Paulus, Apostolat und Autorität oder Vom Lesen fremder Briefe
Von Christine Gerber
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Über dieses E-Book
Nicht selten jedoch fehlt der Paulusrezeption die Distanz, nicht nur bei Luther, der sich mit Paulus identifizierte; auch heute werden seine Anreden in Briefen gern direkt auf 'uns' bezogen. Die Studie möchte ins Gedächtnis rufen, dass wir fremde Briefe lesen, die fernen Menschen des Altertums galten und einen prämodernen Autoritätsanspruch des Paulus voraussetzen. Nur in der Wahrnehmung von Distanz und Fremdheit können wir die Paulusbriefe angemessen für die Gegenwart interpretieren.
Christine Gerber
Dr. Christine Gerber ist Professorin für Neues Testament mit dem Schwerpunkt Religions-, Literatur- und Zeitgeschichte des Urchristentums an der Humboldt-Universität zu Berlin.
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Buchvorschau
Paulus, Apostolat und Autorität oder Vom Lesen fremder Briefe - Christine Gerber
Theologische Studien
Neue Folge
herausgegeben von
Thomas Schlag, Reiner Anselm, Jörg Frey, Philipp Stoellger
Die Theologischen Studien, Neue Folge, stellen aktuelle öffentlichkeits- und gesellschaftsrelevante Themen auf dem Stand der gegenwärtigen theologischen Fachdebatte profiliert dar. Dazu nehmen führende Vertreterinnen und Vertreter der unterschiedlichen Disziplinen – von der Exegese über die Kirchengeschichte bis hin zu Systematischer und Praktischer Theologie – die Erkenntnisse ihrer Disziplin auf und beziehen sie auf eine spezifische, gegenwartsbezogene Fragestellung. Ziel ist es, einer theologisch interessierten Leserschaft auf anspruchsvollem und zugleich verständlichem Niveau den Beitrag aktueller Fachwissenschaft zur theologischen Gegenwartsdeutung vor Augen zu führen.
Theologische Studien NF 6 – 2012
Christine Gerber
Paulus, Apostolat und Autorität, oder Vom Lesen fremder Briefe
Theologischer Verlag Zürich
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Ulrich Neuenschwander-Stiftung
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.
Umschlaggestaltung: Simone Ackermann, Zürich
ISBN 978-3-290-17805-5 (Buch)
ISBN 978-3-290-17696-9 (E-Book)
|XX| Seitenzahlen des E-Books verweisen auf die gedruckte Ausgabe.
© 2012 Theologischer Verlag Zürich
www.tvz-verlag.ch
Alle Rechte vorbehalten
Den »Neutestamentlerinnen« in der deutschen Sektion der European Society of Women in Theological Research
Inhaltsverzeichnis
Titelei
Inhaltsverzeichnis
I Vom Lesen fremder Briefe – zum Thema der Studie
Wir sind nicht »wir«
Doch wer liest, wenn nicht wir?
Historisch-kontextuelle Exegese und die Rolle der Leserin
Vom Lesen fremder Briefe als solcher
II »Wie wenn ich anwesend wäre« (1Kor 5,3) – zur Bedeutung der Brieflichkeit
1. Zur Form und Topik der Paulusbriefe
2. Die wechselseitige Bedeutung von Brief und Beziehung
»Verwaist nur von Angesicht, nicht im Herzen« (1Thess 2,17)
»Seine Briefe, sagt man, sind gewichtig und stark, seine körperliche Anwesenheit schwach und seine Rede nichtswürdig« (2Kor 10,10)
3. Apostolische Autorität der Paulusbriefe?
4. Die Bedeutung der bleibenden Beziehung für den Glauben
III »Bin ich nicht Apostel?« (1Kor 9,1) – zur Bedeutung des Apostolats
1. Zur Bedeutung von apostolos
Apostolos in den authentischen Paulusbriefen
Die Begriffsverwendung durch Paulus in Bezug auf seine eigene Person
2. Apostelrecht und Unterhaltsverzicht des Paulus
Der vorbildliche Unterhaltsverzicht (1Kor 9)
Die Amme, die ihre leiblichen Kinder versorgt (1Thess 2,7)
Die Verteidigung des Unterhaltsverzichts (2Kor 11f)
3. Der Apostolat des Paulus und apostolische Sukzession
4. Der persönliche Apostolat des Paulus
IV »Ich habe euch Christus verlobt« (2Kor 11,2) – die metaphorische Inszenierung der Beziehung
1. Metaphern verstehen am Beispiel von 2Kor 11,2–4
Was ist eine Metapher?
Metaphernauslegung am Beispiel von Brautwerber Paulus (2Kor 11,2f)
Die Wirkung von Metaphern
2. Paulus in Wehen (Gal 4,19) und andere Familiengeschichten
Familienmetaphorik im 1. Thessalonicherbrief
Elternschaft und Bekehrung (1Kor 4,14f und Phlm 10)
Wiederholte Gebärarbeit: Gal 4,19 im Kontext des Galaterbriefes
Familienbande
3. Paulus als Botschafter der Versöhnung (2Kor 5,18–20) – vom Umgang mit biographischen Brüchen
Der Kontext (2Kor 5,11–17)
Der Bildspender: Gesandtschaft und Versöhnung
Die Metapher vom »versöhnten Versöhner«
Ein Bild für die Stellvertretung Christi
4. Metaphorische Beziehungsarbeit – Schlussfolgerungen
V »Werdet meine Nachahmer!« (1Kor 4,16) – Niedrigkeit und Autoritätsanspruch
1. Streit in Korinth
»Ich bin des Paulus!« – »Ich bin des Apollos« ...! (1,10–17)
Der Logos vom Kreuz (1,18–25)
Nicht Stärke oder Weisheitsworte (1,26–31; 2,1–5)
2. Paulus als Gärtner, Baumeister, Erzeuger und Vorbild
Gärtner im Garten Gottes (3,5–9.9–17)
Bauleute und ihre Verantwortung (3,9–17)
Der einzige Erzeuger als Vorbild (4,14–21)
3. Niedrigkeit und Autoritätsanspruch des Paulus
VI »Was sollen wir nun hierzu sagen?« (Röm 8,31) – ein Schluss
Literaturverzeichnis
Fußnoten
Seitenverzeichnis
|9| I Vom Lesen fremder Briefe – zum Thema der Studie
∗
»Und haltet die Langmut unseres Herrn für die Rettung, wie euch auch unser geliebter Bruder Paulus in der ihm gegebenen Weisheit schrieb, wie auch in allen Briefen, wenn er in ihnen darüber spricht. In diesen Briefen ist einiges schwer zu verstehen. Das verdrehen die Unkundigen und Ungefestigten wie auch die übrigen Schriften zu ihrem eigenen Verderben« (2Petr 3,15f).1
Diese Passage wird gern zitiert in der neutestamentlichen Zunft. Schon einige Jahrzehnte nach dem Tod des Paulus2 hat man die Paulusbriefe als schwer verständlich und in ihrem Sinn umstritten empfunden. Aus der Sicht mancher Paulusexegese ist der 2. Petrusbrief gleich selbst ein Beleg dafür, da er höchstens pauschale Kenntnis der paulinischen Theologie zeigt.3
Interessant ist aber auch, dass bereits der Verfasser dieser Schrift offenbar mehrere Paulusbriefe kennt und unterstellt, dass diese Briefe sich an »euch« richten. Auch wenn die Adressierung des Briefes ganz allgemein gehalten ist (»denen, die den gleichen Glauben erlangt haben [...]« 2Petr 1,1), sind die so Angeredeten sicher nicht identisch mit den Adressatinnen4 der Paulusbriefe.
|10| Doch warum sollte dieser fiktive Brief auch nicht so verfahren? Derartige »Nostrifizierungen« der Paulusbriefe sind ja bis heute beliebt. »Paulus schreibt, wir sollen uns freuen«, oder »wir sind durch das Gesetz dem Gesetz gestorben [...]«, so oder ähnlich kann man es oft in Predigten hören. Sogar in wissenschaftlichen Untersuchungen wird das »Wir« oder »Ihr« in Paulusbriefen schnell übersetzt in ein »Wir« der Leserinnen, vermutlich in der Unterstellung, dass alle Leser den christlichen Glauben teilen.
Zu solchen identifikatorischen Lektüren laden vor allem die Briefe des Neuen Testaments, namentlich die des Paulus ein. Denn sie zeichnen sich unter den biblischen Schriften aus durch direkte Anreden in der 2. Person Plural und viele Aussagen in einem kollektiven »Wir«.
Allerdings zeigt eine kleine Gegenprobe, dass die Bereitschaft, sich vom Brief ansprechen zu lassen, auch ihre Grenzen hat. Selten dürften wir in evangelischen Predigten hören, Paulus wolle, dass wir ohne Sorge seien und deshalb besser nicht heirateten (1Kor 7,32). Auch fühlen wir uns sicher nicht verantwortlich, wenn Paulus schreibt: »Ich bin ein Narr geworden – ihr habt mich gezwungen!« (2Kor 12,11). Und die scharfe Frage, »Was wollt ihr? Soll ich mit dem Stock zu euch kommen oder mit Liebe und sanftmütigem Geist?« (1Kor 4,21) löst bei uns nicht mehr den Reflex aus, sich auf einen Besuch des Paulus vorzubereiten.
Wir sind nicht »wir«
5
Einige Beispiele mögen verdeutlichen, dass das Einstimmen in das »Wir« auch zu inhaltlichen Verschiebungen führt. Wenn Paulus schreibt: »Das alles ist von Gott, der uns mit ihm selbst versöhnt hat durch Christus und uns die Aufgabe der Versöhnung gegeben hat« (2Kor 5,18), dann spricht er nicht von einem »Amt der Versöhnung«, das der Kirche anvertraut sei, sondern von sich persönlich, dem in seiner Berufung Gottes Versöhnung zuteil wurde.6
Missverständnisse dieser Art können freilich produktiv und theologisch bedeutsam sein. Das zeigt sich etwa an der Rezeption von Röm 7 bei Martin Luther. »Denn ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich« (Röm 7,15 Lutherübersetzung) – in |11| diesem Stoßseufzer fand Luther sich und die Situation des Christenmenschen allgemein bestens beschrieben. Er leitete aus Röm 7 – gegen die zu seiner Zeit gängige Deutung – ab, dass der Christenmensch immer zugleich sündig und gerechtfertigt sei, in der berühmten Formel: simul iustus et peccator.7 In diesem Fall liegt das Missverständnis nicht in einem »Wir«, sondern dem »Ich«: Paulus schreibt in der 1. Person Singular von dem Menschen, der sich unter der Sünde gefangen sieht, weshalb sein Tun nicht dem Verstandeswillen folgt. Luther hat dieses Ich verstanden als das Ich des »Christen«. Doch Paulus sprach nicht vom geistlichen Menschen, sondern vom Menschen ohne Christus8. Er beschrieb die Situation des »Ich« unter dem Gesetz, das noch nicht »geistlich« ist, um zu erklären, wie Sünde und Gesetz zueinander stehen. Paulus ging es in Röm 7 nicht um christliche Anthropologie, sondern darum, seine Theologie zu verteidigen. Seine Argumentation könnte missverstanden werden, als meine er, dass das Gesetz Gottes letztlich Sünde sei (7,7). Darum erklärt er, dass das Gesetz zwar »heilig, gerecht und gut« ist (7,12), aber den Menschen nicht vom Sündigen abzuhalten vermag, weil er »verkauft ist« unter die Sünde (7,14). Erst Christus macht den Menschen frei für die Erfüllung des Willens Gottes: »Denn das Gesetz des Geistes zum Leben in Christus Jesus hat dich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes« (Röm 8,2). Luther hatte eine andere Situation vor Augen als Paulus, der optimistisch damit rechnete, dass sich in der kurzen Zeit, die bleibt, der von Christus befreite Mensch der Sündenmacht entziehen kann. Doch für das Christenleben, das selbstkritisch feststellt, dass es dem Willen Gottes letztlich nicht entsprechen kann, hat die lutherische Lehre von der Dialektik des geistlichen Menschen große Plausibilität. Luther liest Paulus als Antwort auf eine Frage, die Paulus sich gar nicht stellte. Die Antwort Luthers ist gewiss nicht obsolet – allerdings ihre Legitimation mit Röm 7.
Die Diskussion über die Angemessenheit der lutherischen Paulusauslegung wird in den letzten Jahrzehnten grundsätzlicher geführt: Die Luthertradition versteht die paulinische Rechtfertigungslehre individual-soteriologisch, als Zusage, dass der einzelne Mensch aufgrund seines Glaubens, nicht seiner Werke von Gott als gerecht anerkannt wird. Doch, so sagen Deutungen der |12| »New Perspective on Paul«,9 Paulus sei es nicht um das Seelenheil des Einzelnen gegangen, sondern darum, dass der Unterschied zwischen jüdischen Menschen, die schon immer von Gott wussten und seine Tora besaßen, und nichtjüdischen Menschen, den Völkern, in Christus aufgehoben ist: Wenn ein Mensch aufgrund seines Glaubens an Gottes Heilshandeln in Jesus Christus gerecht wird, dann spielen die genealogische Zugehörigkeit zum jüdischen Volk und Zeichen wie die Beschneidung keine Rolle mehr für die Annahme durch Gott.
Unabhängig davon, wie man sich in dieser Debatte positioniert, wird ein Aspekt in das Bewusstsein gerückt: Dass wir die Paulusbriefe missverstehen, wenn wir uns nicht vor Augen halten, dass Paulus eine gegenüber heutigen Fragen völlig andere Situation und damit auch Semantik der Begriffe voraussetzt. Zu seiner Zeit gibt es noch keine Bezeichnung wie »Christ« oder »christlich«, sondern nur die Ahnung, dass etwas Drittes zwischen dem alten Dual von »Juden und Völkern« entsteht.
Manches »Wir« meint bei Paulus »wir geborene Juden« (so in Gal 3,13), und mit »ihr« sind dann die neu bekehrten nichtjüdischen Menschen unter den Christusgläubigen angesprochen. Weder mit den einen noch den anderen sollten »wir« uns einfach identifizieren, auch wenn »wir« uns als Christinnen verstehen. Denn »Christ« wird heute in einem ganz anderen Paradigma von Religionen eingeordnet, während es damals um die ethnisch-religiöse Unterscheidung von Juden und Nichtjuden ging.
Doch wer liest, wenn nicht wir?
Die Beispiele zeigen, dass Paulus in seinen Anreden bestimmte Menschen vor Augen hatte, die unter kulturell wie religiös völlig anderen Voraussetzungen lebten als wir Heutigen, und dass er auf seine Begabung und individuelle Berufung anspielen