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Leipzig: Studentenroman
Leipzig: Studentenroman
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eBook886 Seiten12 Stunden

Leipzig: Studentenroman

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Über dieses E-Book

Dem Lausitzroman vom "Abschiednehmen" lässt Hartmut Zwahr mit dem Studentenroman "Leipzig" die fünfziger Jahre folgen. Für Johannes beginnt diese Zeit an der Fachschule für Bibliothekare, wo er den 17. Juni 1953 erlebt. Im ersten Teil "Das Erschrecken" verarbeitet er die bleibende Erfahrung. Er besteht die Sonderreifeprüfung, wird immatrikuliert und Student der Karl-Marx-Universität Leipzig. In dieser Zeit des Übergangs endet für ihn eine große Liebe. Im Tagebuch hält er fest, wie die Macht den neuen Menschen einfordert. Die vormilitärische Ausbildung und das "Wir" der Blauhemden greifen tief in die studentische wie die akademische Existenz ein.
SpracheDeutsch
HerausgeberSax Verlag
Erscheinungsdatum7. Mai 2019
ISBN9783867295680
Leipzig: Studentenroman

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    Buchvorschau

    Leipzig - Hartmut Zwahr

    9.10.1953)

    ERSTER TEIL

    IM JUNI KAMEN DIE PANZER

    DAS ERSCHRECKEN BLEIBT

    1

    Wie der reinkam in heller Uniform, der Ami, ich dachte, der schießt, sagte der Hausmeister

    Die Haltestelle der Straßenbahn im Rücken lief Johannes den Gitterzaun entlang, der die Villa und den Park umschloss. Flieder duftete. An der Tischtennishalle begegnete er dem Hausmeister. Die wollten dich wohl nicht?

    Sie redeten über den Lehrlingskurs. Du hast gefragt, wie das war, wie der reinkam in heller Uniform, der Ami, ich dachte, der schießt, sagte der Hausmeister.

    Na, geh erst mal zu ihr hoch.

    Auf die Tür geklebt: Trautmann. Kommen Sie rein. Auf dem Schreibtisch ein Tresor, auf dem die Brotbüchse. Sie sind die Nachbewilligung? Im Fragebogen klebte sein Passbild. Sie lachte. Sind wir die Pionierorganisation? Sie bekommen Grundstipendium. Lohnbescheinigung genügt. Lützner 75. Kenne ich, die Eltern hatten einen Laden in Lindenau.

    Fünfundzwanzig fürs Zimmer? Ist in Ordnung.

    Johannes fragte nach der Lebensmittelkarte, sie, ob er Radio hätte. Zuerst kommt die Moral. Karte C. Vorzugsversorgung. Mittagessen ohne Fleisch, leider, wegen der Nachmeldung.

    Sie zahlte das Stipendium aus.

    Seine Wachstuchbrieftasche klebte zusammen. Bei meinem Jungen auch. Spielen Sie Pingpong? Überwiesen wird zum Sechzehnten. Am besten, Sie nehmen die Sparkasse. Beim ersten Schmetterball zuckte sie zusammen. Sie stempelte den Fahrantrag. Wie ich das Ballgeklapper liebe! Zuerst in die Meldestelle. Von der Polizei zur Kartenstelle gehn, nicht umgekehrt.

    Die Straßenbahn fuhr an. An der Schule Gertraude Schubert, Strickjacke, Kleid.

    Die Innocentia liegt mir! Am Tischtennis eine lange Blonde. »Ich werde seine Frau oder gehe ins Wasser!« Sie lachten über eine Pointe, die er nicht verstand. Die Abiturklasse spielte Theater.

    Warum kommst du erst jetzt? Sie standen in der Diele. Der schwere Leuchter ohne Licht. Mit dem Renovieren hatten sie angefangen, als die Russen die Villa freigaben. Im Klubraum steckten in einem Gummibaumkübel die Papierfähnchen vom Achten Mai. Jemand rief: Die erste fällt aus.

    Wieder Möhren! Gewöhnst dich dran. Reiche Leute, müssen das gewesen sein, denen die Villa gehört hat, sagte Gertraude.

    Von der Galerie hingen die rote Fahne und die blaue des Jugendverbandes.

    Ein Dicker reckte den Kopf, hatte eine Kommandeurstasche umhängen, mit Schlaufen für Schreibzeug. Hieß Pockrandt. Ich brenne für die Literatur! Mir musst du das nicht sagen! Der antwortete, Rudi Gernitz, hatte die schwarzen Haare zur Bürste geschnitten.

    Berliner, Pockrandt auch, sagte Gertraude. Sie mochte sie nicht, zog die Ringelsöckchen hoch. Böckler ist der mit dem Bein einknickt. Die Drei verschwanden im Treppenaufgang.

    Jemand hielt ihm die Augen zu. Wer bin ich? Ein Hauch Parfüm. Irina. Du bist gesehn worden. Vieldeutig mit Augenaufschlag sagte sie das: Wo, wird nicht verraten.

    Willkommen im Vorkurs. Bei den Werktätigen. Die Wimpern getuscht, sah sie ihn an. Die meisten, die da sind, kennst du, der Rest sind andere. Brigitta macht die FDJ, Regina ist oben. Die hatte ihn beim Abschiedsabend abgeklatscht, damals, in der Eingangshalle. Musst auf die Musik hören, hatte sie gesagt, Tanzen geht von alleine. Irina, in einer Bluse mit großen Blumen. Weil ihr Gestricktes nicht steht, du Dummer, hatte sie gesagt.

    Haben sie dir Schwierigkeiten gemacht? Mir kannst du’s sagen.

    Abgelehnt.

    Hast du eine Vermutung?

    Mein Vater ist Angestellter.

    Die Unsichtbaren durchforschen die Fragebögen, sagte sie, das wird’s kaum sein.

    Er stolperte ins Klassenzimmer, in den Dachraum. Den Balken hatten die Bauleute stehen lassen. Die schrägen Wände kannte er, das Kabuff dahinter auch.

    Gernitz ist der mit den schwarzen Haaren, wenn er nicht an seiner Zigarette zieht, redet er.

    Irina stellte Johannes vor. Willkommen bei der Arbeiterklasse, du Nachbewilligter, sagte Gernitz. Genosse bist du nicht. Eine Willensmaschine, das war ihm anzusehen. Wusste er was? Die Pelikan hat Vertretung, rief jemand. Klaus Grimm zeigte auf einen Stuhl. Für dich. Sie kannten sich aus dem Lehrlingskurs. Mich haben sie zum Sportverantwortlichen gemacht. Einen Posten hat fast jeder.

    Außer mir, sagte Irina.

    Brigitta Richter stieg über die Schwelle. Die Pelikan vertritt Heise. Kann einem leidtun mit seinen Prothesen. Den hatten die Engländer abgeschossen. Die Klasse nahm Platz. Der neben ihm nuschelte was, streckte die Hand hin. Er entdeckte in der ersten Reihe Regina, dachte an Ruth. Von ihr hatte er sich nicht verabschiedet. Wie auch? Die Mutter war am Telefon gewesen, er hatte aufgelegt. Auf der Fahrt war er das dumme Gefühl wegen Ruth nicht losgeworden. Im Zug hatte er stehen müssen in so einem Verbindungsstück zwischen den Waggons.

    Einer im dunklen Jackett lachte ihn an.

    Sie sind neu, hatte ihn Frau Pelikan begrüßt. Als es Pause klingelte, hüpfte sein Nachbar hoch und hielt sich mit einer Hand aufstützend an der Tischplatte fest. Ich bin der Wolfgang Böckler, ein Arm hing herunter.

    Die zweite Stunde war Geschichte. Der im Jackett kam dran, kaum war der Dozent, Herr Arnold, hereingekommen. Wo sind wir stehn geblieben? Das möchte ich von Herrn Eichler wissen. Es gehörte zu ihrem Spiel, was Johannes nicht wissen konnte. Dass sie Barbara hieß, auch nicht. Dieser Dozent und Friedhelm Eichler standen wegen ihrer Liebesgeschichte in einem gewissen Verhältnis.

    Barbara gehörte in die bibliothekarische Vollausbildung, sang im Schulchor, war Abiturklasse, Friedhelm dagegen war Vorkurs, Werktätigenklasse. Arnold, semmelblonder Mann mit lichtem Haar, der zwei Kinder hatte und verheiratet war, hatte sie Friedhelm ausgespannt. War auf einem Schnellboot gefahren, Maat, aus amerikanischer Gefangenschaft als Student nach Leipzig gekommen, inzwischen Lehrkraft. Mit dem Pagenkopf die hatte Friedhelm noch im Kopf, im Blut, sonstwo, und kam er früh manchmal an, grau im Gesicht, die Hosen zerknautscht, Zigarette im Mundwinkel und sah dann, wie Arnold die römische Kaiserzeit durcheilte und wieder mal fragte, wo sind wir stehen geblieben, schluckte er.

    Ich war ihr zu unsicher, Hannes, sagte Friedhelm, da kannten sie sich schon besser. Bis ich verdiene, vergehn drei Jahre; die sucht was Festes, er kann es außerdem unheimlich lange anhalten, und Johannes, der nicht begriff, was gemeint war, half er aus: Bis er kommt, ich meine, explodiert.

    Friedhelm nannte sie Barbara, zärtlich Bärbel: Die genießt das. Den Anfang erzähl ich, weil du nicht quatschst: Die Wirtin, bei der sie wohnte, hatte immer mal Männerbesuch. Im Schaukelstuhl, in dem jetzt Arnold sitzt, hab ich gesessen, und wie die Bärbel aus der Küche kommt und mich sieht, ohne alles, zieht sie sich, wie in Zeitlupe, aus. Der Stuhl knarrte beim Schaukeln, bis nichts mehr zu hören war. Jetzt kniet der Arnold zwischen ihren Beinen.

    In der Pause rauchte sich Friedhelm eine an, als er das erzählte. Mit dem Qualmen fang besser nicht erst an. Ich komm zurecht, solange das Stipendium reicht – fürs Essengeld, die Straßenbahn, Hefte, Briefmarken, Miete, Zigaretten. Übermorgen bin ich blank. Mit Klimpern komm ich über die Runden. Die Bärbel hatte er damit eingefangen. Wenn er im Klubraum spielte, lehnten die andern am Flügel oder hatten zum Sitzen was mitgebracht. Spiel was. Für Böckler wars Klimpern. Wat denn? Na, das, und Böckler klopfte mit seiner gesunden Hand den Takt. »Du, du, du, lass mein kleines Herz in Ruh.« Warum nicht gleich so, Pomuchelskopp?

    2

    Die älter sind, reden nicht mehr drüber, dass sie Pimpfe waren. Ich war einer, du nicht, du warst zu jung dafür

    Friedhelm liebte summer time über alles, und manchmal spielte er es nur für sich. Den Tobs-Pucki raste er herunter, Die Zwölfte Straße. Die lange Blonde, die in der Schule Theater spielte, hat gesungen. Manchmal kam das Mädchen aus der Sprechstunde. Mit der bin ich das erst Mal raus, das war hinten im Park, wir wollten beide. Du warst noch nicht reingeschneit in die Klasse. Manche guckten natürlich. Dass ich nicht der Mann fürs Leben bin, wissen die, bloß die große Liebe, die hat Arnold mir ausgespannt.

    Die Barbara, wenns drauf ankommt, denke ich, lässt er Frau und Kinder sausen. Der kanns ungeheuer rauszögern, der Arnold, mit Kognak, auf Matrosenart, sie lässt sich schaukeln, wippt wie ein Engel auf der Himmelsschaukel. Ich bin eifersüchtig, gebs zu.

    Er fingerte eine Zigarette aus der Packung. Über ihnen rauschte der Wind durchs Leutzscher Holz, als er das erzählte. Ich wette, Arnold ist auch eifersüchtig, der weiß, wen ich in den Händen hatte. Wenn Arnold in der Partei wäre, der SED, hätte die Familie vielleicht eine Chance, wenns diese Distanzierung aus Parteigewissen überhaupt gibt. Wenns im Blut rauscht, hilft am Ende auch die Partei nicht mehr. Er kniff die Augen zusammen: Ja, da muß man sich doch einfach hinlegen. Wenn er das zu später Stunde sang, lag er fast auf den Tasten, und manchmal sagte er, wenn sie nicht wussten, wie weiter: Das wird uns jetzt der Herr Eichler sagen. Damit brachte er jeden zum Lachen.

    Das Abzeichen, von dem so viel Macht ausgeht, hab ich mir bei Rudi, wenn der die Zigarette hinhält zum Anrauchen, genauer beguckt. Die älter sind, reden nicht mehr drüber, dass sie Pimpfe waren. Ich war einer, du nicht, du warst zu jung dafür. Döring Walter, der von Halle zur Büchereischule gekommen ist, Chemiearbeiter, war Pimpf. War vom Alter her sicher auch HJ. Bloß Rudi will nicht drin gewesen sein, was ich ihm nicht glaube. Ich merks, wenn er sagt, der ist eine große Nummer. In der HJ waren die allermeisten. Anschließend gings zum Arbeitsdienst, danach zur Truppe. Wenn Rudi sagt, Brigitta wird das schon schaukeln, redet er so, die Sprache, die ich meine, oder wenn Müller, der Sport gibt, den Haufen rumgescheucht hat. So was hörst du bei Rudi ständig. In der Domholzschänke, als wir auf Wanderung waren, sagte er zu mir: Bist ohne Marschverpflegung, sieht dir ähnlich, musst den Affen eben ordentlich packen, nicht bloß den Kamm einstecken. Du weißt, was der Affe ist? Der Tornister.

    Böckler hat das Pimpfalter auch, der könnte bloß nicht in Marsch gesetzt werden, das Hinkebein, kein Bett bauen, keine Kochstelle anlegen, nicht Wolf sein. Bei der Wolfsjagd waren drei die Wölfe, drei die Jäger. Oder Spähtrupp gehn. Ist ihm erspart geblieben, dem Böckler. Mit Halstüchern und Schulterriemen die Erwischten an Bäume fesseln. Allenfalls Zapfen sammeln hätte er gekonnt mit seiner Hand. Zum Faschinieren, Schanzen, Schippen taugt er nicht. Kann kein Schanzer sein, kein Schipper. Mich haben sie mal geknebelt, scheußlich, Luftspäher war ich, das hätte der Wolfgang mit seinem lahmen Arm machen können, ’ne »Rundschau« halten, was »Zeitungsschau« war, »Lagerwart« sein, einen »Bunten Abend« ausrichten. Sagt dir was? Natürlich sagt uns das was. Alles da, plötzlich, wieder da, ohne Jungenschaftsbluse, Hose, den Mantel. Jungvolkjungen sind hart, schweigsam, treu. Du wärst richtig gewesen, Hannes, verschwiegen wie du bist. Bin ich in Fahrt. Heilig Vaterland!

    Dass sich Böckler an die Partei hängt, wer will ihm das verdenken? Ich machte das vielleicht auch in seiner Lage. Die Partei fängt ihn auf. Friedhelm drückte die Zigarettenkippe aus. Eine hab ich noch. Mit der Partei kommt er überall durch, das weiß der Wolfgang. Ich stelle in Rechnung, dass er’s weiß. Hoffentlich weiß es die Partei auch, dass sie so viel Schwachheit anführt. Ist acht Jahre her, dass sich der Mordsqualm verzogen hat, sich die Führernachwuchslager auflösten, die Morgenfeier nach dem Stubendurchgang aufhörte, dass Schluss war mit Schichtunterricht.

    Jungen, die übrig blieben. Kennst du? Ich hätte der allerletzte sein können, dens erwischt. Er zeigte über den Gitterzaun, der den Park einfasste. Nichts zu sehn außer dicken Eichen, dahinter der Auwald, in dem diese Ungetüme stehn. Brigitta hat vorgeschlagen, dass wir ihn einladen, den jungen Schriftsteller. Mutti kennt ihn, sagt sie, und seitdem heißen wir so, Loest.

    Warst nicht dabei, als die Klasse das festgelegt hat, die FDJ. Hand gehoben, fertig. Ist russisch. Das Kollektiv muss einen Namen haben. Ich geh erst mal schiffen.

    Das Buch hab ich verschlungen, sagte Johannes, wenn in der Ausleihe Flaute war. Beim Bücherranholen war zum Lesen Zeit. Friedhelm fingerte die letzte Zigarette aus der Packung, rauchte, sagte dann ohne Überleitung: Wenn ich du wäre, ich würde Regina nehmen, solange sie noch zu haben ist. Die gefällt dir doch? Hast du’s schon mal gemacht mit einer? Am besten, er drückte die Kippe aus, wenn du meine Meinung hören willst, ist eine, die ihn dir reinsteckt.

    An der Schule lief ihm Irina in die Arme. Warst sicher mit Friedhelm unterwegs. Lass dich bloß nicht verführen.

    Sie saßen im Klubraum, bis der sich leerte. Er bewunderte den Auwald, und sie kam auf die Auwald-Wanderung zu sprechen. Warst nicht mit, leider. Ich weiß, du musst nachholen. Ich erzähls, damit du weißt, wie der Hase läuft. Inzwischen hat sich alles einsortiert. Hast was verpasst. Ein Sonnentag war das, ich dachte, Waltraud fliegt auf den Harry Matter, als wir durch die Schonung japsten. Plötzlich hörtest du sie nicht mehr. Brigitta und Rudi waren auch nicht aufzufinden. Klaus eifersüchtig auf Gitti. Die hat sich Pockrandt, denkt er, inzwischen untertan gemacht. Sie redete schnell, spitz, ohne Pause. Ich bemerkte nicht, dass Brigitta mit Rudi im Kraute lag, so hoch stand das Gras, wenige Schritte vom Rastplatz. Walter erwähnte sie nicht. Walter fuhr übers Wochenende zu seiner Frau. Böckler lag am Wiesenrand, pennte. Ich war allein mit Pockrandt, wartete auf sportliche Höchstleistungen. Radschlagen hat allerdings nicht stattgefunden, dafür Mittagsschlaf. Die Sonne spendete uns sieben Hanseln Wärme, es knackte im Gehölz. Ein Wildschwein, rief Waltraud. Ein Hund, korrigierte Harry. Die Waltraud ist in Ordnung. Sie sucht einen Mann, bloß nicht den, zwischen denen hats nicht gefunkt.

    Das war spät abends, als Johannes nicht einschlafen konnte. Ihm fiel ein, wie Irina redete.

    Die Genossen führte Rudi an, ein begnadeter Agitator, mit einer zum Daumen hin kippenden Schrift.

    Manchmal sah Irina ihn aus ihren Mandelaugen an, wie gestern, als sie sagte: Wie komme ich dazu, mit Leuten, die ich nicht leiden kann, ins Kino zu gehen oder ins Theater, nur weil sich die Klasse, das Kollektiv, verpflichtet hat? Bin dann gegangen, um meine Ruhe zu haben. Dieser Dresdner Schnappe war Rudi Gernitz nicht gewachsen, auch Pockrandt nicht, bei dem die Lippen, wenn er Papier beschrieb, mitschrieben. Anfangs bestimmte er über die Wandzeitung. Du, Hannes, legte er fest, schreibst über den »Waffenstillstand in Korea. Die Welt atmet auf. Einigung über alle Punkte des Waffenstillstandes in Korea.« Schreibgier zeichnete Pockrandt aus.

    Wenn Johannes an diesen Menschen dachte, war es, als hätte der heiße Juni, der auf sie zukam, schon angefangen, ein Juni, in dem sie sich an den Augen erkennen werden, am Widerwort, dem Schweigen.

    Alles Mögliche war ihm durch den Kopf gegangen. Im Traum hatte er mit Irina den Park umrundet. Am Schießstand der GST waren sie stehn geblieben. Noch nie in meinem Leben habe ich geschossen, du, als Mann, bestimmt. Ich auch nicht, was sie wunderte. Bloß einen Dolch haben sie mir geschenkt, den ein Junge anbrachte, aber das sagte er nicht. Das musste Irina nicht wissen, wie das war, als die Jungs aus dem Sägewerk, die Rüger kommandierte, den Bahndamm stürmten.

    Pockrandt, sagte Irina, das ist ein Gedankensprung von mir, hab ich auf der Wanderung erkannt, keine Kraft, der spritzt mit dem Füller. Nichts Doppeldeutiges war in ihren Mandelaugen, als sie das sagte. Gernitz lästerte, Pockrandt solle nicht so faul sein, bist schon schlapp, ehe der Wald anfängt, aus dir wird nie ein Sportler. Pockrandt, schweißüberrieselt, wehrte sich. Klaus ist ein Schreibekünstler, was Brigitta imponiert. Sie denkt vielleicht, als Gruppensekretär hat sie die Partei hinter sich und wird in Ruhe gelassen.

    Die Sprungfedermatratze knarrte. Kein Laut war von der Lützner Straße zu hören. Wird kalt werden, wenn der Winter kommt. Das Zimmer lag überm Durchgang zum Innenhof.

    Reden können die, sagt Irina. Rudi redet dich besoffen. Wie er von Italien erzählte, von den Kämpfen dort, schlief ich ein. Regina hat zugehört. »Und da kracht aus dem Dunkel eine Eisenstange in die Wand, die Kanone. Nie wieder!« So redete der. Wie ich mir erleichtert die Augen reibe, ich unter meiner Decke, zündet sich Rudi eine Zigarette an.

    Die qualmten was zusammen in der schönen Natur, Friedhelm mit, der am Mönch Hugo, das waren solche Geschichten, strickte. Dem Friedhelm fällt dazu immer Neues ein. Zum Beispiel. »Junge, werde Bergmann, die Kohle ist das Brot der Industrie, sagt Petrus zu Hugo, der will aber nicht zur »Wismut«, sondern Bibliothekar werden. Weise dich aus, sagt Petrus, und wie Hugo vom Vorbereitungslehrgang das Zwischenzeugnis vorzeigt, das wir noch gar nicht haben, sagt Petrus, nein, das genügt nicht.« Hat der eine Phantasie, der Friedhelm. Fressen dich auf, die Biester, ruft er dazwischen und springt auf, vertreibt die Mücken mit Rauchen.

    Im Waldgasthaus hat er sich ans Klavier gesetzt. Lady Be Good. Oh, himmlisch! Anfangs wollte die Wirtin nicht, danach stellte sie ihm sogar ein Bier hin. Hast wirklich was verpasst, du unbeschriebnes Blatt, ich habe mir ein Bild gemacht über jeden, der mit war, von dir konnte ich mir leider keins machen.

    3

    Böckler fragte: Bist kein Genosse, hätt ja sein können. Willst eintreten? Wenigstens der muss Arbeiterkind sein, dachte Friedhelm.Wenn es die Ausnahme nicht gibt, ist die Regel falsch

    Johannes und Böckler hatten ihren Platz im Seitengiebel vom Dachraum, ein bisschen versteckt. Wenn Gernitz zu spät kam, fast regelmäßig, was ihn nicht störte, sah er sie von der Seite. Hochkonzentriert zählte er Gründe für sein Zuspätkommen auf, benannte Hindernisse, Unvorhersehbares, strich übers schwarze Haar und nahm dann Platz. Über Eck Walter, neben ihm Harry Matter und so weiter.

    In der Schule stellten die Mädchen die Mehrheit. Langweilige Stunden gabs auch. Wenn die Wolken trieben, der Wind die Äste zum Dachfenster herüberbog und die an der Villa kratzten, die keine mehr war, hingen sie ihren Gedanken nach. Solche Unterrichtsstunden hatten das Gesicht wie Herr Boden oder Frau Pelikan. Manche Stunden bestanden nur aus Stoff, mit Deutsch, Chemie, Physik, Mathematik, Biologie, Gesellschaftskunde, Methoden des Lernens, einmal die Woche sechs Stunden.

    Die Bücherei hatte geschrieben. Wenn du Lust hast, könntest du auf dem Dorf Büchereileiter werden, schrieben sie. »Wollen in Deiner Klasse alle im Büchereifach bleiben? Daß wir im Wettbewerb stehen, kannst Du nicht wissen. Bei uns ist morgen FDJ-Überprüfung, der feierliche Dokumentenumtausch, da sind alle Jugendlichen eingespannt, kannst Dir denken, wie es bei uns zugeht. Die ersten Leser strömen in die Ausleihe. Du fehlst eben an allen Ecken und Kanten.«

    In die Bücherei zurück wollte er nicht. Was ich verpasst habe, schreibe ich nach, berichtete er Ruth.

    Über die Philipp-Müller-Gedenkfeier schrieb er: »Alle hauen tüchtig auf die Pauke. In meiner Klasse guckten sie, als hätten sie Fischgräten verschluckt.« Johannes strich den Namen. Ruth fragte zurück: Was für eine Gedenkfeier? In Trauerbalken der Erschossene. Habt Ihr zu Hause keine Zeitung? fragte er Ruth.

    Vater mahnte: »Daß Du zum Monatsende die Lebensmittelkarten nicht verfallen läßt, hole, was Du zu bekommen hast. Fett!!« Max Schneiders Zettel lag bei. »Schmierpapier kaufe Dir ja keins, das hebe ich auf, denn das wär ja Wasser in die Pleiße getragen. Ich hoffe, daß wir uns hier mal paar vergnügte Stunden machen können. Dein Arbeitskamerad Max Schneider.«

    Mutter mahnend: »Laß es nicht am Essen fehlen, ist falsche Sparsamkeit, es gibt auch Buttermilch auf die Karte. Laß keine Marke verfallen. Kann Deine Wirtin nicht mal was Grünes zubereiten? Denk dran, den Tee kochen, Salbeitee ist überall zu haben. Nimm viel Zucker. Sollst viel an die Luft gehen.« Vater fragte: »Bekommst Du die bessere Lebensmittelkarte oder nur die Grundkarte? Hier las ich, die Fischkarte a.) und Fischkarte b.) verfällt am 5. Juni. Achte drauf, daß Du nichts einbüßt. Die Milchkarte muß in einem Milchgeschäft angemeldet werden. Vielleicht die Milch dort gleich trinken.«

    »Meine Wirtsleute sind in Ordnung«, schrieb er zurück, »mit der Verpflegung komme ich aus. Wenn Ihr wollt, schickt Gemüse und die Trainingshose. Stipendium gibt es am Sechzehnten. Ob ich Pfingsten kommen kann, weiß ich noch nicht. Verschiedenes wäre zu besprechen, mir fehlt die Zeit. Natürlich gehe ich an die Luft.«

    Die Eltern warteten auf Post, nicht nur auf die schmutzige Wäsche. Vater warnte vor Überanstrengung, kannte jemand, der Straßengräben ausräumte und lateinische Wörter schrie. Diese Zeit war untergegangen, eine neue hatte begonnen, Zukunft, die noch nicht angefangen hatte, als er am Elsterflutbecken wartete und Möwen über flaches träges Wasser segelten. Regina suchte den Mann zum Heiraten und Kinderkriegen, wie sich herausstellte, und fand ihn. Die ist ein tiefes Wasser, Hannes, meinte Friedhelm, ich wäre ihr zu unsolide. Beim Ausflug zur Domholzschänke hatte sie den hell­blauen Pullover an. Die sucht was Festes, die solltest du dir nehmen. Küsse, später am Flutbecken, waren alles. Sie sagte nicht, ich liebe dich, höchstens, ich denke, dass du nicht plauderst.

    Friedhelm hatte schmale Lippen, der Mund war bissel breit geraten, hatte das Haar angefettet, damit die Locken anliegen, die Hosen waren durchgesessen, das Jackett ramponiert. Du flunkerst, Friedhelm, sagte Regina mal, als sie am Flügel stand, dir glaub ich nur die Hälfte. Die reicht mir, sagte er und zog mit dem Daumen einen Strich über die Tasten. Dein Pullover gefällt mir, sagte er, um sie zu ärgern.

    Johannes hatte Versäumtes aufgeholt, und Böckler fragte: Bist kein Genosse, hätt ja sein können. Willst eintreten?

    Bei Wolfgang Böckler hatte die Zangengeburt einen Sprachfehler zurückgelassen, er kam damit zurecht, nuschelte zwar, aber im Unterricht war es manchmal einfacher, beim Nuscheln eine halb­richtige noch brauchbare Antwort zu geben. Im Stillen nannte Friedhelm den Böckler Pomuchelskopp, weil der bei Fritz Reuter vorkam. Böckler werde ich nicht vergessen, dachte Johannes, ausgeschlossen.

    Vater suchte manchmal verzweifelt nach Namen, weil er dachte, er könnte wegen Altersschwachheit Namen vergessen haben, wie den Namen des Kameraden, mit dem er in Gefangenschaft auf einundderselben Pritsche gelegen hatte und der so fürchterlich schnarchte. Beim Hauptmann Ostermann passiert mir das Namensvergessen nicht, niemals, unmöglich, was der Ostermann mich gepeinigt hat, erzähl ich dir mal später, für den Fall, dass du die Geschichte brauchst, wenn du drüber schreiben willst. Der Ostermann war in Schriftsachen vollkommen hilflos, zum Glück, die hätten mich vielleicht sonst an die Front geschickt.

    Im Kabuff hatte Rudi Gernitz von einem Schriftsteller erzählt, den er glühend bewunderte, und jetzt ging es ihm genauso, er vergaß den Namen, und fragen wollte Johannes nicht, die Unterrichtsstunde schleppte sich hin, bis ihm der Name einfiel, Curzio Malaparte, vielleicht war der auch Panzerfahrer gewesen. Langweilige Stunden vergingen so.

    Beim Skaten nuschelte Wolfgang nicht. »Denn man tau!« Mit links hob er ab. Die rechte Hand fürs Kartenhalten legte er als Hilfe auf den Tisch. Dass seine Knöchel das aushielten, wenn er auftrumpfte? Friedhelm am Bierdeckel strich an. Am Flügel mussten sie ohne ihn auskommen, die Zigarette im Mundwinkel, Ascher in Reichweite, in dem fand sich die verlorene Zeit auch. Die Schultern eingesunken, Kragen offen, selbstvergessen saß er so im Klub­raum, spielte, fand immer eine, die mitging.

    Zerknautscht kam er früh an. Natürlich bemerkten die Mädchen das. Er wehrte sich. Dein Seidentuch, Irina! Wo denn? Da war was am Hals, den sie kunstvoll umschlungen hatte. Am liebsten hätte sie die Zunge gezeigt. Die Woche über gehört Walter ihr. War deiner, Walter? Was? Der Fleck? Verschämt hat er gelacht, als Friedhelm das sagte. Die machen es ganz heimlich, behauptete er.

    Die Sorte Männer mag ich nicht, sagte Regina über ihn. Manches übersah sie. Ausgetretene Halbschuhe hatten alle, Friedhelm schiefe Absätze. Dem Unterricht folgte er mühelos. Vater Offizier, gefallen, Mutter jetzt Arbeiterin, seit dem Krieg geschieden.

    Die Oberschule hatte Friedhelm abgebrochen. Über Gründe redete er nicht. In einer Stadtbücherei hinter Torgau auf der anderen Seite der Elbe, in dieser Kieferngegend dort, hatten ihn die Kollegen zum Vorbereitungslehrgang delegiert. Bei mir kams vermutlich auf die Mutter an, sagte er. Bist vielleicht auch so ein Arbeiterkind, Hannes? – Mein Vater ist Angestellter. Aus dem Steuerbeamten war in der Genossenschaft des Bäcker-, Müller- und Konditorenhandwerks inzwischen ein Buchhalter geworden.

    Waren die meisten in der Werktätigenklasse unecht? Katzengold? Wie Siegfried, Siggi? Der Unternehmersohn schleppte die Büchertasche als Arbeiterkind zur Oberschule. Böckler ist Arbeiterkind. Wenigstens der muss Arbeiterkind sein, dachte Friedhelm.

    Mittagspause. Wolfgang hüpfte die Treppenstufen zur Terrasse herunter. Im Sonnenschein die Unternehmervilla, die das nicht mehr war. Wat seggt denn min Meckelnbörger? meinte Friedhelm. Der dritte Mann fehlte. Klimperst? Wenn du borgst? Pimperst, reimte Friedhelm. Wolfgang strahlte. Denn man tau.

    Den Rasen schnitt der Hausmeister, der erzählt hatte, wie das war mit den Käppis und den Mützen, als die Russen ankamen. Die Offiziere hatten runde Mützen auf und dem Hausmeister Papyrossi angeboten.

    Wenn Wolfgang auf der Siegerstraße marschierte, war das zu hören. Immer. Denn helpt dat nich und zog ihnen die Hosen runter, spielte sie blank. Beim Mitschreiben verließ er sich auf Johannes.

    Das Sortieren im Kopf war das Schwierige, im Unterricht die Hauptpunkte erfassen, Mitdenken, Leerlauf unbeachtet lassen, über Phrasen drüberspringen, entwässern, kondensieren, Übertreibungen ausscheiden, den Superlativ streichen, nicht im Redebrei versinken, die Phrasen aber auch nicht ganz vergessen. Man musste sie parat haben, wenn sie gebraucht wurden. Friedhelm sprach vom Aufschwemmen, Aufblasen.

    Frau Dr. Darge vermied das. Sie fing den Unterricht mit einer These an, womit sie die Richtung angab, oder stellte eine Frage. Deutsche Literatur und Weltliteratur gabs, viel Goethezeit, etwas davor, die Zeit danach und die jüngste Zeit. Johannes hatte Arnold Zweigs Junge Frau von 1914 regelrecht verschlungen, Erziehung vor Verdun, Döblins Alexanderplatz. Was solche Schriftsteller zustande brachten, bewunderte er. Literatur kann das, Sprache, wenn sie eindringt. Es muss weh tun, sagte Friedhelm.

    Was die Struktur war, was Frau Dr. Darge als das Skelett bezeichnete, erklärte sie. Ging die Stunde zu Ende, fasste sie zusammen. Sie warf dem Nachbewilligten hin und wieder einen winzigen Blick zu, als freue sie sich, aber vielleicht bildete er sich das nur ein.

    Als die ersten Schultage angefangen hatten, schwirrte ihm noch der Kopf. Das legte sich. Fremdwörter schrieb er auf, schlug nach, büffelte Physik und Chemie, mehr als Grundlagenwissen wars nicht, was geboten wurde.

    Bald reihte sich ein Schultag an den nächsten.

    4

    Früh am Lindenauer Markt an der Haltestelle klebten Maueranschläge. Der Atem der Geschichte wehte ihn an

    Unbegreiflicherweise verpasste er diesen Junitag. Brot? Er konnte das Gesicht der Bäckersfrau in der Bäckerei Ecke Lützner Straße nicht deuten, der Laden leer. Bei Wolframs ein Zettel. Sind im Garten. Er hatte im Schwejk gelesen. Du lachst dich krank, Hannes, den gib mir schnell zurück, am besten morgen, sagte Eichler.

    Auf der Georg-Schwarz-Straße Lastwagen, er hatte gewartet, bis sie vorbei waren. Und du willst nichts bemerkt haben!? Das war am Tag danach. Nichts gesehn haben, geht nicht.

    Vielleicht Fahnen, aber wer guckt auf Fahnen?

    Am Lindenauer Markt früh an der Haltestelle klebten Maueranschläge. Der Atem der Geschichte wehte ihn an, deutsch, russisch. Du willst vom Ausnahmezustand nichts gemerkt haben?! Du lügst! Ist Fahnenflucht, was du dir geleistet hast, war Pockrandt auf ihn zugestürzt. Dir da geleistet hast, nuschelte Böckler.

    Wir liegen in Alarmbereitschaft, selbst die Mädchen, sagte Rudi Gernitz eher vorwurfsvoll, und du zeigst dich nicht.

    Auf dem Fensterbrett Gewehre. Wir haben ein Recht drauf, dass wir wissen, wo du warst.

    Bei mir.

    Die Hand vorm Mund, Gertraude.

    Bei Wolframs.

    Du lügst?

    Ich hab gelesen. Den Schwejk.

    Erzähl uns das nicht!

    Fahrt hin. Liegt dort. Walter bot sich an.

    Es kam nicht dazu. Die Schärfe war raus.

    Jetzt fragte Johannes. Was soll ich nicht mitgekriegt haben?

    Na das, den Angriff auf unsere Grundlagen.

    Wenn die politisch werden, friere ich, sagte Irina, als das überstanden war. Trotzdem, ich hatte den Eindruck, sie waren froh, als du reinkamst.

    Irgendwas, Hannes, musst du doch mitgekriegt haben.

    Lastwagen, Leute, vielleicht Fahnen.

    Tarnung, sagte Rudi.

    Ich weiß nicht, ob Fahnen waren.

    Aber etwas musst du doch mitgekriegt haben?

    Als Soldat war Rudi Gernitz bei den Panzern gewesen. Redete, die Zigarette zwischen den Fingern, die nicht ausging. In so einem Panzer hatte er gesessen und für einen Moment die Hände auf die Ohren gepresst. Freunde, sie oder du, im Krieg hast du keine Wahl! Das stand bei Curzio Malaparte. Ich hab plattgewalzte Menschen gesehn, das nämlich meint Die Haut, der Roman.

    Beim nächsten Mal, Hannes, bist du, zack, zack, bei der Truppe.

    Das es nicht geben wird! das nächste Mal! sagte Pockrandt, Parteiabzeichen am Blauhemd, an der Brusttasche. Er sah uns aus zusammenstehenden Augen an, uns alle, die wir zwischen diesen schiefen Wänden im Dachgeschoss standen. Hast allen Grund, klassenbewusst aufzutreten! Die Drohung blieb ihm im Ohr, die konnte er nicht vergessen.

    Klaus Pockrandt hatte Dantons Tod gelesen, ihm das Reclam-Heft in die Hand gedrückt, die Stelle angestrichen, blau, dick, und vorgelesen, vor der Gruppe. Robespierre: »Die soziale Revolution ist noch nicht fertig; wer eine Revolution zur Hälfte vollendet, gräbt sich selbst sein Grab. Die gute Gesellschaft ist noch nicht tot, die gesunde Volkskraft muß sich an die Stelle dieser nach allen Richtungen abgekitzelten Klasse setzen. Das Laster muß bestraft werden, die Tugend muß durch den Schrecken herrschen.«

    Die Tugend muss durch den Schrecken herrschen. Wenns stimmt, hat die Tugend die Panzer geschickt, sagte Friedhelm.

    Wem kann ich trauen? Niemand. Die Frage war beantwortet. Wir verwandeln uns, sie hatten sich auf die Gefahr eingestellt.

    Dass du nichts mitgekriegt hast, sagte Pockrandt, das konnte er nicht vergessen. Es war so. War es so oder anders? Pockrandt kam nicht drüber weg. Immer waren beide Seiten betroffen.

    Der Regen hatte die Plakate vom Ausnahmezustand Tage später nicht abgeweicht, sie wurden abgekratzt, die am Lindenauer Markt, anderswo, überall. Gertraudes Eltern berichteten aus Görlitz, dass Arbeiter die Bonzen zur Besichtigung in einen Hundezwinger gesperrt hätten. Uta Schäfer hatte Parteiabzeichen auf der Straße liegen sehn, weggeschmissene. In Großenhain auch, sagte Klaus Grimm. In Jena haben sie Straßenbahnen zusammengeschoben und einem Panzer den Weg verlegt, erzählte Ursula Uhlmann. Gertraudes Bruder war am Theaterplatz dabei, wo vom Italienischen Dörfchen bis über die Brücke zum Neustädter Markt die Straßenbahnen standen, überall Menschen, Polizei dazwischen, Russensoldaten auf Motorrädern und welche auf Lastwagen mit Maschinengewehr.

    Stimmt, sagte Irina, die Lastwagen fuhren Kurven, um die Menschen an der Zusammenballung zu hindern. Jedes Mal, wenn ein Motor anlief, berichtete ihre Schwester, rannten Leute hin, umstellten das Fahrzeug, verhinderten das Weiterfahren. Wieder welche fluteten über die Gleise. Jemand nahm den Bügel von der Oberleitung. Den hätten sie abschießen können. Gefährlich wurde es, als Russensoldaten mit vorgehaltnem Gewehr, Messer dran, in Kette ankamen. Die haben den Postplatz geräumt, bestätigt meine Mutter. Mein Bruder ist schnell in die Straßenbahn und nach Weinböhla, wer weiß, was ihm passiert wäre.

    Wolfram fährt auf dem Hauptbahnhof Rollkarren, er hats am Markt brennen sehen, der Pavillon der »Nationalen Front« brannte lichterloh, die Propagandabude, sagt Wolfram. Die Leute gucken, manche lachten. Welche sind mit dem Fahrrad ganz nahe dran vorbei an den Russen. Vom Bahnhof aus zogen die Leute in die Innenstadt, mit einer schwarz-rot-goldnen Fahne, vielleicht an einer Wäschestange. Wolframs sind gleich im Garten geblieben.

    Gertraude, vorsichtig: Hast du wirklich gelesen?

    Ja, wirklich.

    Irina blieb skeptisch, ob bei den Leuten in den Augenwinkeln Schadenfreude zu sehen war, als Johannes das sagte, der Pavillon wäre abgebrannt. In Augenwinkeln siehst du nicht viel.

    Mir hats genügt, Irina. Im Haus der FDJ auf der Ritterstraße hatte er Gardinen aus den Fenstern hängen sehn, die hingen wie weiße Fahnen. Panzer hatten die Rohre stadtauswärts gedreht, waren an der Elsterbrücke aufgefahren, und tagelang rollten die Straßenbahnen dran vorbei.

    Klaus Pockrandt wohnte bei einem von der Kasernierten Volkspolizei, bei Familie Krannich, Liebknechtstraße. Dem hatten sie ins Gesicht gespuckt. Gesindel, sagte Pockrandt. Statt den zu erschießen, hat der Kamerad ihm eine geklatscht. Unsre Genossen sind als Russenknechte beschimpft worden. »Hier wohnt Krannich – er schießt auf Deutsche.« Den Zettel bringe ich mit.

    Nichts hat er mitgebracht.

    Wolfgang Böckler befielen Zweifel, ob die Russen gezielt geschossen haben.

    Herr Wolfram, schon im Nachthemd, erzählte von dem Zugbegleiter, den kenne er von Halle, der würde nicht sagen, dass sie welche erschossen haben, wenns nicht so wäre. In der Dimitroffstraße am Amtsgericht ist geschossen worden, am Untersuchungsgefängnis, darüber wollte er mit Wolfgang Böckler nicht reden. »Ihr werdet vom Ausnahmezustand gelesen haben, der über Leipzig verhängt ist. Ihr müsst Euch keine Sorgen um mich machen. Den Brief schreibe ich in Verwaltungskunde«, schrieb er nach Hause.

    Schreibst heim?

    Vorn spielt die Musik, Herr Böckler!

    »Ab 21.00 und vor 5.00 darf niemand auf der Straße sein. Es waren gestern fast alle Leipziger auf den Beinen, und die Arbeit ruhte. Viele öffentliche Gebäude sind demoliert, die Scheiben eingeschlagen, das Gefängnis aufgebrochen, Gefangene raus, die Akten verbrannt.« Herr Boden fing an, die Kataloge zu behandeln, die Bestandsgliederung, Bestandsübersichten. »An allen wichtigen Punkten in der Stadt stehen die Panzer unserer sowjetischen Freunde und unserer Volkspolizei. Sie haben gestern auch einige der Radaubrüder und Westberliner Agenten erschossen.« Wird Vater verstehen, warum ich so schreibe? »Heute fuhren in der Stadt einige schwarze Wagen, durch deren weißes Milchglasfenster schwarze Särge leuchteten. In der Stadt sind leider auch einige große Friedenspavillons niedergebrannt, das größte Aufklärungslokal der Nationalen Front ebenfalls, die Transparente abgerissen. Gestern gab es regelrechte Schlachten zwischen Polizei und Randalisten. Man warf mit Steinen, das Pflaster ist aufgewühlt, mit Holzknüppeln und Milchflaschen.«

    Die Post ist nicht sicher, behauptet Friedhelm.

    »Ich kann abschließend nur sagen, daß die Regierung diese Mißstände bald beseitigen möge, um diesen Radaubrüdern und amerikanischen Agenten das Handwerk zu legen. Heute ist alles wieder ruhig, und fast alle arbeiten wieder.« Herr Boden behandelte den Schlagwortkatalog. »Nur an den Läden stehen Hunderte von Menschen. Es gibt daher kein Brot. Die Menschen hamstern ungeheuer.« Er klebte den Brief zu. Pausenklingeln.

    Sei in allem sehr vorsichtig, schrieb Vater zurück.

    Ich brauche Wäsche, deshalb schreibe ich.

    Sie warteten auf den Russischlehrer.

    Pockrandt zweckte was an die Wandzeitung. »Russisch fällt aus, Herr Döhler dolmetscht.« Walter war damit zufrieden, er brachte russisch kein Wort richtig heraus.

    Willi Zschiedert erschien. Also Zuckmayer.

    Pockrandts Finger ging hoch.

    Ich denke, wir bleiben bei Zuckmayer.

    Wieder Pockrandt.

    Sie, ja, bitte, Sie.

    Ich heiße Pockrandt.

    Zschiedert beugte sich übers Pult, strich die dunkle Mähne aus der Stirn. Wie schallend er lachen konnte. Bei solcher Begeisterung ließ er die Hand auch mal auf dem Kopf liegen, um das Haar zu bändigen. Der Hauptmann von Köpenick.

    Pockrandt aufstehend: Wie stehen Sie zum »Tag X«, Herr Zschie­­dert, »Nicht Worte – Taten entscheiden«, und zeigte zur Wandzeitung. Heftiges Nicken bei Gernitz.

    Was der 17. Juni war, Herr Pockrandt, wenn Sie das meinen, sagte Zschiedert endlich, dazu hat mein verehrter akademischer Lehrer, Hans Mayer, sich vor Assistenten und Gästen so geäußert, dass wir jetzt miteinander sprechen müssen. Dem schließe er sich an.

    Zwischen den schiefen Wänden bemerkten sie mit einem Mal, wie heiß es war.

    Das sagt uns ein Emigrant. Zschiedert suchte sein Taschentuch. Ich wiederhole ihn. Am 17. Juni ging es in Wahrheit um Faschismus oder Antifaschismus. Ich möchte ihn so verstehen, wir alle müssen Lehren ziehen. Erst wenn ein echtes Vertrauensverhältnis besteht, ist der Faschismus endgültig geschlagen.

    Unsereinen betrifft die Literatur, meinte Zschiedert, da liegt vieles im Argen. Irina schob der Freundin einen Zettel zu. Wer redete da? Zschiedert oder sein akademischer Lehrer vom Germanistischen Institut.

    Die Älteren unter uns haben gewisse Bilder in Erinnerung, gewisse Klänge im Ohr, klirrende Fensterscheiben, die Verbrennung von Büchern und Papieren, was an die Tage nach dem Reichstagsbrand erinnere, die Zschiedert nicht gesehen haben konnte. »Wir in Deutschland kennen die Weise, den Text und die Herren Verfasser.«

    Böckler schnipste, fragte, wer? Was?

    Weiß es jemand, fragte Zschiedert. Wer noch außer Herrn Eichler? Fräulein Großmann. Heine. Genauer?

    Wintermärchen.

    Sollte ein angehender Bibliothekar wissen. Vieles liegt im Argen. Zschiedert erinnerte an die große politische Rede, die Thomas Mann zu seinem 75. Geburtstag gehalten hat, in der er über die Sowjetunion sagte, wenn nichts anderes ihm Achtung geböte, so wäre es diese Gegenstellung zum Faschismus italienischer oder deutscher Färbung.

    Gertraude Schubert unterbrach. Meine Wirtin sagt, die Arbeiter waren es, die Leute selber hab ich nicht gesehn, wir durften ja nicht raus.

    Wer durfte nicht raus?

    Du warst vielleicht draußen, ich nicht, Rudi, ich hatte nicht mal ’ne Decke beim In-der-Schule-schlafen.

    Musst du doch zugeben, dass wir ziemlich eingesperrt waren, sagte Waltraud Arlt.

    Dafür wart ihr in Sicherheit.

    Die Diskussion lief auseinander. Nicht alle durcheinander.

    Arbeiter, richtige Arbeiter? fragte Pockrandt. Mehr konnte er nicht sagen, Zschiedert kam ihm zuvor: Darüber sollte man sich nicht täuschen.

    Mitläufer gab es auch, Unentschlossene, sagte Evelyne Fehrmann.

    Arbeiter sind gegen unsere Staatsmacht aufmarschiert. Die Partei schätzt ein, dass sozialdemokratische Losungen aus faschistischen Händen in einer faschistisch gelenkten Bewegung vorangetragen worden sind, erklärte Pockrandt.

    Friedhelm mit hängenden Schultern hörte zu. Irina hatte Walter im Blick. Du sagst dazu nichts, redeten ihre Mandelaugen. Sie nahm ein Spiegelchen zur Hand, als müsse sie feststellen, ob sie noch da war.

    Wir müssen Lehren ziehen, das Volk, Zschiedert stockte, als würde eine Waage für Sagbares vor ihm stehen. Die Regierung aber auch. Er kritisierte das Banausentum in der Literatur.

    Ich geh mal aufmachen. Irina ging zum Fenster, vorbei an Walter, der sich mit einem Löschblatt Luft zufächelte.

    Schreckensherrschaft der Sonne, wie Jorge Amado sie beschreibt, sagte Harry Matter, der Amado bewunderte. Immer diskutieren dieselben, vieles muss geändert und verbessert werden.

    Das nehme ich auf, sagte Pockrandt. Fehler haben das Vertrauen der Werktätigen erschüttert. Daran ist unsere Organisation mit Schuld. Noch mehr Schuld trägt die FDJ daran, dass sich viele Jugendliche am 17. Juni von den Provokateuren zu unüberlegten Aktionen und Demonstrationen haben verleiten lassen. An der Schule haben wir das verhindert.

    Willst du damit sagen, wir wären fähig gewesen, uns hinreißen zu lassen? Das verbitte ich mir.

    Mit Aufstehen hatte Gernitz angefangen. Irina blieb sitzen, als sie das sagte.

    Pockrandt ist gefährlich, meinte sie hinterher, der schreibt mit, wenn er sagt, ich formuliere das gleich mal, und einen festnagelt.

    Pockrandt dankte den Sowjetsoldaten, den Volkspolizisten, den Kameraden der KVP, der Kasernierten Volkspolizei, die den »Tag X« verhinderten, der die Deutsche Demokratische Republik zum Tummelplatz von asozialen Elementen und Faschisten gemacht hätte.

    Willi Zschiedert, den Kopf gesenkt, ließ den Erguss über sich ergehen.

    Gernitz meldete sich.

    Sie, bitte.

    Warst du eher, Walter?

    Gernitz redete parteigemäß, bis er aufhörte. Walter Döring sagte, er hätte sich gar nicht gemeldet. Im Kabuff hatte er zu Friedhelm mal gesagt, wenn einer in der Klasse ein Prolet ist, bin ichs. In der Werktätigenklasse zu sein, fand er, wäre eher keine Empfehlung.

    Harry Matter meinte, am 17. Juni habe sich in einer entscheidenden Stunde eine Stimmung geäußert, wenn auch nicht als Unterstützung der Provokateure, aber als bedenkliche Lethargie, weil Kritik und Selbstkritik, dieses unverzichtbare Prinzip, nicht mal in Ansätzen sichtbar geworden wären, in unserer Klasse auch nicht. Harry nahm die Brille ab, wenn er aufgeregt war: Die Regierung habe jetzt den Anfang gemacht, was nur ein Anfang sein könne.

    Es klingelte Pause. Pockrandt hielt sich nicht dran. Die Niederschlagung am Siebzehnten hat den Dritten Weltkrieg verhindert, sagte er jetzt. Unsere Jugendorganisation, die voller Vertrauen die Politik der Partei und der Regierung unterstütze, müsse grundlegend ihre Arbeitsweise ändern, auch unsere Gruppenleitung.

    Pause! Gilt auch für dich, Klaus!

    Grundlage dafür soll die Aussprache – Gertraude stand auf, blieb stehn – über den Bericht der Leitung zum Umtausch der Verbandsdokumente sein, auf der wir unter Anwendung von Kritik und Selbstkritik zu allen Erfolgen und Fehlern offen Stellung nehmen werden.

    Zschiedert hatte die Tasche schon in der Hand, als er sagte: Es war ein Fehler, dass wir mit der Regierung nicht längst offen und rückhaltlos gesprochen haben. Was er über die Bonzen, das kunstfeindliche Banausentum, die bürokratischen Kunst- und Literaturdiktatoren gesagt hat, meinte Friedhelm nach dem Mittagessen, traut sich nicht jeder.

    Wie sich herausstellte, hatte Pockrandt das Mitgliedsbuch der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft eingebüßt, verloren und zeigte den Verlust bei Böckler an, der DSF-Vertrauensmann war. Weggeschmissen wird ers haben, behauptete Gerlinde Otto, die sonst nie redete, als sie für sich waren.

    Brigitta als FDJ-Sekretär beantragte Ersatz.

    5

    Ich traue niemand, dich ausgenommen, aber auch nicht unbedingt. Gershwin traue ich, meiner Erfahrung

    »Wir waren in großer Sorge, weil keine Post kam, nun sind wir beruhigt. Hier ist alles ruhig, auch in Pirna, wo ich am Sonntag mit Lene, die mich fein bewirtet hat, einen schönen Schiffsausflug machte«, schrieb Mutter, »und vergiss Vaters Geburtstag nicht.«

    »Nicht Worte – Taten entscheiden«, blieb an der Wandzeitung hängen. Die Niederschlagung hat den III. Weltkrieg verhindert, glaubst du das? Pockrandt genießt, wenn jemand seine Artikel liest, meinte Johannes, und Böckler stellte sich an die Wandzeitung. Na, ihr, lachte Irina, steht alles in der Zeitung, mein Wirt sagt, man muss die Zeitung richtig lesen. Wolfgang liest bestimmt, stichelte sie.

    Wat meinst?

    Ob du Zeitung liest? Hannes zeigte mit dem Finger drauf. Ob du Pockrandt gelesen hast? »Wir müssen in Zukunft unsere Beziehungen zueinander kameradschaftlicher gestalten. Leitsatz in unserer Arbeit soll hierbei der Satz sein: Nicht Worte – Taten entscheiden! K. Pockrandt.« Schwungvoll hat er durchgezogen, das P, sagte Irina.

    Margot Röbke stellte sich vor Pockrandts Aufruf hin. Zu lang, was du da aufgesetzt hast. Brigitta ging nachprüfen.

    Denkst du, dass wir übernommen werden? Davon gehe ich aus, Margot. Bei dir wäre ich mir nicht so sicher, sagte sie, als Klaus sich einmischte. Der lachte. Brigitta war Gruppensekretär, er ihr Stellvertreter.

    Deine Überzeugung möchte ich haben, Klaus, dass wir übernommen werden, weil wir Arbeiterkinder sind. Bei der Disziplinlosigkeit vielleicht die Hälfte. Meinst du mich, Harry? Ohne Brille wirkte Harry Matter richtig hilflos. Dich auch, Klaus. Mich ärgert, dass ihr, Rudi, du, regelmäßig zu spät kommt.

    Die Stunde fing an. Rolf Recknagel behandelte Jack London. Wir reden in der Pause, sagte Friedhelm.

    Die meisten halten Abstand, meinte Regina in der Pause. Ich sehe, wie Pockrandt um Brigitta rumschwirrt. Denkst du, der glaubt dran, was er redet?

    Bin ich der liebe Gott, Regina? Ich traue niemand – und Johannes ansehend –, dich ausgenommen, aber auch nicht unbedingt. Gershwin traue ich, meiner Erfahrung.

    Wenn du genauer hinguckst, was Irina sagt, stimmt. Es hat sich was verändert seit Juni, die ganze Schule, überall. Ich sehs an Wolframs. Was ist mein Mann erschrocken, sagte Frau Wolfram, der war auf dem Bahnhof. Da hat das Erschrecken angefangen.

    Die Verbandsdokumente waren umgetauscht. Das war Beschluss. Die halbe Klasse bestand aus Leitungsmitgliedern, hatte Posten, Funktionen, bloß Irina nicht.

    Das Antilopenhafte an ihr sind die Augen, behauptet Friedhelm.

    Klaus Grimm hatte den Sport unter sich. Walter Döring redete über Fußball, Rudi auch. Gernitz war mit seinem Rauchen schwer zu ertragen, genauso wenig, wenn er politisch wurde. Seine Stärke war Erzählen. Stehe ich doch gestern am Potsdamer Platz, mir gegenüber ein Heimkehrer. Sie redeten. Krieg, nie wieder! Die Bahn rollte durch Trümmer. Überall ist was Buntes angeklebt. Im Leben geht’s immer weiter, wenn du am Leben bleibst. Auferstanden aus Ruinen. Das Lied war gemeint. Sie bedienten sich von seiner Packung.

    Döring dachte vielleicht an den Heimkehrer, denn er fing zu erzählen an. Als es aus war, war ich im Seekreis, im Mansfeldischen, da gings nach dem Zusammenbruch bloß ums Essen, ums Überleben, Wäsche. Die Flüchtlinge konnten sich nicht mal die Hände abtrocknen. Den Umsiedlerzug seh ich vor mir, die hatten nichts. Da sind die Genossen zu den Russen hin und mit die (er meinte die Genossen) zu den Nazis, den ehemaligen. Gebt für die Schuld, die Ihr habt, wenigstens Wäsche her, was klappte. Die Dolmetscherin kriegte von den Russen zur Belohnung ein Schneiderkleid, ein richtiges Kostüm war das.

    Russen? Das Wort missfiel Pockrandt. Für mich sinds Russen, darauf bestand Döring, sagen doch alle. Hast du was andres gehört, als sie eingerückt sind mit ihre Panzer? Die Dolmetscherin zog sich gleich aus. Die hab ich in Schlüpfern gesehn, die erste Frau, die ich in Schlüppern gesehn hab, damals zur Anprobe, außer Mutter. Das Kostüm musste auf die Kommandantur hingebracht werden. Walter erwähnte ein russisches Ehrenmal.

    Sowjetisches, kartete Pockrandt nach, was Walter ignorierte.

    Die Schneiderin war meine Oma. Dirwegen hab ich den Faden verloren! Beim Essenausgeben hatte er den Faden wieder. Dass Oma sagte, »Bonzen gingen, Bonzen kamen – Amen«, kann Mutter bezeugen.

    Übers Wochenende fuhr Walter zu seiner Frau. Den haben sie aus der Chemie von der Arbeit in die Partei geholt, von der Partei in die Bücherei. Walter ist delegiert, ich auch, sagte Friedhelm, deshalb sind wir Werktätigenklasse.

    Die sich mit der Besatzung einließen, gabs die bei euch auch?

    Im Kabuff stand die Luft. Walter überhörte die Frage. Die machten es für Speck und Brot, sagte Walter zu Friedhelm, als sie an der Haltestellte standen. Manchmal klebten Zettel am Lichtmast. Mit Maschine getippt. Hure, dazu der Name. Meist haben Hitlerjungs geklebt, sagte Friedhelm, als wäre er dabei gewesen.

    Walter hatte die Demontagen erlebt, die Bodenreform, Neubauern, die Vertriebnen. Die Bauern sahen das ganz negativ, kein Spannvieh, keine Kühe, keine Gebäude. Verhaftungen durch die Russen. Die Russen haben hier manches Kind gemacht für Brot oder was andres. Wer will das auseinanderhalten? Die Demontagen werden totgeschwiegen, sagte Walter, die ganzen Russengeschichten.

    Ich hab in Bautzen am Bahnhof die ausgeglühten Panzer gesehn, in denen wir rumgekrochen sind, und auf den Bahnsteigen die Holzkisten, reihenweise, meist Maschinen.

    Im Kopf lief vieles ab. Als wäre alles auf einmal passiert. Sie redeten über Russenfilme. Tschapajew, Lenin, die Stalinfilme. Warm wars im Kino. In Gefangenschaft hat Vater Klaviere abgeladen, auf freier Strecke, runter damit, die Wagen wurden gebraucht, und ein Kamerad hatte sich über die Tasten gebeugt, das Klavier wimmerte.

    Saß man in der Straßenbahn, verschwand zuerst die Bibliothekarschulvilla vor lauter Grün und dicken Kastanien.

    Am Lindenauer Markt stieg er aus, erinnerte sich an die Plakate und vielleicht an Klaviere, die durch Birkenwälder rollten. Friedhelm stichelte: Kannst die Demontagen in Gewi ja anbringen. Walter Döring winkte ab. Die stören den Aufbau bis heute, bloß niemand redet drüber.

    Hast du eine? Solche Fragen stellte Friedhelm mitten im Gespräch, wenn er nicht weiter reden wollte, da sprang dann eben das Gespräch hin und her.

    Schreib, wie du dich nach ihr sehnst. Dass du von ihr träumst, dass sie neben dir liegt, wenn du aufwachst, blank wie eine Münze, du willst sie küssen und beißt ins Betttuch. So redete Friedhelm. Eines Tages wird deine Ruth angefahren kommen, und Wolframs werden den Besuch unterbinden. Wenn das pasiert, komm zu mir, ich zieh für paar Tage aus. Nimm sie, oder sie fliegt einem anderen zu, wenn du sie nicht bissel heiß machst. Frauen sind so, die brauchen Liebe.

    Am Himmel hinter der gestutzten Linde vom Hinterhof der Lützner 75 stand der Mond. Da waren viele Hinterhöfe entlang der Lützner Straße. Die Vögel waren verstummt. Er hörte Wolfram sagen, Mutter, isch gehe los.

    Einen Toten hatten sie durch die Stadt getragen, bedeckt mit abgerissenen Blumen. Den hatte der Wolfram gesehn, die Panzer auch, die in den weichen Asphalt drückten. Uta Schäfer behauptete, Luftgewehre wurden gleich an die Hauswand geklatscht.

    Warum kann ich nicht schlafen? Wegen Harry? Das war gestern. Wegen Regina? Weil ich so blöde war. Er trank den Tee gleich aus der Kanne. Was sich neckt, das liebt sich, hatte Irina gerufen. Ein Stück Gurke war geflogen. Harry hatte die Gurke abgekriegt, die Regina treffen sollte. Was sich neckt. Harry kapierte das nicht. Er spielte sich auf und stellte sich an die Wandzeitung. »Befinden wir uns unter Rind-, Schweine- oder Hühnervieh? Die Frage ist berechtigt, wenn es vorkommt, daß sich einige Freunde, vor allem Regina und Johannes, so benehmen, als ob sie sich dazu rechnen. Oder ist eine neue Sportart des Gurkenwerfens eingeführt worden? Als Sportfunktionärin ist es doppelt beschämend, sich so albern zu benehmen. Wir hausen doch nicht in einem Stall.«

    In der Pause schnitt sie Harry den Weg ab. Passt dir wohl nicht, dass du mit uns in einer Klasse bist? Regina wütend, was Johannes nicht verstand. Irina hatte die richtige Einstellung, sie winkte ab.

    Er machte das Fenster weit auf. Bloß von der Straße kam Licht, ab und zu war ein Auto zu hören, sonst vollkommene Ruhe.

    Du kannst doch nicht im Ernst behaupten, dass wir mit Nahrungsmitteln um uns schmeißen; Harry, sagte ich ihm, das bissel Gurke, ungenießbar war sie außerdem, und da hat der dumme Harry, sagte Regina, sich aufgeblasen, als er behauptete: »Die Reinemachfrauen haben es nicht nötig, Gurken aus Papierkörben und Ecken zu klauben. Mein Sprachschatz hat noch schönere Wörter, ich sage, mit Ferkeln muß man in ihrer eigenen Sprache reden«, sagte Harry.

    Zu der Zeit standen an der Elsterbrücke die schweren Panzer.

    Hannes hat Spaß gemacht, mischte sich Irina ein. Warum, das möchte sie nicht beleuchten, und du hast was abgekriegt, was sie zurückgeworfen hat, mehr wars doch nicht.

    Regina lenkte nicht ein. Mich kannst du kritisieren, Harry, aber nicht mit solchen Übertreibungen, sonst gehe ich durch die Schule und zeige allen, wie der Jugendfreund Matter unsere Klasse in ein schlechtes Licht rückt. Der gab zurück: Wir bringen es nicht einmal fertig, in einer Gruppe von achtundzwanzig Personen Ordnung zu halten. Wie sollen Partei und Regierung im Land Ordnung schaffen, wenn bei uns keine herrscht.

    Warum hat Matter diesen Streit angefangen und ist politisch geworden?

    Auch Gernitz hatte sich eingemischt. Ihr seid nicht im Recht. Es ist eine schlechte Auffassung von Ästhetik, mit Nahrungsmitteln herumzuwerfen, und wenns nur ein Stück Gurke ist. Disziplinverstöße darf die Klasse nicht hinnehmen. Harry zeigt, dass die Arbeiter uns zeigen, wie man das macht, setzte Pockrandt fort.

    Unästhetisch benehmen, was soll denn das sein? Das kam von Friedhelm. Wisst ihr überhaupt, was Ästhetik ist?

    Sie lachten, bloß Matter nicht. Regina wehrte sich noch. Was Harry aufgesetzt hat, ist Quatsch, wenn du meinst, die Küche wird keine Nahrungsmittel mehr geliefert bekommen, ist doch Quatsch, wenn du das behauptest.

    Wer sich nicht erziehen lässt, mit dem muss man anders reden, zuerst ist das die Wandzeitung, dazu stehe ich. Erklärt, dass ihr die Fehler einseht, dass sie nicht wieder vorkommen.

    Sie verzog den Mund. Gefällt dir nicht, Regina.

    Friedhelm hat recht, es sind Übertreibungen.

    Irina sprach für alle. Wenn Klaus die Drohung mit den Arbeitern nicht zurücknimmt.

    Was für eine Drohung?

    Na die. Vielleicht haben wir uns missverstanden, Klaus.

    Heise auf seinen Prothesen war hereingestiegen in den Dachraum, der diesen Querbalken hatte, über den jeder stolperte, der sich nicht auskannte. Hier geht’s heiß her, sehe ich.

    Als müssten die Reinemachfrauen Gurken aus Papierkörben ziehen, wiederholte sich Regina, als ob sie Matter überzeugen könnte. Ich würde die Werktätigen missachten, behauptest du, die Frauen hole ich hoch, Harry, ein Stückl Gurke (sie redete schlesisch), mehr wars nicht, und ungenießbar war sie außerdem.

    Die Stunde war zu Ende. Hört auf, Kinder! Friedhelm hob die Hände. Die Pause ist viel zu kurz.

    Ich behaupte ja nicht, dass mein Verhalten richtig war, trotzdem übertreibst du, wenn du uns an der Wandzeitung angreifst. Mit Nahrungsmitteln herumwerfen, weil wir angeblich nicht wissen, wie kostbar sie sind, lasse ich nicht auf mir sitzen.

    6

    Der Siebzehnte hatte sie unvorbereitet getroffen. Sie vertrauten einander noch weniger. Höchstens, die sich küssen, feixte Friedhelm. Gernitz gibt die Linie vor

    Sonnabend Mittag. Irina packte ihre Tasche. Matter will was zu bestimmen haben. Walter verabschiedete sich. Der Streit um die Gurke interessierte ihn nicht.

    Friedhelm rauchte draußen. Alles wird besser, die Zeitungen sind voll. Grotewohl soll gesagt haben, die Regierung hat den Karren in den Dreck gefahren.

    Irina mit spitzem Mund: Was sagt uns das? Ohne Wandzeitung findet nichts mehr statt.

    Ich weiß, was du sagen willst.

    Sie zog die Augenbrauen nach. Hängst du dran, musst du dich verteidigen, und das Kollektiv wächst.

    Sie gingen zur Straßenbahn. Ist dir was aufgefallen? Die sagen nichts mehr. Die blassblonde Margot ist so eine. Sie hat kühle Hände, sagt der aus der Abiturklasse, der sie geküsst hat, ich könnte sie nicht küssen, die Margot, meinte Hannes.

    Dieser ganze Quatsch fällt einem ein, wenn man nicht einschlafen kann, und Matter, der mir völlig egal sein kann, geht mir auch durch den Kopf, statt das wegzuschieben.

    Wichtig ist, dass der Vorkurs übernommen wird, hatte Friedhelm gesagt. Denkt ihr, dass sich noch was ändert?

    Der Siebzehnte hatte sie unvorbereitet getroffen. Sie vertrauten einander noch weniger. Höchstens, die sich küssen, feixte Friedhelm. Gernitz gibt die Linie vor. Wer steckt hinter Pockrandt? Die in der SED sind, wissen, wenn was brenzlich wird. Beim Hitlerattentat war das so, ich Pimpf. Wie ich dich kenne, wirst du ihnen nicht auf den Leim gehen. Attentat wirds keins mehr geben. Wie auch?

    Seit Juni hatten sie den Fachschülerausweis bei sich zu haben. Besucher waren an- und abzumelden. Wer zu spät kam, hatte den bewachten Eingang zur Rathenaustraße zu benutzen. Mit der Zeitungsschau begann der Unterricht. Die Leitung arbeitete eine neue Schulordnung aus.

    Die Fähigkeit zur Selbstkritik muss man erwerben, erklärte Rudi. Die Woche hatte begonnen. Damit Frieden ist, hängt ihr eine Selbstkritik ans Brett, riet Friedhelm, und Matter hat seinen Willen. Schon eingeleitet. Wer schreibt? Ich. Dann formulierst du. So war Regina. »Der Begriff Gurken, den Kollege Matter gebraucht, bezieht sich zur näheren Erklärung für die Leser unserer Wandzeitung nur auf einen Teil einer ungenießbaren Gurke, wir bitten Freund Matter in Zukunft keine solchen Übertreibungen zu gebrauchen.« Matter spinnt, setzte sie nach.

    Du Ferkelchen! Mir geht der Matter so auf die Nerven, sagte Irina.

    »Durch die Anschuldigungen wird ein schlechtes Licht auf unsere Klasse und vor allem auf uns geworfen, Als ob wir jede Pause mit Gurken schießen.« Muss rein. »Abschließend möchten wir nochmals betonen, daß wir unsre Fehler einsehen, diese nicht wieder begehen werden, und bitten die durch unser undiszipliniertes Verhalten Betroffenen um Entschuldigung.«

    Eigentlich erkenne ich keinen Fehler, sagte Regina und unterschrieb.

    Denkst du, ich?

    Liest sowieso nur der dämliche Harry. Sie hatte erdfarbene Augen, wirklich, und Sommersprossen.

    Harry hatte der Klasse Disziplinlosigkeit vorgeworfen. Diskussion wolle er keine neue entfachen, was sie nicht als Schwäche verstehen sollten. Gewiss gäbe es noch mehr Freunde, die nicht ganz unbefleckt wären, nicht immer richtig handeln. Er bemerkte nicht, dass er sich wiederholte. Unsre Klasse sei vital, bringe Elan auf, was kein Jugendfreund bestreiten werde. Das trage die Frucht des Gemeinschaftsgeistes, was beweise, dass Ausgelassenheit und Fröhlichkeit durchaus positiv gewertet werden können.

    Irina sagte, wenn ich Harry wäre, würde ich, was sie über uns sagen, als Kritik lesen. Am Nachmittag war’s, als sie drüber redeten, Friedhelm am Flügel, Zigarette im Mundwinkel, raste die Zwölfte Straße runter, ließ sich austrudeln. Was Harry will, Hannes, ist mir nicht ganz klar.

    Böckler kam an, Skatkarten in der Hand. Friedhelm band ihn fest mit Ka-linka, ka-linka, ka-li-ni-ka moja. Das hatten sie im Ohr, die Soldaten, die Russen. Wolfgang strahlte, weil sie das in Meckelnburg auch liebten. Sie warteten auf ihn in der Veranda. An der Wand die oberste Pionierleiterin. Pockrandt behauptete, sein Vater würde sie gut kennen.

    An diesem Nachmittag kam die Rede auf einen Artikel im »Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel«, den niemand gelesen hatte und der, wie sich herausstellte, im Lesesaal der Deutschen Bücherei unauffindbar war, das Schul­exemplar auch. Ich komme nicht ran, bedauerte Evelyne Fehrmann, die immer das Neueste hatte. Die nehmens mit in den Urlaub, vermutete sie.

    Man muss den Artikel erst mal haben. Staat und Partei hätten sich von den Massen entfernt, stand drin, mit dem 17. Juli sind die Fehler nicht automatisch abgestorben. Auch, dass Missstände von kritiklosen Jasagern verschwiegen werden, behauptete Irina.

    Der aus der Abiturklasse mit Hannes Fußball spielt, hat den Artikel bekommen, von dem, der Jungen, die übrig blieben geschrieben hat. Arbeiter haben sich gegen Missstände gewehrt, gegen die Normen. Das Negative wird in den Zeitungen verschwiegen, Positives aufgebauscht. Wer nicht einverstanden ist, wird an die Wand gedrückt. Nicht jeder ist ein Agent. Wir müssen zuhören, lauschen, was die Massen sagen, das Wort kommt vor.

    Die Namengebung für Loest war untergegangen. Brigitta war vielleicht froh, dass das Börsenblatt fehlte.

    Der Artikel wäre von Anfang Juli, sagte Pockrandt später.

    Am 13. Juli begann die Eignungsprüfung. Alle bestanden. Am 28. Juli war Zeugnisausgabe. Friedhelm ließ die Hand auf Böcklers gesunde Schulter fallen. »Denn man tau.« Dass der Schulleiter jedes Zeugnis zweimal unterschrieben hatte, fiel ihm als erstem auf, mit Rotstift als Schulleiter und ohne Rotstift als Vorsitzender der Prüfungskommission. Der Generalissimus trägt Weiß.

    Es war heiß, als sich Friedhelm mit dem rosa Doppelblatt Kühlung zuwedelte. »... doch die Schule ist nur eine Vorstufe, die wirkliche Schule der Kader erfolgt in der lebendigen Arbeit außerhalb der Schule bei der Überwindung von Schwierigkeiten.«

    Sie waren Fachschüler, und einen Tag später fingen die Ferien an.

    Kannst dich besaufen, Walter.

    Mach ich. Ich stelle mich vor Steudel hin, erstatte Meldung.

    Walter hielt Steudel für einen Spieß. Soll Klempner gewesen sein. Rudi qualmte. Stimmt, sagte er.

    Weiß das auch die Partei, fragte Friedhelm. Wie kommst du drauf, dass er Spieß war?

    Weil ich Soldat war.

    Und woher willst du das wissen, Walter?

    Ich wars vielleicht auch. Wie der sich auf dem Absatz rumdrehte, wie Steudel, als er die Zeugnisse austeilte. Bei der Gelegenheit hab ich den Steudel erkannt, akkurat. Ich war letztes Aufgebot.

    War das noch im Krieg, Walter? – Wie’s zum Schluss war, den Vergleich musst du mir überlassen, Rudi, du warst in Italien, wir in einem Waldstück im Mansfeldischen. Der Spieß ließ uns stehen. Kümmert euch, war sein letztes Wort.

    Ich wollts von Rudi hören, sagte Friedhelm zu Hannes, der zugehört hatte. Bist ein Jahr älter und hast plötzlich ein anderes Schicksal.

    Klaus Pockrandt, das rosa Zwischenzeugnis in der Hand, kam ins Kabuff. »Es gibt keine Landstraße für die Wissenschaft, und nur diejenigen haben Aussicht, ihre hellen Gipfel zu erreichen, die der Ermüdung beim Erklettern ihrer steilen Pfade nicht scheuen. Marx.« Steht drunter. Böckler lief an, weil er nicht erkannte, dass Pockrandt Marx zitierte.

    Ihr redet von Wissenschaft, vielleicht treffen wir uns als Ferienhelfer wieder. Dich meine ich nicht, Rudi, sagte Irina mit ihrer typisch Dresdner Schnappe, bist bei der Partei bestimmt gut aufgehoben, und um dich, Friedhelm, bei den kleinen Mädels, mache ich mir auch keine Sorgen. Da lachten sie. Untersteh dich, du Lustmolch, rief sie und entschwebte.

    Glücklicher, fährst an die See. Johannes war in Prerow in eine Kinderbibliothek eingewiesen. See ist schön. Er erinnerte sich, dass Ruths Vater auf einem Schnellboot gefahren war. Die Jansens waren Norddeutsche, die es in die Oberlausitz verschlagen hatte, er als Arzt. Meine Großeltern waren da, wo sie immer schon waren, viele sind als Soldaten bloß irgend wohin gestiefelt. Theodor Patzig war bis an den Rhein gekommen, auf Wanderschaft. Vaters Großvater war beim Militär in Dresden, zuletzt Stellvertreter. Die Einzelheiten bring ich nicht zusammen. Die Aufständischen beim Maiaufstand hatten ihm die Mütze heruntergeschossen.

    Die Ostsee ist was andres, für mich ist Riga die Ostsee, hatte Vater gesagt, wo wir gebadet haben, ohne alles. Werdet ihr vielleicht nie sehn, Riga, der Krieg hat uns das verdorben. Denke ich an Riga zurück, sehe ich diese Dünenlandschaft, die Küste, höre die Stille, die es in diesem fürchterlichen Krieg auch gab, als Leningrad eingeschlossen war. Wenn Vater erzählte, hatte der Himmel plötzlich Farbe, die es in seinen Briefen nicht gab, wo kein Platz zu sein schien für die See, die Himmelsfarben, die Wolkenberge. Riga, unvergesslich, alles weg, dahin, verloren in dem unseligen Krieg.

    Ich bin neugierig, wie die See aussieht, dachte Johannes, als er Irina zur Straßenbahn rennen sah.

    In Prerow erlebte er dann, als er über die Düne gewatet war und die See vor ihm lag, was das war, nicht blau, sondern graugrün, reglos bis an den Horizont und in Silber verschwimmend – die See. Er brachte kein Wort heraus.

    Der lange Sommer hatte angefangen. Ruth saß in der Apotheke fest, er im Ferienlager. Dieser Ansturm in der Lagerbücherei, täglich Bücher. Volkswerft Stralsund war in jedes Buch eingestempelt. Verirrte Bücher gabs, mit denen die Volkswerft nichts anzufangen wusste, Georg Lukács, gelbe Pappbände, dessen Zerstörung der Vernunft ein dicker Band war für schwierigstes Lesen.

    Gedichtbändchen sammelten sich im Regal der Ferienlager-Bücherei, in denen blätterte er. Ein Gedicht nahm ihn gefangen, von Preczang: Zum Lande der Gerechten. Er schrieb es ab. Nie gehört, sagte Friedhelm.

    Versunken ist das alte Leid, / Die Nöte, die uns knechten. /

    Wir fahren in die neue Zeit / Zum Lande der Gerechten. /

    Uns trägt die Flut, / Uns stählt der Wind, /

    Uns treibt die Glut / Der Herzen, die voll Wunder sind. /

    Land ahoi!

    Im Gedicht vom Menschen von Kurt Bartel (Kuba) blätterte er.

    Am Eingang zum Ferienlager war die Fahne aufgesteckt. Eine breite Einfahrt, Holzsäulen. Irgendwie fremd. Ist russisch, sagte Vater, als er davon hörte. Dahinter große graue Zelte, Wimpelleinen.

    Wie ein Kartenspiel wurden die Jungen Pioniere zusammen- und auseinandergelegt, vom Aufstehen bis zur Nachtruhe, wenn einsortiert wurde. Tagsüber waren die Zelte, außer bei Mittagsruhe oder Regen leer, die Decken zusammengelegt. Draußen Sand. Viel Halstuchblau, das vom Lagergrau abstach. Wehrmachtzelte, übriggebliebene, meinte Friedhelm, vielleicht, denn von wo sollen die sonst hergekommen sein, vielleicht hat Rudi drin gelegen oder welche von den Jungen, die übrig blieben, wie Walter Döring, bei dems im »Arbeitsdienst« angefangen hatte. Das muntert die Zelte auf, wenn ich höre, wer in die weißen Hemden reingesteckt wird, als gäbs keine andern. Das erinnert mich an so viel. Das Halstuch denke ich mir weg, sagte Friedhelm, und Vater, als dieser lange Sommer vorbei war, sagte: In solchen Zelten haben wir gelegen, oh Gott, mein Gott, was haben sie nicht alles mit uns gemacht.

    7

    Auf einem der langen Bahnsteige rollte der Zug ein in die riesenhafte Hauptbahnhofshalle. Im Kopf meldeten sich die Schule, die Wandzeitung, das Kollektiv, der »Neue Kurs«

    Von diesen Septembertagen mit einem hohen sich im Blauen verlierenden Himmel war das einer und Stille. Wie weggewischt die Wolken, bis

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