unverzichtbar für Physiker und Chemiker. Andere Ordnungssysteme sind noch strittig. Zur Entwicklung eines brauchbaren Ordnungssystems braucht man die richtigen Unterscheidungskriterien und unanfechtbare Regeln für die Zuordnung der Befunde. Wenn man keine systematische Ordnung zustande bringt, gibt es vielleicht keine, oder man hat noch keine geeigneten Regeln entdeckt. Das soll mit einigen Beispielen illustriert werden.

    Viele Zeitgenossen glauben, dass Farben von jedem Menschen anders wahrgenommen werden. Darum könne es, so folgern sie, auch kein allgemeingültiges und für alle Menschen verbindliches Farbsystem geben. Diese Behauptung wurde mit dem Ästhetischen Farbsystem widerlegt. Dieses vollständige System aller möglichen Farben beruht auf dem subjektiven Urteil von Menschen über die mehr oder weniger auffällige Verschiedenheit der Farben. Es ist eine subjektive Farbenordnung und trotzdem für alle farbentüchtigen Menschen gültig. Dass das Ästhetische Farbsystem darüber hinaus formal mit dem Physiologischen Farbsystem (PCS) übereinstimmt, beweist, dass es einen gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen dem mentalen Urteilsvermögen und messbaren neurobiologischen Prozessen geben muss. Mit anderen Worten: Leib und Seele haben mit dem Farbsystem etwas gemeinsam. Wer das leugnet, ist vielleicht ein großer Künstler oder ein sonst wie kluger Mensch, aber er weiß über die Farben nicht hinreichend Bescheid. Ihm sei das Kapitel III. dieses Buches wärmstens empfohlen.

    Seit den Anfängen der Vergleichenden Sprachwissenschaft im 18. Jahrhundert reden die Gelehrten über die Verwandtschaft zwischen verschiedenen Sprachen, z. B. über

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