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Die Flügel des Himmels: Ein Roman
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eBook341 Seiten4 Stunden

Die Flügel des Himmels: Ein Roman

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Über dieses E-Book

In Die Flügel des Himmels erzählt Li Bifeng die dramatische Geschichte einer chinesischen Familie, die in den Wirren der Kulturrevolution zu Grunde geht. Zhang Fafu sitzt zu Unrecht im Gefängnis, seine Frau bringt sich um, nachdem ihre Tochter sie bei den Funktionären der Kommunistischen Partei anges

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum26. Juni 2018
ISBN9783946611165
Die Flügel des Himmels: Ein Roman
Autor

Li Bifeng

Li Bifeng (李必丰), Jahrgang 1965, nahm 1989 an den Studentenprotesten teil und wurde anschließend zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Mit 48 Jahren wurde er erneut verurteilt, weil er einen Bericht über die Proteste von Textilarbeitern verfasst und einer Menschenrechtsorganisation zugespielt hatte. Zuletzt wurde er von den Behörden verdächtigt, seinem Freund Liao Yiwu (廖亦武) bei der Flucht nach Deutschland geholfen zu haben. Zurzeit ist er wegen angeblicher „Wirtschaftskriminalität" inhaftiert.

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    Buchvorschau

    Die Flügel des Himmels - Li Bifeng

    Vorwort

    Werden in deinem Himmel noch Flügel sein?

    Liao Yiwu

    Ich habe viel über Li Bifeng geschrieben. Allmählich vergessen ihn dennoch die Menschen.

    Er wurde verhaftet, zwei Monate nachdem ich aus China geflogen war, der Wirtschaftskriminalität beschuldigt und zu zehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Er sitzt heute noch im Gefängnis.

    Dieser Mann, der insgesamt dreimal ins Gefängnis musste und zusammengerechnet zweiundzwanzig Jahre bekommen hat, sitzt heute noch in einer Zelle.

    Schreibt er weiter? Liefert er weiter Beweise, die ihn selber belasten? Lest, liebe Leser, seinen Roman »Die Flügel des Himmels«, der zum ersten Mal in einem Verlag erscheint.

    Die Erinnerung liegt weit zurück. Es war ein sommerlicher Samstagabend vor vielen Jahren. Hinter hohen Mauern schauten sich die Häftlinge im Freien einen uralten Film über die Revolution an. Wir saßen in der letzten Reihe. Plötzlich fragte er mich, ob die Menschheit gerade in ein schwarzes Loch im Universum hineingleitet, er habe darüber ein Gedicht verfasst, mehrere hundert Zeilen lang.

    Ich musste erst mal tief Luft holen.

    In seinem Roman schreibt Li Bifeng einmal wie traumtrunken: »Du bist ein Vogel, ein Lebewesen. Es gibt auf der Welt auch andere Dinge, die Leben haben. Wie zum Beispiel die Kohlen, die wir Häftlinge unter sehr schwierigen Bedingungen aus der Erde fördern. Auch sie haben Leben. Jedes Mal, wenn ich ein Stück Kohle in der Hand halte, weiß ich, dass das, was ich in der Hand halte, nicht nur ein Stück Stein, sondern etwas viel Bedeutungsvolleres ist: Es hat Leben. Das ist ein Leben, das Tausende und Abertausende von Jahren in der Dunkelheit der Erde gewartet hat. Wie zum Beispiel die Kohlen, die wir Häftlinge unter sehr schwierigen Bedingungen aus der Erde fördern. Auch sie haben Leben. Jedes Mal, wenn ich ein Stück Kohle in der Hand halte, weiß ich, dass das, was ich in der Hand halte, nicht nur ein Stück Stein, sondern etwas viel Bedeutungsvolleres ist: Es hat Leben. Das ist ein Leben, das Tausende und Abertausende von Jahren in der Dunkelheit der Erde gewartet hat. Jemand hat mich einmal gefragt, warum Kohlen brennen können. Die Antwort ist eigentlich sehr einfach: Sie sind nichts anderes als ein Beweis, den ein so lange in der Dunkelheit gefangenes Leben der Welt gibt, dass es fähig ist zu entflammen, zu zünden und zu brennen.«

    Das, was in den Augen anderer ein Stück Kohle ist, ist für ihn ein Leben, ein endlos langes Leben. Mit dieser Überzeugung beim Schreiben werden seine Schriften gewiss unvergänglich. Und diese unvergänglichen Schriften entstehen, während er unentwegt flieht oder im Gefängnis sitzt. Andere Schriftsteller und Dichter schreiben mit Hand und Gehirn, nur er mit den Füßen. Wenn sie gefesselt sind, überholt er uns dann auf den Beinen seines Geistes, um zwischen den Sternen dahinzustürmen und zu glänzen.

    Wenn nichts Unerwartetes dazwischenkommt, wird Li Bifeng im Spätherbst 2021 aus dem Gefängnis entlassen. Er wird 57 Jahre alt sein. 25 war er, als 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens ein Massaker angerichtet wurde. »Komm und kehr zurück / Die jugendlichen Jahre sind vergeudet / Als er die Heimat verließ / War er gerade mal fünfundzwanzig…«, so sang der taiwanesische Sänger Hou Dejian in einem Lied, das damals auf dem Festland ziemlich populär war. Es handelt von einem alten Veteranen, der nach der Niederlage der Nationalisten mit auf die Insel fliehen musste. Ob innerhalb oder außerhalb der Gefängnismauer, ob im Exil oder nicht im Exil, zwei ganze Generationen werden vergeudet oder gar vernichtet. Und damals, im Kugelhagel und bei entsetzlichen Schreien schrieb ich »Das große Massaker« nieder, und Li Bifeng »Auf der Erde ist es noch dunkler als auf dem Mond«.

    Mein lieber, verrückter Li Bifeng, werden in deinem Himmel noch Flügel sein? Wenn wir alt sind; wenn die kommunistische Diktatur uns für immer auseinanderreißt; wenn du mit deiner letzten Kraft kämpfst und dokumentierst; wenn dein Manuskript wieder konfisziert wird, wie deine letzten mehreren Millionen handgeschriebenen chinesischen Schriftzeichen; wenn du wieder angeblicher wirtschaftlicher Verbrechen beschuldigt wirst und ins Gefängnis musst… weit weg von den geliebten Menschen, dem Tod nahe. Werden dann in deinem Himmel noch Flügel sein?

    Dieser Roman spricht für dich. Er antwortet mit einem Ja. Auch wenn du es jetzt nicht hören kannst.

    Berlin, den 11. März 2017

    Roman

    Die Flügel des Himmels

    von Li Bifeng

    Mit 12 Illustrationen von Meng Huang

    Aus dem Chinesischen von Xiaoqin Su

    Ich werde fliegen

    1

    Nichts, in ihren Augen habe ich nichts. Keine Beziehungen, kein Geld, keine Kraft. Ich darf den Rest meines Lebens brav im Gefängnis verbringen, sonst habe ich nichts. Aber ich weiß sehr wohl, dass ich etwas habe. Ich habe den Himmel, die Sonne, den Mond, die Sterne, die fliegenden Vögel, die schwimmenden Fische; sie sind meine Freunde, meine guten Geister, die Tag und Nacht bei mir sind. Und meine Gedanken gehören auch mir. Die anderen Häftlinge reden den ganzen Tag über Frauen und masturbieren. Ich mache solchen Blödsinn nicht. Denn ich habe meine Gedanken und ich habe meine Fragen, über die ich nachdenken muss. Ich muss mich nicht wie sie mit den Händen oder einem Gleichgeschlechtlichen befriedigen. Der Volksmund sagt: »Um die mutterlosen Jungen kümmert sich Gott.« So besitzt einer wie ich, der nichts hat, ausgerechnet etwas, was ein gewöhnlicher Mann nicht hat. Ich habe bereits vor langer Zeit verstanden, dass auch ein Tropfen Wasser, eine Handvoll Erde oder ein Blättchen Leben hat. Mir ist es nicht langweilig und ich muss mir nicht wie die anderen Häftlinge mit der Hand das Verlangen stillen. Denn ich habe mein Vergnügen: Ich kann mit den Fischen, die im Wasser schwimmen, Blindekuh spielen; ich kann mit den Regenwürmern, die in der Erde sind, Spiele treiben. Ich kann außerdem den Blumen Geschichten erzählen.

    Jetzt aber wird alles, was vergangen ist, endgültig Vergangenheit sein. Du Himmel, du siehst für mich so reizend aus. Ich bin bereit, ich möchte mich in deine Arme stürzen. Ich werde in deinen Armen die Sonnenstrahlen, den Regen und die Nässe fühlen. Ich werde durch dich hindurchfliegen und zu dem Ort gelangen, nach dem ich mich Tag und Nacht gesehnt habe. Das ist ein sehr wunderbarer Ort, meine Frau, meine Tochter…

    Auf Wiedersehen, ihr süßen Gemüsepflänzchen und Setzlinge in der Erde. Ich habe euch zwar nicht auf diesem Dach gepflanzt, habe euch aber gegossen und das Unkraut, das zwischen euch wuchs, gejätet. Ich habe Gefühle für euch. Jetzt werde ich aber gehen. Ich kann nicht mehr wie früher das Ungeziefer eins nach dem anderen von euch entfernen, ich werde im nächsten Frühling auch nicht mehr die Erde für euch lockern können, oder während ihr blüht, mich zu euch stellen und mich an euren prächtigen Blüten erfreuen. Hoffentlich kommt nach mir jemand, der euch liebt und sich weiter um euch kümmern wird. Auf Wiedersehen, ihr unerzogenen Fischlein im Wasser. Ich gehe gleich und werde nicht mehr die Hände ins Wasser halten und genießen können, wie eure winzigen Münder meine Fingerspitzen küssen. Ich erinnere mich noch, dass ihr anfangs keine Notiz von mir nehmen wolltet. Ich erzählte euch trotzdem tagaus, tagein Geschichten, während ich euch fütterte. Da habt ihr eingesehen, dass ich gut zu euch war. Hoffentlich kommt nach mir jemand, der euch mehr als ich liebt und euch weiter füttern wird. Ich werde aber nicht mehr die Menschen daran hindern können, in eurem Teich zu angeln. In meinen Augen ist das Angeln die gemeinste Tat auf dieser Welt. Der Mensch nutzt seine Intelligenz, um Fische, die unbekümmert im Wasser schwimmen, hinters Licht zu führen. Schamloser geht’s nicht mehr. Jedes Mal, wenn ich beobachte, wie behaglich ihr im Wasser spielt und nicht wisst, dass der Teich, der eure Lebensgrundlage ist, in einem Gefängnis liegt, dann weiß ich, wie glücklich ihr wirklich seid und dass ihr diesem Gefängnis keine Beachtung schenkt. Ich trage jedoch dieses Gefängnis in mir, weil ich weiß, dass ich hier gefangen bin. Jetzt werde ich aber gehen. Ich werde auf meine Art und Weise dieses Gefängnis verlassen. Meine geliebten Fischlein, Insektchen, Kräuter und Gräser…, wenn ihr nur fliegen könntet, würde ich euch mitnehmen. Ich würde mit euch im Himmel frei und ungehindert fliegen. Ich würde euch mitnehmen, um dieses Gefängnis, diese Hölle auf Erden, hinter uns zu lassen und euch zu dem Ort bringen, an dem ich endlich sein möchte.

    Ach du, mein Vöglein, was ist mit dir? Ich werde gleich wie du fliegen. Findest du das, was ich tue, lächerlich? Ich werde fliegen, ich werde mit eigenen Flügeln wie du von hier hinausfliegen. Ich werde frei im Himmel fliegen, wie Menschen, die mit ihren zwei Beinen frei laufen können. Ich bin ein Krüppel geworden und kann nicht wie früher auf zwei Beinen aus dem Gefängnis weglaufen. Ich werde jetzt kraft meines Geistes und meiner Flügel ausbrechen. Wie fühlt es sich an, wenn man fliegt? Warum sagst du es mir nicht? Du undankbares Vieh, ich fürchte, du hast längst vergessen, wie ich dich gerettet und gepflegt habe und wie ich arg verprügelt wurde, als ich Nahrung für dich suchte. Du bist ein Tier, ich kann von dir nichts verlangen. Du könntest dich eh nicht revanchieren, egal was ich für dich getan habe. Aber warum bist du hierhergekommen? Ich dachte, wenn ich hier bin, werde ich dich nie wiedersehen. Du hast aber allein hierhergefunden. Warum missachtest du mich aber in einem Augenblick wie diesem? Das verstehe ich nicht. Geh weg, wenn du nicht mit mir sprichst. Starr mich nicht so an, ich weiß, was du mit diesem Blick sagen willst. Alles auf dieser Welt hat sein eigenes Leben, seine eigene Sprache und seine eigene Mimik. Ich habe deine Sprache und deine Mimik längst verstanden. Nur diese dämlichen Häftlinge um mich herum und diese dämliche Regierung glauben immer, dass nur Menschen Intelligenz besitzen. Ich denke nicht so. Seit ich damals, es war noch während der Kulturrevolution, auf die Vertreterkonferenz geschickt wurde und unsere Ausbilder uns beibrachten, wir sollten ein Problem von verschiedenen Seiten beleuchten, sehe ich die Dinge anders, als man es normalerweise tut.

    Du bist ein Vogel, ein Lebewesen. Es gibt auf der Welt auch andere Dinge, die Leben haben. Wie zum Beispiel die Kohlen, die wir Häftlinge unter sehr schwierigen Bedingungen aus der Erde fördern. Auch sie haben Leben. Jedes Mal, wenn ich ein Stück Kohle in der Hand halte, weiß ich, dass das, was ich in der Hand halte, nicht nur ein Stück Stein, sondern etwas viel Bedeutungsvolleres ist: Es hat Leben. Das ist ein Leben, das Tausende und Abertausende von Jahren in der Dunkelheit der Erde gewartet hat. Jemand hat mich einmal gefragt, warum Kohlen brennen können. Die Antwort ist eigentlich sehr einfach: Sie sind nichts anderes als ein Beweis, den ein so lange in der Dunkelheit gefangenes Leben der Welt gibt, dass es fähig ist zu entflammen, zu zünden und zu brennen. Die Dunkelheit kann alles in Gefangenschaft nehmen, in der Dunkelheit kann man die Kraft fürs Leuchten sammeln. Auch wenn man irgendwann in der Dunkelheit zu etwas gleich Aussehendem wie Kohle wird, wird man, wenn eines Tages die Bedingungen dafür reif sind, brennen und hell aufleuchten.

    Die Menschen um mich herum können das nicht begreifen, du umso weniger. Ich flehe dich an, mich nicht so anzustarren. Ich werde meine Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen und hinausfliegen. Ich werde ganz weit wegfliegen, einem Stück brennender Kohle gleich, die viele Jahre unter der Erde begraben war und für die nun die Zeit reif ist. Ich habe keine Flügel. Aber ich besitze in mir eine Kraft, die mich zu fliegen befähigt, ich werde fliegen. Wo ich hinfliegen will, bist du nie gewesen. Sobald es mir gelingt, von hier wegzukommen, solange ich noch einen Atemzug habe, will ich dorthin. Und das ist der einzige Grund, weshalb ich noch auf dieser Erde bin; es ist die einzige Kraft, die mich am Leben hält. Warum starrst du mich so an? Du Lümmel, machst du dich gerade über mich lustig? Machst du da dich wie sie über mich lustig? Sonst würdest du mich nicht mit so einem Blick ansehen. Verpiss dich. Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst dich verpissen. Der Mensch hat ein Zuhause, was hat ein wildes Tier? Richtig, ihr habt eure Nester und Höhlen. Warum gehst du nicht zu deinem Platz zurück? Warum bist du mir sogar ins Gefängnis gefolgt? Geh weg. Starr mich nicht unentwegt an. Mir ist es nicht geheuer, wenn du mich so ansiehst. Hau ab. Ich muss jetzt die Sache so schnell wie möglich allein zu Ende bringen.

    2

    Was machst du da? Warum hast du diese Sachen an deine Arme gebunden? Du hast mich früher immer wieder gebeten, dir zu zeigen, wie man fliegt. Was ist jetzt aber los? Du willst, dass ich weggehe. Was willst du aber machen? Ich kann nicht wie ihr Menschen sprechen, ich kann dich nicht ausfragen. Aber ich sehe an deinem nervösen Blick, dass du etwas in dir trägst, was euch Menschen nicht zusteht, was aber in diesem Augenblick offensichtlich wie eine Flamme in dir brennt. Ich kann fühlen, wie diese Flamme deinen ganzen Körper wie jene Fahne dort auf der Mauer flattern lässt. Ich starre dich an. Ich starre dich an, weil ich dir helfen möchte. Ich kann keine Worte hervorbringen, die dir helfen könnten, denn ich bin kein Mensch. Ich kann in diesem Augenblick die Zärtlichkeit nicht mehr sehen, die du sonst für mich empfindest. Dein Blick ist nicht mehr feucht und sanft. Er lässt das, was du gerade tust, aussehen wie eine Zunge, die hungrig und gierig leckt. Ich weiß nicht, was du leckst und frisst. Ist es wirklich so, dass diese blinde Wut in dir die Quelle deiner Gefühle ausgetrocknet hat? Ich verdanke dir mein Leben. Du hast mich vor dem Tod gerettet, seitdem möchte ich mich revanchieren. Aber wir können nicht miteinander reden, denn du bist ein Mensch, und ich bin ein Vogel, ich fliege im Himmel, und du läufst auf der Erde. Wir mögen uns, aber wir können nicht normal reden und unsere Gedanken miteinander austauschen. Ich wusste schon immer, dass du ein außergewöhnlicher Mensch bist. Ich sehe nicht nur oft, wie du mir dein Herz ausschüttest. Ich habe auch oft gesehen, wie du zu dem Wasser im Teich, zu den Fischen im Wasser und zu allen anderen Dingen hier sprichst. Jetzt sehe ich in deinem ruhelosen Blick, dass du in eine geistige Verwirrung geraten bist, aus der ihr Menschen keinen Ausweg findet. Du brauchst Hilfe. Ich möchte dir helfen, aber weiß nicht wie. Denn du bist ein Mensch, ich ein Vogel, wir können nicht miteinander reden. Ich sehe aber in deinen Augen, dass du jetzt Hilfe brauchst.

    3

    Ich werde gleich fliegen. Gut, wenn du nicht weggehen willst, kannst du mir gern beim Fliegen zusehen. Ich hatte mir in den letzten Jahren einiges ausgedacht, wie ich aus diesem Arbeitslager ausbreche. Aber jedes Mal haben sie mich auf der Flucht gefasst und schließlich ins Gefängnis gesteckt. Die Mauer des Gefängnisses ist hoch und die Überwachung streng. Meine Beine sind kaputt. Es wäre ein Märchen wie aus Tausendundeiner Nacht, wenn ich es schaffe, mit diesen Beinen aus dem Gefängnis wegzulaufen. Ist das mein Schicksal? Nein, ich lehne es entschlossen ab. Ich werde dieses Mal nicht wie bisher auf zwei Beinen laufen, sondern fliegen wie du. Ich werde aus diesem Gefängnis fliegen und dieses verdammte Loch endgültig hinter mir lassen.

    Meine armen Beine, dass ihr jetzt hinkt, ist nicht meine Schuld. Schuld waren die verdammten feindlichen Kräfte aus dem Westen. Diese Wichser wissen bestimmt nicht, dass sie mich zum Krüppel gemacht haben. Besonders wenn es regnet… oh, meine Beine! Was ich jetzt will, ist fliegen, wie ein Vogel fliegen. Ihr verdammten Imperialisten, was habt ihr in China zu suchen? Seht da, das habt ihr davon, dass die Studenten auf die Straße gegangen sind.[1] Damit nicht genug. Jemand hat sogar in dem ganzen Chaos das Porträt unseres großen Führers, des Vorsitzenden Mao, am Tor des Himmlischen Friedens beschmutzt. Wie ich mich gefühlt habe, als ich das im Fernsehen sah! Wenn ich vor Ort gewesen wäre, hätte ich die zwei Studenten gewiss mit meinen eigenen Händen gepackt. Aus keinem anderen Grund, als dass ich den Vorsitzenden Mao liebe.

    Die Studenten waren wirklich dumm. Wie konnten sie aber auch wissen, dass diese Regierung so ein Arschloch geworden ist und keine Rücksicht auf niemanden nimmt, wenn es darum geht, ihre eigenen Interessen zu verteidigen. Wenn sie dich für einen Umstürzler hält, wird sie dich einfach niedermachen, mit Panzern, mit Militärfahrzeugen. Ich bin mir sicher, wenn der alte große Vorsitzende Mao noch am Leben wäre, würde er mit Sicherheit alle verhaften lassen, die den Schießbefehl gegen die Studenten gegeben haben. Ich saß damals jeden Tag vorm Fernseher. Anfangs dachte ich noch, dass ein Umsturz bevorstünde, und wollte aus dem Gefängnis ausbrechen, besonders als ich sah, dass das Porträt des Vorsitzenden Mao beschmutzt wurde. Da wollte ich unbedingt den Vorsitzenden Mao verteidigen, auf meine Art und Weise, ein für alle Mal verteidigen. Später wurden die Studenten geschlagen. Da fühlte ich mich ziemlich nutzlos. Obwohl ich glaubte, dass die Regierung die Personen, die das Porträt des Vorsitzenden Maos beschmutzt hatten, gefasst hatte, war ich der Meinung, dass das wesentliche Problem nicht gelöst war. Ich bin sicher, dass es immer noch sehr viele Menschen gibt, die sich an dem Vorsitzenden Mao rächen wollen, nachdem er so lang tot ist. Ich glaube, dass unser großer Führer Schutz braucht. Unser großer Führer braucht Schutz von Untertanen wie mir, die ihm treu ergeben sind. So nahm ich eines Tages ein Stück weißes Papier und schrieb eine Parole, in der ich meine Anteilnahme für die Soldaten der Befreiungsarmee zum Ausdruck brachte, die den Platz des Himmlischen Friedens in Peking geräumt hatten. Ich wollte das Transparent aufhängen und so meine besten Grüße an die Soldaten ausrichten, die den Aufruhr in Peking beendet hatten. Ich besorgte mir eine Leiter von denen in der Behörde. Ein Militärpolizist, der Dienst hatte, hat sogar persönlich die Leiter für mich festgehalten.

    Mannomann, wenn man unbedingt jemandem die Schuld geben will, kann es wohl nur der Wichser, der Anti-Maoist Li Jingquan, sein.[2] Man sagte, er sei damals mit einem Helikopter hierhergeflogen und habe die Umgebung inspizieren wollen. Als er ein Landstück von oben sah, welches an drei Seiten vom Fluss umgeben war und dessen vierte Seite ein Berg versperrte, sagte er beiläufig zu den Leuten, die hinter ihm saßen: »Wenn man da ein Gefängnis baut, wird bestimmt keiner weglaufen können.« Li Jingquan warf so einen Satz dahin, und seine Untergebenen nahmen es ernst. Kaum war Li weg, fing man an, das Gefängnis zu bauen. Niemand konnte ahnen, dass Li Jingquan der Erste war, der gestürzt wurde, als die Große Kulturrevolution ausbrach. Er war auch der Erste, der in diesem Gefängnis saß. Dieser Hurensohn wollte Menschen schaden, am Ende war er selbst betroffen. Du Hurensohn warst wirklich bösartig. Wenn du unbedingt ein Gefängnis haben wolltest, musstest du die Außenmauer doch nicht so hoch bauen. Nun war ich dazu gezwungen, immer höher zu klettern. Als der Militärpolizist unten sah, dass ich, statt die Parole aufzuhängen, in die Richtung des elektrischen Stacheldrahtes hinaufkletterte, schien er auf einmal zu kapieren, was ich im Sinne hatte. Als er aber in die Trillerpfeife blies, hatte ich längst die Mauerkrone erreicht.

    »Komm runter! Wenn du nicht runterkommst, schieße ich!«

    Wen kümmerte es in diesem Augenblick, ob er schoss oder nicht. Ich fasste mit allen Kräften den Elektrozaun, der nicht an den Stromkreis angeschlossen war, und sprang, ohne einen Blick nach unten zu werfen, von der Mauer. Die Mauer war aber zu hoch. Plumps landete ich auf dem Boden wie ein Pisspott, der von der Mauer geworfen wurde. Als ich zu mir kam, war mein Bein gebrochen. Sie haben mich ins Gefängnis zurückgeworfen und mich ans Bett in der Zelle angekettet.

    Das war im Grunde nichts Besonderes, was ich da tat. Es gibt viele wie mich, genauer gesagt, viel zu viele Häftlinge wie mich, die in dem Augenblick, wenn sie gefasst werden, schon an die nächste Fluchtmöglichkeit denken. Um aber die anderen Häftlinge zu mahnen, entschied die Gefängnispolizei, aus mir ein lebendes Exempel zu machen. Sie ließen meine äußeren Wunder heilen, die gebrochenen Beinknochen aber unbehandelt. So wurde ich ein Krüppel, ein Behinderter. Danach dachte ich lange Zeit nicht mehr an Flucht. Aber mein Wille ist ungebrochen. Auch wenn ich nicht mehr richtig laufen kann, werde ich mir etwas Neues ausdenken, wie ich aus diesem Gefängnis ausbreche. Ich darf nicht hier sterben, das geht auf keinen Fall. Denn ich weiß, dass mein letztes Schicksal wie das derjenigen sein wird, deren Überreste in der großen Höhle auf dem Berg hinter dem Gefängnis liegen, wenn einer wie ich im Gefängnis stirbt, der keine Verwandten mehr hat.

    Weißt du, was für ein Ort diese Höhle ist? Ich bin mir sicher, dass keiner sich das vorstellen kann, wenn er noch nie da war. Ich war dort. Seitdem es dieses Gefängnis gibt, frisst diese einem weit aufgerissenen Maul gleichende Höhle unaufhörlich Menschen in sich hinein, die eines unnatürlichen Todes gestorben sind, die Leichen von den Gefängnispolizisten verbrannt, die Asche in einen Tonkrug gepackt, den Krug in die Höhle geworfen. Da bereits viel Zeit vergangen ist, weiß keiner mehr, welcher Geist in welchem Krug wohnt. Kurzum, es ist ein Haufen von hohen Mauern, von Elektrozaun und von Willkür und Macht zusammengetriebener armer Geister. Es riecht muffig in der Höhle. Wenn man sich ihr nur nähert, man muss gar nicht erst hineingehen, fühlt man, wie ein böser Wind auf einen zuströmt, als ob es unzählige Münder gibt, die an seinem Gesicht, sogar an seinem Herzen nagen. Ich möchte kein unschuldiger Geist sein. Ich will unbedingt von hier

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