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Im Schatten des Schwarms
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eBook303 Seiten3 Stunden

Im Schatten des Schwarms

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Über dieses E-Book

An einem Stuttgarter Hightech-Institut bringen bahnbrechende Entwicklungen auf dem Gebiet der Roboterschwarm-Forschung die chinesische Mafia auf den Plan. Sie gehen über Leichen, um an diese Technologie heranzukommen. Der Interpol-Agent Thomas Ohanzee wird auf der Jagd nach dem Mörder in unvorhersehbare, dunkle Machenschaften verwickelt, die ihn bis nach China führen. Dort erlebt er den Albtraum seines Lebens, in dem es um Leben und Tod geht.
SpracheDeutsch
Herausgebernexx verlag
Erscheinungsdatum11. Jan. 2016
ISBN9783958704541
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    Buchvorschau

    Im Schatten des Schwarms - Stephen Philipps

    Danksagung

    Impressum

    Autor:

    Stephen Philipps

    Titel:

    Im Schatten des Schwarms

    Cover Design: © Stephan Werner. Alle Rechte vorbehalten

    Verlag: nexx verlag gmbh. © nexx verlag gmbh, 2014 (www.nexx-verlag.de). Alle Rechte vorbehalten

    Erscheinungstermin: September 2014

    ISBN/EAN: 978-3-95870-454-1

    Für meinen Bruder Frank.

    Für Ela.

    Prolog

    Sie sitzen da, gefesselt in einem dunklen, unterirdischen Verlies. Seit vielen Jahren schon, niemand weiß genau wie lange, sind ihre Köpfe so fixiert, dass sie nur unbeweglich auf eine vor ihnen befindliche Wand starren können. Sie siechen dahin, ihre Körperglieder so festgebunden, dass sie sich kaum bewegen können. Hinter ihnen verläuft eine etwa ein Meter hohe Mauer, und dahinter ein langer Eingang, der sich nach oben streckt. Von dort leuchtet ein helles Licht, ein Sonnenfeuer. Entlang der Mauer ist ein Weg angelegt. Zwischen dem Sonnenfeuer und der Mauer tragen Menschen auf dem Weg gehend Gegenstände vorbei, mal sprechend, mal schweigend. Das Licht des Feuers wirft die Schatten von den Menschen und den Dingen, die sie vorbeitragen, von hinten auf die vor den Gefesselten befindliche Wand. Die im Zwielicht sitzenden, gefesselten Menschen sehen niemals, was hinter ihnen, hinter der Mauer entlang des Weges passiert. Das Einzige, was sie sehen, sind die vorbeihuschenden, verschwommenen Schatten vor ihnen. Das ist ihr normaler Alltag, ihre Realität, ihre Wahrheit. Das bringt sie dazu, den Dingen eigene Namen zu geben. Nichts anderes kennen sie. Eines Tages kommt jemand von oben, befreit einen der Gefesselten und zwingt ihn, in das grelle Sonnenfeuer zu schauen. Er wendet sich ab, denn seine Augen ertragen den hellen Glanz des Feuers nicht. Nur widerwillig lässt er sich aus der Höhle schleppen. Es dauert lange, bis sich der Befreite an das Licht gewöhnt, und noch viel länger, bis er erkennt, dass das, was er dort sieht, die eigentliche Realität ist, dass das Licht nur die Schatten der wahren Dinge an die Wand geworfen hatte. Dieser Erkenntnisprozess ist sehr langwierig und schmerzhaft, der in dem Betroffenen großen Selbstzweifel aufkommen lässt. Es ergibt sich die Frage, was denn passieren würde, wenn der endlich Geläuterte wieder in die Höhle hinabsteigen würde, um seinen ehemaligen Mitgefangenen von seinen Erlebnissen zu berichten und um ihnen zu erzählen, wie die Wirklichkeit sich tatsächlich darstellt. Was würde passieren, wenn er ihnen erzählte, dass die Dinge in Wahrheit ganz anders aussehen, dass Lichtquellen wie Feuer und Sonne die wahren Dinge nur Schatten werfen lassen? Zunächst würde er in der Dunkelheit der Höhle nichts sehen, alles wäre schwarz vor seinen Augen. Aber nach einiger Zeit hätte er sich daran gewöhnt, müsste aber hören, wie ihn die Gefesselten auslachen und seine Schilderungen für lächerlich und absurd erklären. Er bräuchte gar nicht erst den Versuch zu unternehmen, einen von ihnen zu befreien, denn sie würden jeden, der das anstrebte, auf der Stelle töten. Das würden sie schwören.

    Höhlengleichnis, frei nach Platon (428-348 v. Chr.)

    Kapitel 1

    Zhang Yiwu war ein muskulöser, hochgewachsener Mann Ende dreißig, der sein Leben als Philosoph in Peking sehr genoss. Bis vor ein paar Wochen jedenfalls. Er interessierte sich, wie es sich für einen ordentlichen chinesischen Philosophiegelehrten gehört, natürlich für die großen Meister aus dem Reich der Mitte, für die Klassiker wie Laotse, Menzius und Konfuzius, deren Werke er als Student verschlungen hatte. Er hatte sein Studium in einer sagenhaften Geschwindigkeit durchgezogen, an der Pekinger Universität Beida promoviert und sofort einen Lehrauftrag als Dozent an der philosophischen Fakultät bekommen. Die Aufmerksamkeit sämtlicher Studentinnen war dem gut aussehenden Zhang gewiss, und er selbst konnte den weiblichen Reizen der einen oder anderen Studentin manchmal nicht widerstehen. Einige Kollegen warnten ihn davor, diese Affären zu weit zu treiben – nicht etwa aus Neid, sondern weil sie befürchteten, manche Studentin würde daraus in irgendeiner Form Kapital schlagen wollen. Nichts dergleichen war je geschehen. Doch selbst wenn, es wäre in der Situation, in der er sich in diesem Augenblick befand, mit Sicherheit sein geringstes Problem.

    Jetzt saß er nur apathisch da, auf dem kalten Betonboden, und fror. Zwei Kakerlaken krabbelten mit ihren haarigen Beinchen an der feuchten Zellenwand entlang. Düsteres Licht fiel von draußen durch die kleine Fensteröffnung mit den vier Eisenstäben oben in der Ecke herein.

    Als Dozent hatte er sich zwei neuen philosophischen Richtungen gewidmet – keineswegs modernen Richtungen, aber für ihn neue Gebiete. Zum einen der Schule der Wirklichkeit, der Zhixue, einer konfuzianischen Erneuerungsbewegung im 17. und 18. Jahrhundert. Zum anderen den alten Griechen. Insbesondere Platon hatte es ihm angetan. Die Lektüre seiner Lehren beschäftigte ihn jahrelang, vor allem auch deshalb, weil in China gute Übersetzungen – nicht etwa aus dem Griechischen, sondern aus dem Englischen – kaum aufzutreiben waren. Nachdem er Platons Politeia studiert hatte, verging fast kein Tag, an dem er nicht an das bekannteste der drei Gleichnisse darin dachte, das Höhlengleichnis. Die deutsche Übersetzung des chinesischen Titels des Werkes lautete: Der ideale Staat. Schon alleine der Titel war brisant, denn was konnte es Idealeres geben als die chinesische Diktatur? Das Höhlengleichnis darin war von Platon eigentlich nur als reines Gedankenspiel gedacht, doch später wurde daraus eine Art Basiseinführung zur Erkenntnistheorie gemacht. Der Einfluss des Gleichnisses auf Zhang Yiwu war enorm. Es sollte sein Leben komplett auf den Kopf stellen.

    Die intensiven Studien von Platons Werken hatte Zhang eigentlich schon lange abgeschlossen, aber das Höhlengleichnis beschäftigte ihn bis heute. Immer und immer wieder hatte er sich dieses Gleichnis vorgenommen, gelesen, darüber nachgedacht, mit Kommilitonen und Kollegen darüber diskutiert. Die Tatsache, dass es seine Gedanken so lange beherrschte, hatte ihn schließlich dazu bewogen, eine gewichtige Entscheidung zu treffen. Diese Entscheidung war der Grund dafür gewesen, weshalb der gut aussehende Frauenschwarm der Universität Beida jetzt in der Todeszelle des Provinzgefängnisses Nr. 3 in der nördlichen Provinz Hebei saß und auf seine Hinrichtung wartete.

    Die Entscheidung zum Beitritt in eine politisch-philosophische Vereinigung war die Ursache für seine fatale Lage. Die Vereinigung bot einem Kreis von auserwählten Mitgliedern die Möglichkeit, ihre Meinungen zu diskutieren und diese in einer hauseigenen Zeitschrift zu publizieren. Das war ein sehr couragiertes und liberales Unterfangen. Zhang hatte genau gewusst, wenn er dieses Medium, die Zeitschrift, zu intensiv nutzte, würde sie ihm möglicherweise zum Verhängnis werden. Denn er hatte vor, ähnlich wie sein Vorbild aus dem Höhlengleichnis, einige Wahrheiten über das diktatorische chinesische Regime ans Licht zu bringen.

    Nach Jahren der Auseinandersetzung mit dem fast zweieinhalb Jahrtausende alten Gleichnis war es für den Philosophen Zhang an jenem Morgen, an dem er sich zum Beitritt in die Vereinigung entschlossen hatte, zu dem letzten Ansporn geworden, den er brauchte, um sein Bedürfnis nach Wahrheit in die Tat umzusetzen. Es war genau die geistige Nahrung, die ihn antrieb. Obwohl er sich sehr lange Zeit damit auseinandergesetzt hatte, kam er erst an besagtem Morgen zu der Schlussfolgerung, dass Platon damit einen Bildungsauftrag verband: Nur derjenige konnte sich »ein wahrer Gelehrter« nennen, der wieder in die Höhle hinabstieg, um seine Erkenntnis des Wahren mit den anderen zu teilen. Diesen Weg der Verbreitung wollte Zhang unbedingt gehen, er wollte unbedingt ein wahrer Gelehrter sein. Er wusste zudem, dass die Erkenntnis als solche, ohne ihre Verbreitung, absolut nutzlos war. Allerdings war es nicht Platon alleine, der ihn dazu anspornte. Einige Ereignisse in seiner Familiengeschichte zur Zeit der Kulturrevolution und deren Nachwirkungen, die er nie wirklich verarbeitet hatte, einige schreckliche Wahrheiten, die seiner Familie widerfahren waren, hatten ihren Anteil daran, dass der intellektuelle Aufbruchsgeist in ihm nie zur Ruhe gekommen war. Platon war jetzt nur der Schlüssel, der diesen schlummernden Geist nach vielen Jahren befreit hatte. Zum Zeitpunkt seines Eintritts in die Vereinigung konnte er noch nicht ahnen, wie fatal sich alles entwickeln würde.

    Alles hatte angefangen mit ein paar harmlosen Artikeln in der besagten Zeitschrift über philosophische Themen. Er wollte seine Enthüllungen langsam angehen, denn schließlich war Vorsicht geboten. Er rechnete mit allem und doch ignorierte er seine ungute Vorahnung. Jeder, der sich dem Regime gegenüber kritisch äußerte, hatte solche Vorahnungen. Seine philosophische Bestimmung trieb sein Handeln, sein Handeln bestimmte sein Schicksal, und es kam wie es kommen musste – sein anfängliches politisches Interesse wandelte sich schnell in politisches Engagement. Er betrieb intensive Recherchen und begann, korrupte Machenschaften der Kommunistischen Partei und ihrer Kader aufzudecken. Nach und nach bezog er sich immer mehr auf die aktuelle Tagespolitik und sprach seine Kritik immer offener aus. Dabei nutzte er die von der Vereinigung herausgegebene Zeitschrift, um seine investigativen Erkenntnisse zu veröffentlichen. Binnen kurzer Zeit war er zu einem Enthüllungsjournalisten geworden.

    Anfangs nahm kaum jemand Notiz von seiner Arbeit, denn die Auflage der Zeitschrift war äußerst gering. Aber nach einigen Monaten stieg die Auflage so deutlich, dass es sich in der Hauptstadt in den entsprechenden Kreisen herumsprach wie ein Lauffeuer, was Zhang in äußerst intelligentem und eloquentem Stil zusammenschrieb. Zhang hatte sich innerhalb weniger Wochen von einem scheinbar in das System integrierten Hochschuldozenten zum bissigen Systemkritiker gewandelt. Er war sehr mutig. Die intellektuellen Kreise und Leser der Zeitschrift bewunderten ihn für diesen Mut, denn insgeheim wussten sie, welchen möglichen Konsequenzen er sich aussetzte. Alle seine Leser fragten sich, wie lange das noch gut gehen würde. Sogar das Fernsehen war auf ihn aufmerksam geworden. Er gab Interviews, die in mehreren Kanälen ausgestrahlt wurden und ihn immer mehr in das Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit rückten. Sein Schicksal war somit besiegelt: Zhang Yiwus Artikel und Interviews – obwohl auf Wahrheiten und Tatsachen beruhend – führten zu seinem Todesurteil.

    Man hatte ihn eines frühen Morgens vor den Richter gezerrt und sprichwörtlich kurzen Prozess gemacht. Der Richter nannte ihn ein »Krebsgeschwür des modernen China, das entfernt werden muss.« Für Zhang aber war das ganze politische System ideologisch verschleimt. Und dafür, dass er nicht einmal ansatzweise dazu im Stande gewesen war, diese Verschleimung zu lösen, musste er die tödlichen Konsequenzen tragen. Sein größter Nachteil in dieser Lage bestand darin, dass er außerhalb Chinas völlig unbekannt war. Er hatte keine internationale Lobby, die sich für ihn stark machte oder dieses drakonische Urteil gar hätte abwenden können. Kein internationaler Aufschrei würde seinem Tod folgen. Wie so oft gab es auch in diesem Prozess keine echte Verteidigung und natürlich gab es auch kein Schuldeingeständnis seinerseits. Tod durch Erschießung war das Urteil, zu vollstrecken binnen drei Monaten.

    Drei Monate sollte es nicht dauern, sondern nur knapp zwei Wochen. Heute war der Tag, an dem es geschehen sollte. Gut drei Dutzend Gefängniswachen machten sich in diesem Augenblick auf den Weg zu den Zellen, in denen die Todeskandidaten saßen. Drei davon begaben sich zu Zhang Yiwus Zelle, ausgerüstet mit Handschellen, einem schwarzen Stoffsack und Schlagstöcken. Auf der Liste standen neben Zhang noch 13 andere Gefangene. Was er in diesen zwei Wochen im Gefängnis erlebt hatte, war so unmenschlich, dass er jeden Gedanken daran zu verdrängen versuchte. Es gelang ihm aber nur mit mäßigem Erfolg. Er fror erbärmlich in seiner Einzelzelle, und er wusste nicht, ob es ein Segen oder ein Fluch war, in Einzelhaft zu sein, denn die Isolation und die Folter raubten ihm fast den Verstand. Andererseits wusste er jedoch vom Hörensagen, dass es den Gefangenen in den überfüllten Zellen – oft 15 bis 20 Mann auf kaum mehr als 30 Quadratmetern – noch viel schlimmer erging. Insbesondere Neuankömmlinge wurden gerne von den Zellengenossen verprügelt, vergewaltigt, ihres Essens beraubt und fälschlich denunziert. Das Essen war ein Schweinefraß. Aber es war notwendig zum Überleben.

    Er starrte an die Zellenwand, auf der immer noch die zwei Kakerlaken krabbelten. Noch einmal schaute er nach oben zu der kleinen Luke, die ihn durch vier Eisenstäbe von der Freiheit trennte. Das Sonnenlicht war an diesem Tag nicht sehr hell, dennoch waren die Schatten der Eisenstäbe auf der kalten, feuchten Zellenwand gut zu sehen. Es stank nach Urin. Wie bezeichnend, dass es ausgerechnet vier Eisenstäbe waren. Vier, die Zahl des Todes in China. Der Grund, warum in den Fahrstühlen der meisten Hochhäuser im ganzen Land das vierte Stockwerk ausgelassen wurde; auf drei folgte fünf. Der Grund, warum in Autotypennummern niemals die Zahl Vier vorkam. Und wenn doch, dann waren sie Ladenhüter. Wie absurd, dass er in dieser Situation an Autos denken musste. Er hätte nie ein Model wie den A4 gekauft, denn die Zahl des Todes hatte auch in seinem Unterbewusstsein große Macht. Si stand für die Zahl Vier, si stand für den Tod. Er dachte wieder an Platon und das Höhlengleichnis und fragte sich, ob es das alles wert gewesen war. Er wollte doch nur ein guter Gelehrter sein, seine Erkenntnisse mit anderen teilen und die Unwissenden bekehren. Er wollte doch nur, ähnlich wie der Befreite in Platons Geschichte, wieder in die Höhle hinabsteigen, seinen Auftrag erfüllen und die ans Licht gebrachte Wahrheit verbreiten. Aber er hatte völlig unterschätzt, wie paranoid das Regime auf seine Kritik reagierte.

    Er dachte an die, die ihn richten wollten und an die unbekehrbaren Gefesselten in Platons Höhle. Alle wollten sie gleichermaßen den Tod des Aufklärers. Plötzlich drehte sich das mächtige Schloss der Zellentür, Riegel wurden knirschend aus der Verankerung zurückgeschoben. Die drei Wachen betraten die Zelle mit dem Auftrag, ihn abzuführen. Zhang wehrte sich nicht. Er war ohnehin zermürbt und schwach von den letzten beiden Wochen. Er wusste: Jetzt war die Zeit gekommen! Sie legten ihm die Handschellen an, stülpten ihm den schwarzen Sack über den Kopf und führten ihn durch endlos lange Gänge, durch kleine Höfe, wieder durch Gänge bis hin zu einem etwas größeren Innenhof, der an allen vier Seiten von einem Gefängnistrakt umgeben war. Für jeden Todgeweihten standen zwei Gewehrschützen bereit, die pflichtbewusst und mit regungsloser Miene, in Erwartung ihrer bevorstehenden Aufgabe, die Waffe mit dem Gewehrkolben nach unten anhoben. Die Gefangenen wurden vor einer langen, mannshohen, grauen Mauer aufgereiht. Zhang war der Zweite von rechts. Gab es jetzt noch etwas, das Zhang retten konnte?

    Der Kommandant wollte gerade den entscheidenden Befehl geben, als der Gefängnisdirektor herbeieilte, um dem Kommandanten etwas mitzuteilen. Er drückte sein feistes, speckiges Gesicht an die Wange des Kommandanten und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dieser befahl daraufhin einen der Schützen zu sich und gab ihm – unhörbar für die Gefangenen – eine Order. Der Schütze bewegte sich auf einen der Gefangenen zu. Zhang hörte, wie die Schritte des Schützen auf dem feinen Kiesboden immer näher kamen. Er zitterte vor Angst, aber schöpfte plötzlich wieder Hoffnung. Die Luft unter dem Stoffsack wurde langsam stickig. Was ging da vor sich? Einen kurzen Moment später stand der Soldat tatsächlich direkt vor ihm. »Bist du Zhang Yiwu?«, fragte er nur. Zhang zitterte jetzt noch mehr, sollte er etwa dieser Hölle doch noch entkommen können? »Ja, das bin ich«, antwortete er. Der Soldat warf seinem Kommandanten einen kurzen Blick zu, so als brauchte er noch eine letzte Bestätigung. Dieser nickte ihm nur zu. Noch nie hatte Zhang gehört, dass jemand, der zum Tode verurteilt war, von einem Soldaten des Exekutionskommandos mit Namen angesprochen wurde. Ehe er einen weiteren Gedanken fassen konnte, riss ihm der Soldat den Sack vom Kopf und ging zurück zu der Reihe der anderen Gewehrschützen. Dort murmelte er den zwei Schützen, die für Zhang zuständig waren, mit leiser Stimme etwas ins Ohr. Danach stellte er sich zurück auf seinem ursprünglichen Platz. Wieso hatte man ihm den Sack vom Kopf gerissen? Niemand außer dem Schützen, dem Kommandanten und dem Gefängnisdirektor wussten das. Plötzlich gab der Kommandant den Befehl, das Gewehr anzuheben. Zhang stellte zu seinem Erstaunen fest, dass die zwei Gewehre, die auf ihn gerichtet waren, eine Nuance höher zu zielen schienen als die anderen. Bevor ihm richtig klar wurde, dass sie auf seinen Kopf zielten, gab der Kommandant lautstark den Schießbefehl. Erst jetzt erkannte Zhang die Situation und auf seinem Gesicht stellte sich der Ausdruck des Entsetzens ein. Es war zu spät. Alle 14 Gefangenen sanken sofort tot in sich zusammen. Zhangs Körper war unversehrt, nur war er der Einzige, dessen Kopf und Hirn von den Geschossen zerfetzt worden waren. Die krachenden Knalle der Gewehrschüsse hatte er nicht mehr gehört.

    Aus einem der vier Gefängnistrakte stürmten zwei Männer mit einer Bahre auf den Innenhof, eilten zu Zhang, luden ihn hastig auf und trugen ihn durch die Tür, durch die sie gekommen waren, zurück in das Gebäude. In einem eigens dafür vorbereiteten Raum standen zwei Männer und eine Frau mit blitzsauberen, weißen Gewändern bereit, um sich Zhang vorzunehmen. Auf einem Tablett aus Edelstahl lagen alle Geräte, wie sie ein Chirurg für die Entnahme von Organen braucht, sterilisiert und einsatzbereit. Sofort wurde der Körper von Zhang auf den OP-Tisch gewuchtet, und die zwei Chirurgen machten sich an die Arbeit. Ihm wurden mit ungeheurer Präzision und Schnelligkeit Leber, Nieren, Herz und Lunge entfernt. Während des Eingriffs machte sich die weibliche Teilnehmerin dieses Ausweideaktes daran, die dunkelblauen Transportbehälter zu überprüfen und für die Aufnahme der Organe vorzubereiten. Von dem Zeitpunkt, als Zhangs Kopf durch die Kugeln zerfetzt worden war, bis zur Verpackung aller Organe in die Transportbehälter vergingen keine sieben Minuten.

    Die anderen Erschossenen wurden danach ebenfalls nach und nach abtransportiert. Aber keiner von ihnen wurde in den Raum gebracht, in dem man Zhang ausgeweidet hatte. Ein kleiner, dicker Mann mit grünem Jackett begab sich zu den Stellen, an denen die Gewehrschützen standen. Er hatte eine kleine, durchsichtige Plastiktüte dabei und sammelte vom Boden die Patronenhülsen auf, die die Soldaten nach Verrichtung ihres grausamen Werkes hinterlassen hatten. Als er damit fertig war, überbrachte er die 28 Patronenhülsen dem Gefängnisdirektor, der den Schauplatz wenig zuvor verlassen hatte. Auf dem Schreibtisch des Gefängnisdirektors lagen 14 vorbereitete und beschriftete Briefumschläge. Er füllte jeweils zwei Patronenhülsen in ein kleineres Plastiksäckchen um und steckte diesen dann in den Briefumschlag samt einem Begleitbrief und einer Rechnung über 16,70 Yuan. Die Adressen auf den Umschlägen waren die der jeweiligen Angehörigen der soeben Hingerichteten. In dem Begleitbrief wurden die Angehörigen dazu aufgefordert, die Rechnung zur Deckung des entstandenen Materialaufwandes für die Exekution – siehe Hülsen anbei – zu begleichen. Der einzige Brief, der nicht an die Angehörigen adressiert war, war der Brief mit Zhang Yiwus Hülsen. Er war stattdessen an den Chefredakteur der Zeitschrift adressiert, für die Zhang geschrieben hatte.

    Kapitel 2

    Deutschland, drei Wochen zuvor.

    Es herrschte rege Betriebsamkeit am Institut für Parallele und Verteilte Systeme an diesem wunderschönen Spätsommernachmittag. Die am Versuchsaufbau beteiligten Studenten waren sehr stolz darüber, von Professor Strauss für das Projekt ausgesucht worden zu sein. Das IPVS hatte durch ihn Weltruf erlangt, denn es war ihm und seinem Team aus Mitarbeitern und Studenten gelungen, was vorher noch niemandem auf unserem Globus gelungen war.

    Professor Strauss stürmte aus seinem Büro ins Vorzimmer zu Beatriz, der Institutssekretärin. Von einer typisch professoralen Zerstreutheit war bei ihm nie etwas zu spüren, normalerweise hatte er seine Terminplanung souverän im Griff.

    »Beatriz, wann genau kommt noch mal dieser dänische Wissenschaftsjournalist heute?«

    »Um 15.30 Uhr, Herr Professor.«

    »Ach, so bald schon, ich hätte den Termin besser verschoben, das passt mir heute gar nicht in den Kram.«

    »Wenn der Herr Hendricksen kommt, brauchen Sie mich dann noch?«

    »Nein, Beatriz, Sie können um halb vier gehen, aber denken Sie bitte daran, die externe Festplatte aus dem Labor vorher noch in den Tresor zu schließen?«

    Beatriz war die schöne, gute Seele des Instituts, sie war immer freundlich und nett, und Professor Strauss übertrug ihr vertrauensvoll sämtliche verwaltungstechnischen Aufgaben, die im Institut anfielen und manchmal auch solche, die mit der Verwahrung von streng geheimen Forschungsdaten zu tun hatten.

    »Na klar, wird erledigt Herr Professor!«

    Beatriz gehörte zu den Frauen, die Privates streng von Beruflichem trennten, sie war intelligent, sehr beliebt und hätte mit ihrem Aussehen auch jederzeit so manchem Model Konkurrenz machen können. Ihr langes, welliges, schwarzes Haar und die perfekten Proportionen ihres schlanken Körpers verleiteten sogar junge Studenten dazu, sie um ein Date zu bitten. Obwohl die Studenten im Schnitt wohl gut zehn Jahre jünger waren als Beatriz, hatte sie durch ihr Auftreten, ihr Aussehen und durch ihre warmen, großen Rehaugen so manchem hochintelligenten aber kontaktarmen Nerd den Kopf verdreht. Sie lehnte die Anfragen der Studenten, die sich überhaupt zu fragen wagten, immer sehr höflich mit dem Argument ab, sie hätte einen Freund, dem das wohl nicht so gut gefiele.

    In der Tat hatten ein paar Studenten Beatriz vor Kurzem in einem Bistro auf einer After-Work-Party in männlicher Begleitung gesehen. Diese Information verbreitete sich schnell, denn die meisten Studenten hier an diesem Hightech-Institut waren Single und hätten sich jederzeit gerne mit Beatriz auf ein Schäferstündchen eingelassen, und sei es nur in ihren geheimsten Gedanken und Tagträumen. Nie hatte jedoch irgendein Student je Erfolg. Es hieß, ihr Begleiter

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