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Der Abdruck des Todes: Ein Bretagne-Krimi
Der Abdruck des Todes: Ein Bretagne-Krimi
Der Abdruck des Todes: Ein Bretagne-Krimi
eBook281 Seiten3 Stunden

Der Abdruck des Todes: Ein Bretagne-Krimi

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Über dieses E-Book

Zerklüftete Felsen, einsame Dörfer und mystische Legenden

Adjudant-chef Robert Le Clech freut sich auf einen romantischen Sommer mit seiner Bekannten Barbara, für die er heimliche Gefühle hegt. Doch aus der trauten Zweisamkeit wird nichts. Stattdessen wird er zu einem grausigen Leichenfund gerufen: Mitten auf einem Artischockenfeld wurde ein abgetrennter Frauenarm entdeckt. Verstreute Abdrucke des Arms und anderer Körperteile, die in einer traditionellen japanischen Kunsttechnik angefertigt wurden, geben den Ermittlern Rätsel auf. Dass Zeugen eine Unheil bringende Sagengestalt in einem Boot gesehen haben wollen, verkompliziert die Arbeit der Gendarmerie noch zusätzlich. Als ein Au-pair-Mädchen verschwindet, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Hat der Mörder sein nächstes Opfer bereits im Visier?
SpracheDeutsch
HerausgeberGrafit Verlag
Erscheinungsdatum27. Mai 2021
ISBN9783894257675
Der Abdruck des Todes: Ein Bretagne-Krimi

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    Buchvorschau

    Der Abdruck des Todes - Eva Bernier

    Umschlag

    Eva Bernier

    Der Abdruck des Todes

    Ein Bretagne-Krimi

    Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

    in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    © 2021 by GRAFIT in der Emons Verlag GmbH

    Cäcilienstraße 48, D-50667 Köln

    Internet: http://www.grafit.de

    E-Mail: info@grafit.de

    Alle Rechte vorbehalten

    Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design

    unter Verwendung von Adobestock/pogana22

    Lektorat: Nadine Buranaseda, typo18, Bornheim

    E-Book-Produktion: CPI books GmbH, Leck

    ISBN 978-3-89425-767-5

    Eva Bernier ist Französin, aufgewachsen in Paris. Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Japanologie. In Kooperation mit ihrem Mann, dem Autor und Fernsehregisseur Georg Bense, hat sie zahlreiche Dokumentationen für den Saarländischen Rundfunk, das ZDF und arte produziert. Ab 1992 war sie als Redakteurin in der Fernsehkulturabteilung des SR tätig. Heute lebt sie abwechselnd in Saarbrücken und im bretonischen Pleubian.

    Für Georg

    1

    Es war Flut. Eine strahlende Sonne beherrschte den wolkenlosen Himmel über dem Ärmelkanal. Von Südwest kommend, kräuselte eine leichte Brise die von tiefblau bis silbrig changierende Oberfläche des Meeres rund um die Halbinsel. Unablässig trieb die Strömung das Wasser in die breite Mündung des Jaudy hinein. Der höchste Tidenstand war fast erreicht, überall an den Ufern trafen kurze, stetige Wellen auf die steinige Küste. Auch an den Granitquadern am Ende der alten Mole von Port Béni leckten sie in gleichmäßigem Rhythmus. Im offenen Hafenbecken wiegten sich an runden weißen Bojen festgemachte Barken und Boote.

    Es war Mittag, Anfang Juli. Nach der allmorgendlichen Betriebsamkeit lag der kleine Küstenort wieder verlassen da. Touristen und Spaziergänger waren unterwegs zu ihrem Mittagstisch, die einheimischen Hummer- und Krabbenfischer würden erst mit der nächsten Flut spätabends zurückkehren. Selbst der Spielplatz auf dem Rasenstück hinter den Parkplätzen war verwaist. Die Kinderstimmen, die den halben Morgen die Luft zum Schwingen gebracht hatten, waren verstummt.

    Ganz still war es allerdings nicht. Oberhalb des Hafens, auf einem von der Straße durch eine Reihe zerzauster Eiben getrennten Feld wurde geerntet. Im Schritttempo bewegte sich ein Traktor laut brummend durch die akkuraten Artischockenreihen, gefolgt von zwei Erntehelfern, einem Mann und einer Frau. Mit geübten Handgriffen schnitten sie die kinderkopfgroßen Artischockenknospen von den Stielen und warfen sie auf den Anhänger hinter dem Traktor. Die Arbeit ging nur langsam voran, sie hatten noch gut ein Drittel des Felds vor sich.

    Am äußersten Ende der Mole, oberhalb der Steintreppe, die zum Wasser hinunterführte, saß eine Möwe und beobachtete die Fluten. Von der offenen See, weit hinter dem Leuchtfeuer, das nachts die Einfahrt in die Flussmündung anzeigte, näherte sich gemächlich eine höhere Welle, schwappte heran, klatschte im zweiten Anlauf hoch an die Kaimauer, bespritzte den Granit. Mit einem kurzen Schrei erhob sich die Möwe in die Luft und flog einen eleganten Bogen durch den blauseidenen Himmel Richtung Land. Flugs hatte sie Hafen und Mole überquert und kreiste dann in einer ruhigen Aufwärtsspirale einige Male über das Feld. Minutenlang ließ sie sich mit ausgebreiteten Flügeln von der Thermik höher tragen. Nichts schien die Leichtigkeit und Mühelosigkeit ihres Gleitflugs stören zu können.

    Plötzlich unterbrach sie das Segeln, um steil zu sinken und nach ein paar wenigen abrupten Richtungswechseln in einer Furche zwischen zwei Artischockenpflanzen einzutauchen. Sie war nicht mehr zu sehen, als wäre sie von der Erde verschluckt worden.

    Vom anderen Ende des Felds kroch der Traktor mit seinem Anhänger langsam näher. Der Fahrer, ein junger Mann mit Sturmfrisur und braun gebrannten, nur knapp von einem verschwitzten T-Shirt bedeckten Oberarmen, fuhr geradeaus weiter, ohne vom Kurs abzuweichen. Von seinem hohen Sitz aus überblickte er das regelmäßige Muster, das die Artischocken auf der dunklen Erde hinterließen. Während seine Hände das große Steuerrad fest umklammert hielten, achtete er darauf, die Maschine samt Anhänger genau zwischen den Pflanzenreihen zu lenken.

    Mittlerweile hatte der Trecker die Stelle, wo die Möwe zwischen den Artischocken verschwunden war, beinahe erreicht. Kurz bevor es so weit war, erhob sich der Vogel mit einem jähen Flügelschlag vom Boden, streifte das linke Vorderrad und flog quer über das Feld zurück zum Wasser, in seinem Schnabel einen abgerissenen Fetzen von dem, was in der Furche lag. Unter den ausladenden stacheligen Blättern einer besonders großen Artischocke zeichnete sich der Rest seiner Beute undeutlich ab.

    Der Fahrer hatte die Möwe beobachtet und blickte nun von oben direkt in die Erdfalte hinein. Er sah etwas Längliches, schmutzig Graues. Es ähnelte einem abgestorbenen Ast, dessen krallenartiges Ende wie eine freigelegte Wurzel aus dem Ackerboden herausragte. Das ließ ihn erschrocken auf die Bremse treten. Mit einem Ruck stoppten Traktor und Anhänger mitten auf dem Feld. Der junge Mann stierte nach unten. Er wollte seinen Augen nicht trauen, schaffte es aber auch nicht, sich abzuwenden. Sein Magen reagierte schneller als sein Verstand. Der Brechreiz ließ ihm keine Wahl, er musste sich sofort zur Seite drehen und übergeben.

    Auf die wiederholten Zurufe seiner beiden Helfer, die verwundert hinter dem Anhänger stehen geblieben waren, konnte er zunächst nicht antworten. Erst als sie nach vorne kamen, deutete er auf die Stelle.

    Im Schattenspiel der langen Artischockenblätter lag ein abgehackter menschlicher Arm. Die feingliedrige Hand mit den leicht gekrümmten Fingern zeigte nach oben, der Unterarm war noch intakt, während am Ende des Oberarms, da, wo er von der Schulter getrennt worden war, ein Fetzen menschlichen Fleischs vom Knochen hing, blassrosa. Der ganze Arm war von einer anthrazitgrauen Farbe bedeckt, die Haut darunter erschien wie marmoriert.

    Die Frau stieß einen Schrei aus, drehte sich um und rannte davon. Beide Männer schauten fassungslos auf den Fund, unfähig, sich zu rühren. Nach einer Weile gelang es dem älteren, den Blick von der Furche loszureißen.

    Mit atemloser Stimme wandte er sich an den jungen Mann, der immer noch wie erstarrt auf dem Fahrersitz des Traktors saß. »Ruf die Gendarmen an, schnell!«

    ***

    Adjudant-chef Robert Le Clech parkte seine Harley-Davidson neben den Hortensienbüschen entlang der engen Einfahrt zum Haus von Barbara Leport. Die vor wenigen Jahren renovierte Bauernkate lag geschützt oberhalb einer flachen Bucht an der Mündung des Flusses Jaudy. Von dort hatte man einen weiten Blick, im Osten bis zum offenen Meer. Er war bereits ein paarmal da gewesen, um sich nach ihr zu erkundigen, das lag inzwischen mehrere Wochen, sogar Monate zurück. Es waren kurze Besuche gewesen, bei denen es lediglich eine Tasse Kaffee gegeben hatte. Die Unterhaltungen drehten sich hauptsächlich um ihre Genesung von einem Knöchelbruch und um den bevorstehenden Sven-Krug-Mordprozess, bei dem die Ehefrau des Ermordeten, ihre einstige Freundin, als Hauptangeklagte vor Gericht stehen würde.

    Le Clech wäre es durchaus recht gewesen, wenn es außer dem Mordfall, der sie beide seit dessen Aufklärung trotz oder vielleicht wegen der belastenden Umstände miteinander verband, andere Gesprächsthemen gegeben hätte. Die Ereignisse, bei denen sie sich kennengelernt hatten, waren höchst unerfreulich gewesen und er merkte, dass es ihr noch nicht gelungen war, sich völlig davon zu erholen. Aber er hatte sich vorgenommen, ihren Schmerz zu respektieren, und versuchte nicht, ihre Zurückhaltung zu überwinden.

    Obwohl er sie mit »Barbara« anredete – so waren sie einander zu Lebzeiten von ihrem verstorbenen Ehemann vorgestellt worden –, siezten sie sich immer noch. Dabei verhielt sie sich ihm gegenüber durchaus freundlich, jedoch leicht distanziert, als wären seine Besuche vor allem seiner Dienstpflicht geschuldet. Das frustrierte ihn ein wenig, denn er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sie ihn als Freund und nicht als Amtsperson behandelte. Eigentlich wünschte er sich mehr – emotionale Nähe. Daran war allerdings vorerst nicht zu denken, er musste sich in Geduld üben.

    Nachdem ihr Knöchel verheilt war, nutzte Barbara Leport ihre wiedergewonnene Bewegungsfreiheit dazu, nach Deutschland zu reisen, angeblich um dort Familienangelegenheiten zu regeln. Le Clech vermutete, dass sie Abstand von den schrecklichen Ereignissen nehmen wollte, in die sie hineingezogen worden war. Da sich ihre Abwesenheit über Monate hingezogen hatte, fürchtete er, dass sie nicht mehr in die Bretagne zurückkehren würde und dabei war, den Rückzug in ihr Heimatland vorzubereiten.

    Schließlich hatte Barbara Leport in den letzten Jahren hautnah zwei tragische Todesfälle erleben müssen. Wenige Monate nach ihrer gemeinsamen Übersiedlung in die Bretagne kam Yann, ihr Mann, beim Fischen auf See um, dann, keine drei Jahre später, versuchte Elsa Krug, ihre bis dato beste Freundin aus Studientagen, auf deren Besuch sie sich gefreut hatte, nicht nur, ihren Ehemann Sven umzubringen, sondern verhielt sich anschließend auch kalt und skrupellos ihr gegenüber, ließ sie hilflos und verletzt zurück.

    Nach solchen Erlebnissen wäre es nicht verwunderlich, wenn Barbara die Halbinsel von Lézardrieux, Le Clechs Revier, fortan nicht mehr als einen für sie geeigneten Wohnort empfinden würde und woanders einen Neubeginn versuchen wollte. Daher war ihre Einladung zum Mittagessen eine freudige Überraschung für ihn gewesen. Er hoffte nur, dass es kein Abschiedsbesuch sein würde.

    Le Clech zog an der Schnur, die von einer Miniaturschiffsglocke an der Wand neben der Haustür hing.

    »Kommen Sie herein, die Tür ist nicht abgeschlossen.«

    Sie stand am Herd in der zum Wohnzimmer offenen Küche und schob gerade eine flache Auflaufform in den Ofen. Eilig streifte sie den Ofenfäustling ab und gab ihm zur Begrüßung die Hand. Ein Küsschen auf die Wange rechts und links, wie unter guten Freunden in Frankreich üblich, wäre ihm lieber gewesen, doch er schob den Gedanken beiseite.

    »Das Wetter zeigt sich von seiner besten Seite. Und laut Wetterdienst soll es die nächsten Tage so bleiben.« Dabei schaute er aus dem Küchenfenster, das die Aussicht auf den nördlichen Teil der Bucht freigab.

    Der lag im strahlenden Sonnenschein, nur die Neigung der Strandgräser und der erstarkte Wellengang zeigten, dass der Wind aufgefrischt war.

    »Ja, ich habe schon überlegt, ob ich den Tisch nicht draußen auf der Terrasse decken soll, aber der Wind ist zu unangenehm, ich glaube, wir bleiben lieber drinnen.« Sie deutete auf den langen Tisch zwischen Küche und Wohnzimmer, auf dem bereits für zwei Personen gedeckt war. »Könnten Sie die für mich aufmachen?«

    Le Clech nahm die Flasche Weißwein samt Korkenzieher entgegen. Nach der für seinen Geschmack allzu förmlichen Begrüßung fühlte er sich befangen und brauchte Ablenkung.

    Ein paar Minuten später, nachdem Wein eingeschenkt und Krabben-Avocado-Salat mit frischem Baguette serviert worden war, hatte er sich von seiner kleinen Enttäuschung so weit erholt, dass er die Frage stellen konnte, die ihn seit seiner Ankunft beschäftigte.

    »Sie waren so lange weg, ich dachte schon, Sie würden vielleicht nicht mehr zurückkehren. Haben Sie eigentlich vor, hierzubleiben?«

    Sie lächelte knapp, als hätte sie mit der Frage gerechnet. »Nun ja, nach dem, was passiert ist, musste ich für eine Weile weg. Und ich hatte tatsächlich einiges in Deutschland zu erledigen. Nach ein paar Wochen habe ich gemerkt, dass ich nicht dortbleiben möchte. Mir fehlte das hier!« Sie zeigte durch die halb offene Terrassentür auf den Garten.

    Hinter der niedrigen Abgrenzungsmauer öffnete sich die Landschaft zu einem breiten Panorama. Zunächst das Ufer der Bucht, ein Kiesstrand, an dem sich die Wellen brachen, dann das tiefblaue Wasser der Flussmündung, ein breiter, glänzender Streifen mit kleinen Schären, hier und da von ein paar Schaumkronen übersäht, dahinter die felsige Küstenlinie der gegenüberliegenden Seite, der Beginn des als »Rosa Granitküste« bekannten Landstrichs. Obwohl zwischen beiden Ufern beinahe zwei Kilometer lagen, schien das grüne Hügelland mit den zerstreuten weißen Ferienhäusern in der klaren Luft zum Greifen nah. Oberhalb davon erhob sich wie ein zum strahlenden Himmel deutender Zeigefinger der spitze Kirchturm von Plougrescant, der den Seeleuten als Richtpunkt für die Einfahrt in den Hafen von Tréguier diente. Ein weißes Dreiecksegel bewegte sich langsam aus der glitzernden Mündung hinaus zum offenen Meer.

    Le Clech war ihrem Blick gefolgt. Er sagte nichts, nickte nur. Für ein paar gemeinsame Sekunden versanken sie in die Betrachtung des für die Bretagne so typischen harmonischen Miteinanders von Land und Meer.

    Es dauerte eine Weile, bis das Gespräch wieder in Gang kam, aber Le Clech empfand die Pause nicht als unangenehm. Obgleich Barbara ihre Entscheidung zu bleiben noch einmal beteuerte, fragte er, ob ihr das Leben in diesem abgeschiedenen Winkel auf Dauer nicht zu eintönig sei.

    Wieder lächelte sie. »Hier kommt keine Langeweile auf. Allein das Wetter sorgt für Abwechslung. Wie heißt es so schön? In der Bretagne durchläuft das Wetter an einem Tag alle vier Jahreszeiten.«

    Sie sprachen über die Vorzüge und Nachteile des Lebens auf der Halbinsel zwischen Goëlo und Trégor. Le Clechs Anspannung löste sich endgültig und er konnte ihre Gesellschaft ohne Hintergedanken genießen.

    Mit Appetit vertilgten sie die Vorspeise, Le Clech schenkte Wein nach. Dann stand Barbara auf, um das Hauptgericht, Seebarsch mit Gemüse in Olivenöl, aus dem Ofen zu holen. Als sie die Auflaufform auf den Tisch stellte, stieg ein verführerisch aromatischer Duft in Le Clechs Nase, im selben Moment klingelte sein Handy.

    Seine Stirn kräuselte sich vor Ärger. Er hatte vergessen, das Ding abzuschalten.

    »Entschuldigung!«

    Ein Blick auf das Display zeigte ihm die Mobilnummer von Lucien Marceau, seinem Stellvertreter in der Gendarmerie von Lézardrieux. Der Anruf kam also nicht aus der zentralen Dienststelle. Da er heute offiziell freihatte, musste es wichtig sein. Mit einem unterdrückten Seufzen stand er auf und ging durch die Terrassentür nach draußen.

    Es war tatsächlich Marceau und der sonst so besonnene, stets vorschriftsmäßig handelnde Gendarm überraschte Le Clech mit einem ungebremsten Redeschwall. Marceau hatte Mühe, einen klaren Satz zu formulieren, und klang verwirrt, schien überfordert, was noch nie vorgekommen war. Erst als Le Clech ihn bat, in Ruhe noch einmal alles von vorne zu erzählen, verstand er den Grund für Marceaus Fassungslosigkeit.

    »Es ist, wie ich Ihnen gesagt habe, Chef, ich konnte es nicht glauben, deshalb bin ich selbst hingefahren. Ein abgetrennter Arm, ein einzelner menschlicher Arm auf einem Feld in der Nähe des Hafens von Port Béni!«

    »Verstanden. Haben Sie schon erste Maßnahmen eingeleitet?«

    »Im Moment sind wir nur zur zweit, ich habe schon mal abgesperrt und Verstärkung angefordert. Aber Sie sollten kommen, Chef!«

    Es klang wie ein Hilferuf. Le Clech wusste aus Erfahrung, dass es bei einem Einsatz wesentlich schlimmer war, auf einzelne Körperteile zu stoßen als auf eine ganze Leiche. Marceau war noch relativ jung und hatte im Gegensatz zu Le Clech seine bisherige Laufbahn in der beschaulichen bretonischen Provinz absolviert. Auf so etwas war er nicht vorbereitet. Le Clech blieb keine Wahl, er musste die Dinge selbst in die Hand nehmen. Er gab Marceau Anweisungen, die KTU und die Gerichtsmedizin in Saint-Brieuc anzurufen und einen Leichenhund aus Lannion kommen zu lassen, um die nähere Umgebung abzusuchen. Dann drehte er dem in seiner malerischen Vollkommenheit unveränderten Panorama widerwillig den Rücken zu und kehrte ins Haus zurück.

    Barbara stand noch neben dem Tisch.

    »Es tut mir wirklich leid«, bedauerte Le Clech. »Ich kann nicht bleiben, ich muss zu einem Einsatz.«

    Seine Stimme klang nicht halb so zerknirscht, wie er in Wahrheit war. Dabei schaute er auf den verlockend aussehenden Seebarsch, den er nicht kosten würde, und sein Frust betraf keinesfalls nur das verpasste Essen, es war zu ärgerlich, jetzt gehen zu müssen.

    Le Clechs einziger Trost war, dass er beim Abschiednehmen in Barbaras Gesicht lesen konnte, wie sehr sie über seinen plötzlichen Aufbruch enttäuscht war, obwohl sie nicht versuchte zu erfahren, was passiert war, weder eine Bemerkung machte noch eine höfliche Floskel benutzte, um die Situation zu kommentieren.

    Sie nickte und sagte resigniert: »Natürlich, ich verstehe.«

    Im Gehen drehte er sich noch einmal um. »Bei nächster Gelegenheit lade ich Sie ein, wir holen das nach, das verspreche ich.«

    Als er die Haustür hinter sich schloss, kam ihm der Gedanke, dass sie so etwas nicht zum ersten Mal erlebte, sie war mit einem Offizier der Gendarmerie verheiratet gewesen, bestimmt war auch er oft unerwartet zum Einsatz abkommandiert worden. Das erklärte ihr einsichtiges Verhalten. Sein Freund Yann hatte es gut mit ihr gehabt, denn eine Ehefrau, die nicht protestierte, wenn das Zusammensein mal wieder von der Arbeit gestört wurde, war in seinem Beruf ein seltenes Glück.

    ***

    Die Kapelle stand auf einer flachen Erhebung abseits der Landstraße, die zum Weiler von Brestan führte. Bis dorthin war es noch gut ein Kilometer, sodass die Kapelle nicht zum Ort gehörte, der aus einem halben Dutzend Häusern bestand. Der Grund für ihre Errichtung war einst eine Quelle gewesen, mitten auf einer Wiese, die inzwischen von niedrigen Büschen und Bäumen bewachsen war.

    Nach wiederholten Umbauten im Laufe der Jahrhunderte war ein recht schlichtes Gotteshaus übrig geblieben, mit einem offenen Glockenturm auf dem Dach und einer Eingangstür, die sich unter einem Rundbogen öffnete. Oberhalb davon war 1651, das Entstehungsjahr, in den Granit eingemeißelt worden. Einzig bemerkenswert war unterhalb der Kapelle ein gut erhaltenes Brunnenhäuschen, in dem das Wasser der Quelle nach wie vor aus der Erde sprudelte und über einen engen gemauerten Kanal ein quadratisches Becken speiste. In früheren Zeiten war es vom Vieh als Tränke und von Waschfrauen als Spüle genutzt worden. Jetzt, im Hochsommer, floss die Quelle nur langsam, auf dem Wasserspiegel des Beckens hatten sich grünliche Schlieren gebildet. Das trübe seichte Wasser, von der Mittagssonne erwärmt, roch leicht faulig.

    Von der Küste kommend, näherte sich auf der Straße eine Gruppe von Radfahrern der Einfriedung, die das Kapellengelände umfasste. Der Anführer, ein Mann mittleren Alters in eng anliegender schwarzer Trägerhose, hob schnell die Hand, hielt an und stieg ab.

    »Kurze Pause!«, rief er, lehnte sein Fahrrad an die niedrige Mauer, setzte den Helm ab und ging zum Brunnenhäuschen. Über die Öffnung gebeugt, ließ er Wasser über Nacken und Handgelenke fließen.

    Nachdem die Pause auf allgemeinen Wunsch auf zehn Minuten verlängert worden war, erfrischten sich die Männer einer nach dem anderen und legten sich zum Ausruhen auf die Böschung hinter der Einfassungsmauer. Allein der Anführer, von einem drängenden Bedürfnis sich zu erleichtern bewegt, verließ die Gruppe in Richtung der Bäume jenseits der Einfriedung. Er überquerte die Grasfläche vor der westlichen Mauer der Kapelle, blieb stehen, als er das Steinkreuz auf einem dreistufigen Sockel rechts davon sah, bevor seine Augen, von einer fast unmerklichen Bewegung angezogen, etwas anderes erfassten.

    Ein paar Meter zu seiner Linken, aus drei groben Granitblöcken gebaut, befand sich ein Außenaltar. Darauf lag, von einem Stein beschwert, etwas Langes, Weißes, das sich wie eine Fahne im Wind bewegte. Neugierig näherte sich der Mann und berührte das flatternde Etwas. Es fühlte sich an wie dickes Papier, war aber leicht dehnbar und geschmeidig wie Stoff. Bei genauer Betrachtung zeichneten sich darauf Striche ab, die so etwas wie ein Muster oder eine Skizze bildeten.

    Um es im Ganzen überblicken zu können, drückte er das wehende Stück mit beiden Händen auf die steinige Unterlage.

    Tatsächlich, an einem Ende war ein anthrazitgrauer Abdruck zu erkennen. Eine Handfläche mit gespreizten Fingern, daran schlossen sich das dazugehörige Handgelenk und der Unterarm an, dann der Ellenbogen, undeutlich abgebildet, und zuletzt der Oberarm, ebenfalls schemenhaft. Kurz vor der Schulter brach die Zeichnung ab, da war auch der längliche Papierbogen zu Ende.

    Was hatte das zu bedeuten? Wer hatte dieses Abbild einer menschlichen Gliedmaße auf den Altar gelegt und warum? Der Radfahrer schaute sich um. Vor dem Hintergrund sich wiegender Bäume bot die Kapelle mit dem Kreuz davor ein Bild ländlicher Ruhe und Einkehr. Abgesehen vom leisen Windhauch, der das Laub bewegte, war es still. Kein Anzeichen einer anderen Präsenz. Er

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