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Völkerrecht: Geschichte und Grundlagen. Mit Seitenblicken auf die Schweiz
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eBook272 Seiten2 Stunden

Völkerrecht: Geschichte und Grundlagen. Mit Seitenblicken auf die Schweiz

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Über dieses E-Book

Von der frühen Neuzeit über die Völkerbundära bis in die Gegenwart: Im ersten Teil dieses Einführungswerks wird die Entwicklung und Geschichte des Völkerrechts beleuchtet. Der zweite Teil befasst sich mit dem Völkerrecht als Rechtsordnung und vermittelt die wichtigsten Grundlagen. Interessante Beispiele erläutern das Wissenswerte zum Thema in handlicher, leicht lesbarer Form. Auch die Rolle der Schweiz wird in diesem Zusammenhang näher betrachtet. Damit leistet Oliver Diggelmann einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Debatte über die sogenannte Selbstbestimmungsinitiative, die den Vorrang des Verfassungsrechts vor dem Völkerrecht in der Schweizer Verfassung verankern möchte.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Sept. 2018
ISBN9783039199402
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    Buchvorschau

    Völkerrecht - Oliver Diggelmann

    Inhalt

    Unbehagen

    Teil 1

    Entstehung und Entwicklung

    Frühe Neuzeit

    Herauswachsen aus mittelalterlichen Strukturen

    Souveränität, Mächtegleichgewicht, Kolonisierung

    Seitenblick: Alte Eidgenossenschaft

    19. Jahrhundert und Erster Weltkrieg

    Stabilisierung durch Völkerrecht

    Wachstum und internationale Organisationen

    Seitenblick: Schweiz im 19. Jahrhundert

    Völkerbundära und Zweiter Weltkrieg

    Kollektivierung der Friedensfrage

    Konfliktvermeidung und Kriegsächtung

    Seitenblick: Schweiz in der Völkerbundära

    Ära der Vereinten Nationen

    Kalter Krieg und Entkolonisierung

    Globalisierung und neue Gewaltformen

    Seitenblick: Schweiz in der UNO-Ära

    Teil 2

    Völkerrecht als Rechtsordnung

    Unschärfen beim Rechtsbegriff

    Weshalb «Geltungstheorien»?

    Unschärfen und Völkerrechtsquellen

    Völkerrechtstheorie: Suche nach Halt

    Teilnehmer des Völkerrechts

    Subjektstatus und Legitimität

    Subjektivität einzelner internationaler Akteure

    Schweiz als Heimat von Völkerrechtsteilnehmern

    Durchsetzung

    Zentralisierung und Selbsthilfe

    Gegenmassnahmen und Repressalienverbote

    Schweiz und Selbsthilfe

    Völkerrecht und innerstaatliches Recht

    Anspruchsvolle «Verzahnungsfrage»

    Schweiz: Flexibler Monismus

    Zur Suche nach Antworten

    Was bleibt?

    Anhang

    Unbehagen

    Was bedeutet es für das Völkerrecht, dass Russland im März 2014 die Krim annektiert hat? Wie ist es mit unseren Vorstellungen einer Rechtsordnung zu vereinbaren, dass die USA nach der Bombardierung Belgrads im Kosovokrieg 1999 zwar an China Schadenersatz für die Beschädigung seiner Botschaft zahlten, nicht aber an andere Länder? Was sagt ein solcher Sachverhalt darüber aus, wie das Völkerrecht «funktioniert»? Was bedeutet es für dieses weiter, dass in Syrien seit 2011 ein Bürgerkrieg in Gang ist, dessen Opferzahl die halbe Million erreicht hat? Wie ist damit zu vereinbaren, dass die UNO sich am Weltgipfel der Staats- und Regierungschefs 2005 zu einem Konzept bekannt hat, das sich «Responsibility to Protect» nennt und den besseren Schutz des Einzelnen zum Zweck hat?

    Wenn Völkerrechtlerinnen und Völkerrechtlern solche Fragen gestellt werden, gehen sie selten darauf ein. Manchmal wird auf den Ausnahmecharakter der Situation verwiesen und immer wieder pauschal auf den besonderen Charakter des Völkerrechts. Sehr oft werden im Gegenzug dessen Leistungen aufgezählt: die Fortschritte im Bereich Menschenrechte seit dem Zweiten Weltkrieg auf völkerrechtlicher Ebene; die Mechanismen der Konfliktentschärfung und -prävention, die auf globaler und regionaler Ebene entwickelt wurden, etwa im Rahmen des UNO-Peacekeeping; die Schaffung weltweiter und regionaler Regelwerke der Handelsderegulierung, insbesondere die WTO und die EU, die Freihandel ermöglichen und durch ökonomische Verflechtung indirekt ebenfalls zum Frieden beitragen. All dies ist richtig. Trotzdem befriedigen solche Antworten nicht. Ein Unbehagen bleibt.

    Das Prekäre des Völkerrechts wird zwar nicht geleugnet, doch es berührt das Selbstverständnis der Disziplin kaum mehr. Dass Laien manchmal den Eindruck gewinnen, das Völkerrecht sei eine Farce, etwa wenn Russland die Annexion der Krim mit dem Argument der Selbstverteidigung rechtfertigt, ficht die Disziplin nicht an. Lieber spricht man über die Erfolge und das, was einigermassen funktioniert. Dabei ist gerade der Blick von aussen besonders sensibel für das Prekäre. Wir wissen das aus unserem persönlichen Leben: Wer kennt sie etwa nicht, die Paare, die ihre Zweisamkeit zelebrieren, während der Dazugekommene sofort merkt, dass hier etwas brüchig ist?

    Dieses Buch will das Unbehagen ernst nehmen. Es will dabei helfen, das Völkerrecht in seinen Besonderheiten besser zu verstehen, und deshalb jenen Fragen Aufmerksamkeit schenken, die oftmals kurz gestreift, aber kaum je vertieft werden, obschon sie für das Verständnis der Materie grundlegend sind. Im ersten Teil spreche ich von der Entstehung und Entwicklung des Völkerrechts. Viele heutige Institutionen sind nur verständlich, wenn man um die Hintergründe ihrer Entstehung weiss. Im zweiten Teil geht es um den «Charakter» des Völkerrechts als Rechtsordnung, der doch zuweilen prekär erscheint, und das Zusammenspiel mit dem innerstaatlichen Recht. Tragend ist die Idee, dass die paradoxen Ungleichzeitigkeiten des Völkerrechts – das Nebeneinander von «archaischen» Mustern und Hochentwickeltem – eine Annäherung aus einer historischen Perspektive verlangen.

    Natürlich spiegeln Abhandlungen zum Völkerrecht immer die Weltsicht des Verfassers. Selbstverständlich nicht in dem Sinne, dass alles «bloss Ansichtssache» wäre – da sind harte Fakten, an denen es kein Vorbeikommen gibt: etwa die tiefen Spuren, die der Aufstieg der Menschenrechte im Völkerrecht hinterlassen hat. Dennoch entscheidet jeder Völkerrechtsautor über die Tonalität, in der er über sein Gebiet schreibt, und darüber, wie er Entwicklungen und Ereignisse deutet. Weglassen ist dabei Teil des Deutens. Die Spielräume sind, man muss es deutlich sagen, gross. Jede Völkerrechtlerin und jeder Völkerrechtler hat eine bestimmte Vorstellung davon, wie die Beziehungen zwischen den Gemeinwesen «funktionieren», ob und wie weit echte Kooperation möglich ist und welche Rolle das Recht spielt oder spielen soll.

    Wer über das Völkerrecht schreibt, orientiert sich ex- oder implizit an Kernideen zweier Grundmodelle internationaler Weltbilder. Einem sogenannt «realistischen» Grundmodell steht ein «idealistisches» gegenüber, das teilweise auch als «liberales» bezeichnet wird. Ich werde die Begriffe in Anführungszeichen benutzen, da ihre umgangssprachliche Bedeutung zu falschen Vorstellungen verführt – eine «realistische» Theorie etwa kann durchaus weltfremd sein, eine «idealistische» nahe am tatsächlichen Geschehen. In ihrem Kern wurden die beiden Konzeptionen bereits in der Antike vom griechischen Geschichtsschreiber Thukydides (454–396 v. Chr.) formuliert. Der Chronist des Peloponnesischen Kriegs zwischen Sparta und Athen benannte sie in einer berühmten Passage seines «Melierdialogs». «Realisten» sehen in den Beziehungen zwischen Gemeinwesen objektive Machtgesetze am Werk. Gemeinsames Recht hat nur so weit einen Platz, als Interessen übereinstimmen. «Idealisten» dagegen betonen die Möglichkeiten einer Verbesserung der Weltordnung durch Kooperation und gemeinsame Institutionen. Sie setzen auf die Vernunftbegabung des Menschen, Solidarität, Entwicklungsfähigkeit und Fortschritt. Sie weisen dem Recht einen bedeutenderen Platz zu als «Realisten». Bekannte «Realisten» sind etwa die Politikwissenschaftler Hans Morgenthau (1904–1980) und Henry Kissinger (geb. 1923), Aussenminister der USA von 1973 bis 1977. Immanuel Kant (1724–1804), der die Schaffung eines Völkerbundes bereits andachte, gilt als Vertreter des «idealistischen» Grundmodells. Seine Ideen haben etwa die amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson (1856–1924) und Franklin D. Roosevelt (1882–1945) beeinflusst, die bei der Schaffung von Völkerbund und UNO Schlüsselrollen spielten. Es versteht sich, dass sich die meisten Völkerrechtlerinnen und Völkerrechtler an einer der zahlreichen Varianten des «idealistischen» internationalen Weltbilds orientieren. Das Recht spielt in dieser Theorierichtung eine bedeutendere, stabilere Rolle als bei den «Realisten». Es gibt aber auch Völkerrechtsautoren, die sich an «realistischen» Grundideen orientieren. Von ihnen wird ebenfalls zu reden sein.

    Dieses Buch ist für interessierte Laien und für Studierende geschrieben. Es enthält viele Beispiele und rekapituliert wichtige Fälle, die man kennen sollte. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auch darauf, was zu einem Thema aus schweizerischer Sicht zu sagen ist. Das Buch will dazu beitragen, die Hintergründe der in der Schweiz heftig geführten Debatte um das Völkerrecht besser auszuleuchten. Es will zu einer Versachlichung dieser Diskussion beitragen, die in beiden Lagern zu sehr in den Kategorien «gut» gegen «böse» geführt wird. Diese Versachlichung kann meiner Meinung nach nur erreicht werden, wenn das Völkerrecht in seinen Besonderheiten und seiner Bedeutung für die Zukunft besser verstanden wird. Der Weg dorthin führt über die Vergangenheit. Die Geschichte des Völkerrechts erzählt uns, weshalb es heute ist, wie es ist. Um der Lesbarkeit willen habe ich auf ausführliches Bibliografieren verzichtet und mich auf ausgewählte Literaturhinweise beschränkt.

    Entstehung und Entwicklung Teil 1

    Das Völkerrecht – verstanden als Recht zwischen relativ unabhängigen politischen Einheiten – hat viele Anfänge. Im Süden Mesopotamiens etwa gab es Mitte des 3. Jahrtausends vor Christus rechtlich geprägte Beziehungen zwischen verschiedenen Stadtstaaten, die man als früheres Völkerrecht bezeichnen kann. Sumerische Städte kooperierten, um sich gemeinsam gegen das Volk Akkad im Norden Mesopotamiens zu verteidigen, schlossen etwa Schiedsverträge und Nichtangriffspakte.¹ Auch im chinesischen Kulturraum gab es weit vor der christlichen Zeitrechnung völkerrechtliche Beziehungen in diesem weit verstandenen Sinn, das heisst als rechtlich bindend empfundene Abmachungen zwischen relativ unabhängigen Reichen.

    Wenn man den Begriff des Völkerrechts genügend weit fasst, kennt fast jeder Kulturraum ein frühes Völkerrecht. Der in diesem Buch verwendete Begriff ist enger. Als Völkerrecht wird hier das in der frühen Neuzeit ab dem 15. Jahrhundert in Europa entstandene Recht zwischen, vor allem, modernen Territorialstaaten verstanden, von dem das heutige Völkerrecht direkt abstammt.² Zwischen dem damals entstandenen und dem heutigen Völkerrecht besteht trotz aller Brüche im Prinzip Kontinuität. Im 16. Jahrhundert – genauer: 1576 – wurde das Konzept der Souveränität erfunden. Es wird in der UNO-Charta, mit allen Relativierungen zwar, im ersten ihrer Grundsätze erwähnt. Sie spricht in Artikel 2 Ziffer 1 vom Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten. Der Staatstheoretiker Jean Bodin erfand das Konzept als Antwort auf die Konfessionskriege seiner Zeit, verheerende Kriege, und es veränderte in der Folge das politische und rechtliche Denken grundlegend. Ein vertieftes Verständnis der Hintergründe, Leistungen und Schwächen des Souveränitätsbegriffs ist für das Verständnis des heutigen Völkerrechts fundamental. Natürlich bedeutet der Begriff heute etwas anderes als damals. Er hat in den Ohren vieler etwas Antiquiertes und Rückständiges, und das nicht ohne Grund. Dennoch verdient Hervorhebung, dass man viele Institutionen des heutigen Völkerrechts nur einordnen, ihre Leistungen und Schwächen erst verstehen kann, wenn man sie vor dem Hintergrund ihrer Verwobenheit mit der frühneuzeitlich-europäischen Politikgeschichte betrachtet.

    Wer die Geschichte des heutigen Völkerrechts in Europa beginnen lässt, muss mit Fragen oder gar Vorwürfen rechnen. Wäre es nicht wichtig und richtig, würden die höflichen unter den kritischen Stimmen fragen, die vielen Anfänge in den Blick zu nehmen, eine multikulturelle Perspektive zu wählen, da das heutige Völkerrecht doch ein Recht aller Kulturen und Erdteile ist?³ Ist die hier gewählte Perspektive nicht – einmal mehr – Ausdruck der Selbstbezogen- und Borniertheit europäischer Autoren, die die anderen Erdteile mit Ausnahme des nordamerikanischen als Mitläufer betrachten? Die in solchen Fragen formulierte Kritik wäre gerechtfertigt, wenn ich behaupten würde, es habe nur in Europa so etwas wie ein frühes Völkerrecht gegeben und die anderen Anfänge seien völkerrechtshistorisch unbedeutend oder uninteressant. Das liegt mir fern. Ich beginne in der europäischen frühen Neuzeit, weil sowohl die Leistungsfähigkeit als auch die Defizite vieler Institutionen des heutigen Völkerrechts erst hervortreten, wenn man die ihnen zugrunde liegenden politischen Ideen und ihre Hintergründe kennt.⁴ Der Grundsatz gegenseitiger Nichteinmischung der Staaten in innere Angelegenheiten, der in Artikel 2 Ziffer 7 der UNO-Charta aufgeführt ist und als «Interventionsverbot» bezeichnet wird, steht genealogisch in direktem Zusammenhang mit den konfessionellen Bürgerkriegen des 16. und 17. Jahrhunderts. Ein wesentlicher Treiber dieser Bürgerkriege waren Interventionen zugunsten der eigenen Konfessionsangehörigen. Man stand ihnen bei, etwa wenn sie Minderheiten in anderen Staaten waren. Das aus der Souveränitätsidee abgeleitete Interventionsverbot trug unter solchen Vorzeichen zum Frieden bei, weil es Einmischungen Grenzen setzte. Es wird heute oft kritisiert, durchaus mit vielen guten Gründen. Dies geschieht vor allem, weil es etwa von Diktatoren und Autokraten zur Abwehr von Kritik an Menschenrechtsverletzungen verwendet wird. Das Wissen um die Herkunft des Prinzips lässt uns aber wichtige Fragen stellen, etwa die sehr heikle, wann Einmischungen im Ergebnis mehr Schaden anrichten als helfen. Wie weit sind Erfahrungen, die zur Entstehung des Interventionsverbots geführt haben, für die Gegenwart von Belang? Ist in dem Prinzip mehr historische Erfahrung eingelagert, als sein heute schlechter Klang vermuten lässt? Eine rein menschenrechtlich-zeitgenössische Optik, die zwar wichtig, aber nicht die einzige ist, nähert sich diesem schwierigen Fragenkomplex zu eindimensional an.

    Frühe Neuzeit

    Suche nach konfessionell neutralem Recht: Friedensvertrag von Münster 1648.

    Herauswachsen aus mittelalterlichen Strukturen

    Viele Darstellungen des Völkerrechts lassen seine Geschichte 1648 mit den Westfälischen Friedensverträgen von Münster und Osnabrück beginnen. Diese beendeten den Dreissigjährigen Krieg, einen militärischen Flächenbrand, der wegen seiner Dimensionen in der damaligen Zeit manchmal mit den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts verglichen wird. 1648 hatte sich eine Reihe moderner Territorialstaaten ausgebildet und etabliert, sodass man etwas grosszügig von einem «modernen Staatensystem» sprechen konnte, das oft als Westfälisches Staatensystem bezeichnet wird.⁵ Die bereits entstandenen Staaten hatten begonnen, sich als souverän zu charakterisieren. Viele Gemeinwesen waren allerdings erst auf dem Weg zu Souveränität oder scheiterten unterwegs. Man wollte als souverän anerkannt sein. Die Etikette galt als Ausdruck dafür, dass man sich in der sich neu formierenden internationalen Ordnung etabliert hatte.

    Das militärische Patt nach den Konfessionskriegen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts hatte zur Folge, dass man ein konfessionell neutrales Recht für rechtliche Beziehungen zwischen europäischen Herrschaftsträgern brauchte. Die christliche Ordnung – es gab nun in der Westchristenheit zwei: die katholische und die protestantische – konnte nicht mehr die Klammer bilden. So entstand, vereinfacht gesagt, das moderne säkulare Völkerrecht. In den Friedensverträgen von Münster und Osnabrück schrieb man das Prinzip der religiösen Toleranz zwischen den Konfessionen fest. Das war ein wichtiger und kaum zu überschätzender Schritt in Richtung säkulare zwischenstaatliche Rechtsordnung. Die Vorstellung allerdings, dass das Völkerrecht am Ende des Dreissigjährigen Kriegs «geboren» wurde, ist verzerrend oder gar irreführend. Es gab keinen scharfen Bruch mit dem Dagewesenen, obschon dies im völkerrechtlichen Schrifttum manchmal so dargestellt wird. Passender ist das Bild des Herauswachsens des säkularen Völkerrechts aus langsam immer schwächer werdenden spätmittelalterlichen Strukturen des christlichen Universalreichs.

    Das Herauswachsen erfolgte in manchmal kleineren und manchmal grösseren Schritten und wurde durch den Dreissigjährigen Krieg zweifellos beschleunigt. Auch nach 1648 waren aber nur ein Teil der internationalen Akteure moderne Staaten, ein anderer leitete seinen Status weiterhin aus dem Lehenssystem ab. Der Friedensvertrag von Osnabrück nennt als Parteien verschiedene Könige und Königinnen, «Häuser» wie etwa Österreich, Kurfürsten und Fürsten, Reichsstände unter Einschluss der Reichsritterschaft und schliesslich Territorialstaaten wie die Hansestädte, die Niederlande sowie die «Kantone der Schweiz». Es war ein vielfältiges Neben- und teilweise auch Übereinander von Herrschaftsträgern. Auch im späten 17. und selbst im 18. Jahrhundert überlagerten sich neue säkular-völkerrechtliche und alte reichs-, thronfolge- und lehensrechtliche Strukturen. Das Alte wich dem Neuen, aber nur langsam, und das Herauswachsen des Völkerrechts aus den mittelalterlichen Strukturen dauerte mehrere Jahrhunderte. Im Grunde begann der Prozess spätestens im 15. Jahrhundert und endete erst mit dem Untergang des Heiligen Reiches Deutscher Nation im Jahr 1806. In diesem Jahr wurde die Kaiserkrone des christlichen Universalreichs endgültig niedergelegt.

    Wandel des Völkerrechtsverständnisses

    Das Völkerrechtsverständnis veränderte sich im Lauf dieser mehr als drei Jahrhunderte grundlegend. Die Veränderungen lassen sich als Verschiebung von einem Denken in Kategorien eines «Binnenrechts des christlichen Universalreichs» zu einem Denken in Kategorien eines säkularen Völkerrechts der westchristlichen Staatenwelt beschreiben. Es war eine Entwicklung von einem theologischen zu einem säkularen Rechtsdenken. Im christlichen Universalreich war die Frage nach den Regeln für den Verkehr zwischen Herrschaftsträgern eine theologische Frage. Das Recht stellte man sich als Ordnung für die ganze Welt vor, als Einheit, die in der Krönung des Kaisers durch den Papst mit Primat des Papstes symbolischen Ausdruck fand. Zu diesem Denken gehörte auch eine Grundunterscheidung zwischen Christen und der nichtchristlichen Menschheit. Päpstliche Edikte schufen auf der Grundlage dieser Unterscheidung in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein erstes spätmittelalterliches Kolonialvölkerrecht, das spätere Entwicklungen in diesem Bereich stark vorzeichnete. Folgenreich war unter diesen Edikten insbesondere die Bulle «Inter Caetera» von 1493, die die überseeisch-nichtchristliche Welt in eine westlich-spanische und eine östlich-portugiesische Hemisphäre unterteilte. Sie sprach indigenen Völkern implizit die Fähigkeit zu eigener Rechtsträgerschaft und Eigentumsrechten im Besonderen ab.

    Zentral für die Säkularisierung im Allgemeinen und auch des Rechtsdenkens war die dauerhafte Schwächung des Papsttums, die bereits im frühen 14. Jahrhundert begann. Parallel zum Abstieg des Papsttums vollzog sich die Herausbildung der Territorialstaaten, die das Feudalsystem in kleinen Schritten verdrängten.⁸ Aus ursprünglich an die Person gebundenen Lehen wurden in einem langen Prozess zusammenhängende Herrschaftsterritorien, Vorformen

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