Das Dampfbein schwingen
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Über dieses E-Book
Wo das Dampfbein geschwungen wird, ist das Leben zu Hause. Tonleitern reichen zu den Sternen und auf den Straßen beginnen Revolutionen oft als Liedchen zwischen Eingeweihten. Gereichte Hände laden zum Tanz und die Herzen schlagen im Takt des dampfbetriebenen Orchesters. Musik wird gelauscht, gefühlt und geatmet, wo auch immer die Reise hinführt. Und die Vorstellung ist noch lange nicht vorbei, wenn der Vorhang fällt.
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Buchvorschau
Das Dampfbein schwingen - Ingrid Pointecker (Hrsg.)
Ingrid Pointecker (Hrsg.)
Das Dampfbein schwingen
Anthologie
Die Deutsche Bibliothek und die Österreichische Nationalbibliothek verzeichnen diese Publikation in der jeweiligen Nationalbibliografie. Bibliografische Daten:
http://dnb.ddp.de
http://www.onb.ac.at
© 2021 Verlag ohneohren, Ingrid Pointecker, Wien
www.ohneohren.com
ISBN: 978-3-903296-31-2
E-Book Distribution: XinXii
www.xinxii.com
logo_xinxii1. Printauflage
Herausgegeben von: Ingrid Pointecker
Lektorat, Korrektorat: Verlag ohneohren
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und/oder des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind völlig frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Inhaltsverzeichnis
Ferne Melodien
Sarah Malhus: Die Entdeckung der Rima Hadley
Roxane Bicker: Singender Sand
Tempo! Tempo!
Iva Moor: Der Jungfernflug der Aurora
Meara Finnegan: Euphonias Rache – ein Fall für Shirley Houmes und Jane Wadsen
Tino Falke: Pina Parasol und der Tanz der Suizidfürsten
Ramon M. Randle: Der Mull des Kanzlers
Alex Prum: ‚Vollmondnacht‘ in D-Moll
Noten aus Wasser und Nebel
Katja Rocker: Die Liebe zur Musik
Christina Wermescher: Das Element Wasser
Julia Winterthal: Nebelsilber
Atemtakte
Anna Zabini: Dein tönendes Herz
Cathrin Kühl: Das überlebensgroße Orchester
Lieder von Freiheit
Kornelia Schmid: Fenice
Tanja Rast: Herztakt
Über das Notenblatt hinaus
Cel Silen: Androiden können nicht tanzen
Alexa Pukall: Aufgespielt
Peter Michael: Meuer Tanz in den Wolken
Vergangene Symphonien
Marius Kuhle: Chrom und Bronze
Sarah König: Die Erinnerung des Grammomädchens
Janika Rehak: Das Mädchen vom Riesenrad
Ferne Melodien
Die Entdeckung der Rima Hadley
Sarah Malhus
Langsam, fast zeremonienhaft, fuhr Rima mit dem Aufzug entlang der Trägerrakete nach oben zur Passagierkapsel. Erneut würde die hohle Kugel sie auf den Mond bringen. Die Aethernautin betrachtete während der Fahrt liebevoll die kupfern schimmernde Außenhülle der Rakete, an deren Spitze die Kapsel saß. Die unzähligen Nieten erweckten den Eindruck von Manschettenknöpfen auf einem Ausgehrock, es fehlte nur noch ein Zylinder auf dem Dach der Kapsel.
In weniger als zehn Minuten würden tausende Tonnen Lithernoleum Rimas Hintern ins Weltall katapultieren. Sie spürte ein Kribbeln in der Magengegend und umklammerte den Helm, der ihr zwischen Arm und Hüfte klemmte. Dieses Mal würde sie nicht von ihrem Plan abweichen. Zum Teufel mit den wissenschaftlichen Untersuchungen, es gab Wichtigeres! Nichts davon würde die Menschheit weiterbringen, das war so klar wie die Sternennacht in der Wüste. Ihre Mission hingegen versprach die älteste Frage überhaupt zu beantworten: Gab es Leben außerhalb der Erde?
Mit einem Rauschen aktivierte sich der Transmitter in ihrem Ohr. „Rima, hier Gideon. Hörst du mich?"
„Jap, klar und deutlich."
„Sehr gut. Du bist gleich oben."
„Ich weiß, Gideon. Der Aufzug hat eine Stockwerksanzeige."
„Jaja, schon gut. Ich wollte dich nur wissen lassen, dass das Wetter stabil ist und wir planmäßig starten können. Ich werde die ganze Zeit bei dir sein."
Rima stieß Luft aus, was Gideon hören musste. „Wir machen das hier nicht zum ersten Mal."
„Richtig. Wir machen es erst zum zweiten Mal, Lady. Lass mich gefälligst nervös sein! Nicht jeder sieht einen Mondflug so gelassen wie du."
Sie grinste. Natürlich bebte sie vor Aufregung und wusste um die Risiken dieser Mission. Doch ihr Äußeres blieb ruhig. Nur das sollten die Leute sehen.
Mit einem Ruck kam der Aufzug zum Stehen. Die Gittertüren öffneten sich und gaben den Weg zur Passagierkapsel frei. Kalte, schneidende Luft nahm ihr den Atem, doch war sie nichts im Vergleich zu den Temperaturen, die sie auf dem Mond erwarteten. Rima lief die stählerne Brücke entlang. Bei der Hälfte stoppte sie, nahm das sich bietende Bild auf. Bis auf den pfeifenden Wind, der ihre kurzen braunen Haare zerzauste, und das Knarzen von Metall, das aneinander rieb, herrschte Totenstille. Rima spitzte die Lippen und pfiff die ersten Takte eines Liedes, das ihre Mutter immer gesungen hatte, um die Einsamkeit zu vertreiben.
Ein Knacken im Ohr holte sie zurück in die Gegenwart. „Steigst du nun ein oder hast du es dir anders überlegt?"
Eilig überwand Rima die restliche Distanz und schwang sich in den weichen Sessel der Kapsel. „Bin ja schon drin." Sie drückte den Knopf für den Schließmechanismus. Binnen weniger Sekunden riegelten die Zahnräder die Luke hermetisch ab.
„Lass uns das Bordprotokoll durchgehen", sagte Gideon in ihrem Ohr.
„Außentür, check. Sauerstofftanks sind voll, Zufuhr ist stabil. Alle Programme laufen. Funkverbindung, check. Schokoriegel, check."
„Schokoriegel? Sag bloß, du hast wieder einen reingeschmuggelt."
„Ich wollte wissen, ob das noch mal klappt. Die Mädels kontrollieren einfach nicht gründlich genug." Grinsend klopfte Rima auf ihren Raumanzug und spürte den Umriss des Riegels.
Sie legte den doppelten Riemengurt um Brust und Oberkörper und verschloss ihn fest. Dann setzte sie den Helm auf und verriegelte ihn.
„Aethernautin Rima Hadley bereit zum Start", ließ sie die Zentrale wissen. Sie entriegelte den Flipdown, dessen Zifferblätter die Sekunden bis zum Start zählten.
3.
2.
Rima schluckte.
1.
Null.
Unter Rima explodierte es. Das Lithernoleum, gepaart mit pfeilschnell ausströmender Pressluft, schob die Rakete nach oben. Die Vibration durch die Zündung der Triebwerke rüttelte alles durch. Träge machte sich die Raumfähre vom Turm los und gewann rasant an Höhe. Rimas Blick richtete sich starr nach oben. Der Himmel wechselte seine Farbe von hell- zu dunkelbau. Kurz bevor Rima in die Finsternis des Alls eintauchte, zündete die letzte Antriebsstufe und setzte den Kurs so zum Mond. Bald koppelten sich die Trägerraketen ab, stürzten zurück zur Erde. Nur noch das kleine Triebwerk der Rakete, die fest mit ihrer Kapsel zusammenhing, brachte sie weiter voran.
Rima verfolgte das Geschehen über anbarische Holoscheiben und Manometer, welche die Flugparabel, den Luftdruck und mehr zeigten. Alles verlief nach Plan. Sie zog den Helm vom Kopf, lehnte sich zurück und genoss die Sicht auf die unendliche Weite des Weltraums, der Myriaden von Himmelskörpern beherbergte. Es war so friedlich, wenn man sich allein hier oben aufhielt, weit weg von allem. Die Sterne riefen eine Gänsehaut bei Rima hervor, seit sie zum ersten Mal zusammen mit ihrer Mutter eine Sternschnuppe erblickt hatte.
Die kleine Glühfadenlampe am Äthersprecher begann zu leuchten und zeigte, dass die Bodenzentrale mit ihr Kontakt aufnahm. Rima hob die Sprechmuschel von der Gabel und drehte den Regler, bis durch die passende Frequenz aus dem Rauschen eine Stimme wurde. „Erde an Rima, alles in Ordnung bei dir?"
Sie zuckte zusammen, als Gideons Stimme gleich dem Brüllen eines Löwen in ihr Ohr drang. „Himmelnocheins, erschreck mich nicht so! Wer hat die Lautsprecher so laut eingestellt?"
„Verzeihung. Du warst so still und da wollte ich nachfragen."
„Du siehst meine Vitalwerte auf deiner Holo! Die sagen dir, dass ich noch lebe. Was macht mein Herzschlag?"
„Puls und Blutdruck sind erhöht."
Sie schnaubte genervt. „Weil du mir einen Schrecken eingejagt hast, verdammt nochmal! Und jetzt lass mich den Flug genießen."
Mit einer knappen Bewegung kappte Rima die Leitung. Das Klacken des Schalters klang wie ein Versprechen. Nichts hasste sie mehr, als erschreckt zu werden. Außer Auberginen vielleicht.
Doch Rima erschien es zu ruhig in ihrer Kapsel. Sie fuhr mit den Fingerspitzen am unteren Ende des Schaltpultes entlang, erspürte die Vertiefung, nach der sie suchte, und zog. Mit einem Klacken löste sich die Verkleidung. Ein verstecktes Steuerpaneel kam zum Vorschein. Rima gab über die Knöpfe eine Zahlenkombination ein. Einem Surren folgten Piep- und Pfeiftöne.
Rima lächelte. „Artemis, wach auf, altes Mädchen."
„Hallo, Rima. Schön, dich zu hören, antwortete eine kraftvolle Frauenstimme. „Wie ich sehe, sind wir auf dem Weg zum Mond.
„Ja, aber ein paar Dutzend Stunden dauert es noch, bis wir da sind. Leg ein bisschen Jazz für uns auf."
Einen Augenblick später schwebte der charakteristische Gesang von Ol‘ Blue Eyes durch die Kapsel. Rima holte den Schokoriegel hervor, wickelte ihn aus dem Wachspapier und biss hinein.
Den Flug verbrachte Rima in einem Wechsel aus dösen, Anzeigen überwachen und Aethernautennahrung schlürfen, während sie sich mit Artemis unterhielt.
Sie selbst hatte den Turing-Apparat in einer Nacht- und Nebelaktion eingebaut und mit dem Bordnetz verbunden. Eine befreundete Mechanikerin, die ihr noch einen Gefallen schuldete, hatte ihr dabei geholfen, Artemis‘ Signale für die Systeme der Raumfahrtbehörde zu verbergen. Artemis diente ihrem ganz eigenen Zweck und dieser Forschungsflug war für Rima die Mitfahrgelegenheit, um ihre Mission zu verfolgen.
Vor ihrer Nase schwebte ihr Logbuch, das die Erlebnisse ihres ersten Mondfluges enthielt. Jede Notiz zu ihren Beobachtungen kannte sie auswendig. Sie betrachtete die flüchtigen Zeichnungen. Viel hatte sie damals nicht erkennen können, nur einen kahlen Kopf, auf dem etwas thronte, das verdächtig nach einer Fliegerbrille aussah, und schmale Schultern, bekleidet mit bizarr wirkender Kluft. Diese Begegnung während ihres ersten Mondflugs bekam sie nicht mehr aus dem Kopf. Sie musste herausfinden, wen oder was sie damals, vor drei Jahren, gesehen hatte. Sie brach hierfür die Regeln und hatte, neben Artemis, eine weitere Apparatur an Bord geschmuggelt, die ihr hoffentlich bei der Annäherung half. Musik musste der Schlüssel sein.
Zweiundsiebzig Stunden später steuerte die Rakete auf die Landezone zu.
„Artemis, Plan Gamma ausführen. Aber pass auf, dass dich das Bordnetz nicht bemerkt", wies Rima an.
Fast gleichzeitig vermeldete der Funk die Kontaktaufnahme durch die Bodenzentrale.
Rima griff nach der Sprechmuschel und legte den Schalter um. „Gideon, schlug sie einen versöhnlichen Ton an, „Alles klar dort unten?
„Die Lady spricht mit mir!"
Rima lachte. „Hör auf zu spinnen und sag mir lieber, wie viel Raum zwischen mir und dem Mond ist", wehrte sie seine Sticheleien ab.
„Du befindest dich noch 150 Meter über dem Boden. 120, 100. Moment … Die Rakete weicht vom Kurs ab! Wie kann das sein?"
Rima konnte über Gideons Mikrofon das hektische Rufen des Bodenpersonals hören. Gleichzeitig spürte sie, wie die Raumfähre unter den gleichzeitigen Steuerungsversuchen von Gideon und Artemis strauchelte, und suchte Halt. Die Alarmsignale an Bord gingen los und fluteten die Kugel mit einer Kakophonie aus Warntönen. Die vielen schmalen Rohre entlang der Innenverkleidung stimmten mit einem protestierenden Fiepen ein.
„Rima, was geht da vor? Die Steuerung reagiert nicht! Irgendetwas stört meine Aetherbrücke zur Kapsel."
Showtime. „Ich weiß es auch nicht, Gideon, sagte Rima angespannt. „Die Anzeigen spielen verrückt. Die Triebwerke lassen sich von hier aus nicht kontrollieren! Was soll ich tun?
„Hör zu, du musst das rote Kabel …" Klack. Rima kappte die Verbindung.
„Artemis, bring die Rakete runter, aber bitte in einem Stück."
Während der ursprünglich geplante Landeanflug auf den Holoscheiben dargestellt wurde, konnte Rima Artemis nur vertrauen, deren Handeln sie nirgends verfolgen konnte. Mehrere Triebwerkszündungen sorgten dafür, dass die Rakete dicht über der Mondoberfläche auf und ab hüpfte. Offenbar konnte Artemis die initiale Flugroute nicht vollständig überschreiben. Rima wurde in den Sicherheitsgurten hin und her geworfen. Durch das Bullauge sah sie den Boden unter sich hinwegrasen. Ihr brach der Schweiß aus. Sie sah keine Chance für die Rakete, eine Bruchlandung unbeschadet zu überstehen.
Ein Energiestoß katapultierte die Raumfähre weiter nach vorne und gleichzeitig nach unten. Instinktiv riss Rima die Arme vor ihr Gesicht und presste die Augenlider zusammen. Mit ohrenbetäubendem Krachen schlug die Rakete auf dem Mond auf. Das Metall der Außenhülle schabte quietschend über das Gestein.
Nach der Rutschpartie über Mondschotter kam die Kugel zum Erliegen. Die Alarmsignale verstummten. Rima nahm die Arme herunter und öffnete die Augen.
„Fuck." Die Rakete lag auf der Seite, genau auf der Ausstiegsluke. Vorsichtig öffnete Rima den Gurtverschluss, hielt sich fest und suchte mit den Füßen Halt.
„Artemis, bist du da?"
„Natürlich bin ich da. Wo soll ich sonst sein?"
„Hey, wer hat dir den Sarkasmus einprogrammiert?"
„Niemand. Ich bin ein Turing-Apparat, ich lerne dazu. Und das kommt dabei heraus, wenn ich nur mit dir spreche."
„Vollständiger Systemcheck." Rima musste wissen, wie schlecht es stand. Und dann herausfinden, wo zur Hölle sie sich auf dem Mond befand.
„Sauerstoffsättigung bei 80, Vorrat reicht für ungefähr 42 Stunden. Die Energiestäbe wurden bei der Ladung beschädigt. Soll ich auf Notaggregat umschalten?"
„Tu das."
Die helle Beleuchtung erlosch, eine einzige rote Glühbirne tauchte die Kugel in diffuses Licht.
„Kannst du das Triebwerk noch einmal zünden, um die Kapsel zu drehen? Wir müssen die Tür befreien."
„Einen Moment. Ich versuche, nur zwei der vier Strahlen anzusteuern."
Rima hörte Surren und Piepsen, während Artemis eine Verbindung zum Antrieb herstellte. Ein Ruck ging durch die Kapsel. Die Zündung klang wie das Husten eines kranken Pferdes. Die Rakete begann sich zu drehen und schleuderte Rima gegen die Innenverkleidung.
„Festhalten."
„Zu spät, murmelte Rima verdrießlich. Sie warf einen Blick aus dem Bullauge, dann zur Tür. „Das sollte reichen.
Sie setzte ihren Helm auf und befestigte den Sauerstoffrucksack auf dem Rücken. Den Schlauch fixierte sie in ihrem Raumanzug. „Unterbrich die Sauerstoffzufuhr in die Kapsel", befahl sie. Dann zog Rima am Hebel, drehte ihn und setzte die Zahnräder der Tür in Gang. Zischend entwich der Druck. Die Luke schwenkte zur Seite, doch nur zur Hälfte, bis der Boden sie blockierte. Rima, mit Aethercoder und Atmomesser ausgerüstet, zwängte sich hinaus und fiel kopfüber auf den Mond. Die geringe Schwerkraft federte den Sturz ab.
Rima rappelte sich auf, machte ein paar Schritte und sah sich um. Berge und Krater, so weit das Auge reichte.
„Artemis, wo sind wir gelandet?"
„25,73 Grad Nord und 3,13 Grad Ost."
„Gib mir die Karte auf den Coder", bat Rima und sah auf die kleine Holoscheibe des Aethercoders an ihrem Handgelenk. Darauf erschien der grüne Umriss des Mondes, der wuchs, bis ein X zu erkennen war.
„Okay, und wo wollte uns die Behörde hinschicken?"
Ein zweites X erschien auf der Mondkarte. „Wir sind 363,13 Kilometer vom Ursprungsziel entfernt gelandet", gab Artemis Auskunft.
„Aufgeschlagen trifft es besser. Und wie weit von unserem Ziel entfernt?"
Ein drittes X erschien. „54,28 Kilometer."
„Ich würde sagen, wir haben gewonnen!" Rima reckte die Faust in die Luft, was dafür sorgte, dass ihre Füße sich kurz vom Boden lösten.
„Spielen wir Boule?", gab Artemis trocken zurück.
„Ach, halt doch die …" Rimas Blick wurde von etwas Waberndem abgelenkt. Mit gerunzelter Stirn hopste sie auf die Stelle zu, die sich als ein Fluss aus Nebel entpuppte. Rimas Weg endete an einer Schlucht, die in dem Dunst verschwand. Rima zückte den Atmomesser, fuhr die Antenne aus und streckte sie dem Nebel entgegen. Gespannt verfolgte sie den Lauftext auf der Holoscheibe.
„Stickstoff? Wieso erzeugt er in Gasform Dunst und wie kann der sich ohne Atmosphäre halten?" Die zweite Zeile, die der Messer ausspuckte, verblüffte sie noch mehr. Auch eine geringe Menge Sauerstoff schien vorhanden. Rima wollte dem auf den Grund gehen, doch erst musste sie den Zustand der Raumkapsel untersuchen.
Zurück an der Kugel betrachtete sie stumm das Elend aus Aluminium und Stahl. Dellen und tiefen Furchen übersäten die einst makellose Außenverkleidung der Rakete. Mutlos setzte sie sich auf einen Gesteinsbrocken und starrte den Schrotthaufen an.
„Willst du nicht etwas unternehmen, Rima?, schaltete sich Artemis ein. „Plan Gamma weiterverfolgen, vielleicht?
Rima schmunzelte. Artemis‘ Wortwahl ließ sie manchmal vergessen, dass sie nicht mit einer echten Person, sondern einem Turing-Apparat sprach.
„Jep, gute Idee. Öffnest du den Kofferraum?"
Als Antwort flog eine Platte der Außenverkleidung weg und gab einen Hohlraum frei. Während das Stück Aluminium still davonsegelte, griff Rima nach ihrer wertvollsten Fracht – ein Grammophon und ausgewählte Schellackplatten.
„Wir sind zwar einige Kilometer von dem Ort entfernt, an dem ich sie damals beobachtet habe, aber vielleicht können sie trotzdem die Schwingungen wahrnehmen und kommen her, bekräftigte Rima laut denkend ihre Theorie. „Mist, wie mühsam kann das sein, einen Plattenspieler mit Raumhandschuhen zu bedienen?
, fluchte sie und versuchte, das Phonogerät zum Abspielen zu bringen.
„Warum machst du das?, fragte Artemis neugierig. „Warum begeben wir uns nicht zu deinem eigentlichen Landeplatz und spielen dort die Musik?
„Ganz einfach. Sauerstoff. Auch wenn ich wegen der geringeren Schwerkraft schneller dort ankomme, möchte ich mich ungern so weit von meinem Vorrat an süßer Luft wegbewegen. Nenn es Überlebensinstinkt."
„Ah ja", antwortete ihr Turing-Apparat unbestimmt.
Einige Verwünschungen später lag die Tonscheibe auf dem Teller und die Nadel in der Rille. Mit einer gleichmäßigen Bewegung betätigte Rima die Kurbel, um den Mechanismus in Schwung zu bringen.
„Hoffentlich funktioniert das auch", murmelte sie, während sie dem Tonträger beim Rotieren zusah. Hören konnte sie nichts von den wundervollen Beethoven-Klängen.
„Wieso sollte es nicht? Deinem Logbuch nach reichte beim letzten Mal dein Summen."
„Sicher, aber da waren wir in unmittelbarer Nähe ihres Lagers, gab Rima zu bedenken. „Und dieses Mal will ich nicht nur einen flüchtigen Blick auf sie erhaschen. Ich will Kontakt aufnehmen. Ahhh!
Ein hohes Fiepen ihres Transmitters bohrte sich unversehens in ihr Gehirn.
„-ma. Hörst … mich? Rim-"
„Gideon? Hallo?", antwortete sie in das Rauschen hinein.
„Rima? Bist du da?", hörte sie ihn deutlicher.
„Ja! Ja, ich bin da."
„Geht es dir gut? Bist du verletzt?"
„Mit mir ist alles in Ordnung. Nur die Rakete sieht ziemlich ramponiert aus. Fliegen wird die nicht mehr", umriss Rima die Situation.
„Wir schicken dir eine unbemannte Rakete hoch, die dich wieder zurück zur Erde bringt. Das dauert allerdings, rang Gideon nach Worten. „Das dauert … Ich weiß nicht, wie lange es dauert.
Überdeutlich nahm sie Trauer in seiner Stimme wahr. Für ihn stand fest, dass sie auf dem Mond sterben würde. Der Gedanke daran nahm ihr Herz in einen eisernen Griff, doch nur kurz. Lieber starb sie hier oben, friedlich und allein, als auf einem Planeten, dessen Volk sie schon lange überdrüssig war. Die aktuelle Sachlage verkürzte das Ganze lediglich.
„Mach mir nichts vor, Gideon. Es hätte mich gewundert, wenn die Raumfahrtbehörde eine Rakete in so kurzer Zeit aus dem Hut zaubert."
„Vielleicht bekommen wir Hilfe von einer anderen Regierung mit einem Raumfahrtprogramm."
Rima hörte ihm nicht mehr zu. Eine Bewegung lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Nebelfluss. Der Stickstoff trat wellengleich über den Rand der Schlucht. Rima wollte ihren Augen nicht trauen, als sich kleine, kanuartige Gefährte aus dem Dunst erhoben. Sie zählte erst eins, dann zwei, bis fünf solcher Dampfkanus auf sie zuschwebten.
„Rima, vertrau mir, ich finde eine Lösung", drängte Gideon sich erneut in ihren Fokus. Die Panik in seiner Stimme übertrug sich auf sie. Die Kanus kamen immer näher, so dass sie erkennen konnte, wer sich darin befand.
„Leb wohl, Gideon. Artemis, kappe die Verbindung."
„Was meinst du mit leb wohl? Wer ist Arte-" Schlagartig verschwand seine Stimme aus ihrem Ohr.
„Danke, Artemis."
„Keine Ursache. Du hast Besuch", bemerkte sie beiläufig.
„Ich weiß. Aber was sage ich jetzt? Ich bezweifle, dass sie meine Sprache verstehen. Was ist, wenn wir so verschieden sind, dass wir nicht kommunizieren können?"
„Unterschiede müssen kein Hindernis sein. Ihr Menschen seht auch völlig unterschiedlich aus und sprecht tausend Sprachen, seid aber im Grunde gleich. Eine Spezies, um genau zu sein. Alle wollen immer anders sein, werten die Andersartigkeit ihrer Mitmenschen trotzdem als verstörend oder Schlimmeres. Es gibt viele Publikationen, die …"
„Artemis, halt die Luft an. Ich muss mich konzentrieren."
Rima beobachtete, wie einige der Wesen aus den Kanus stiegen und auf sie zukamen. Deren Blick sprang zwischen ihr und dem Grammophon hin und her. Knapp zwei Meter entfernt blieben sie stehen. Ihr Körperbau glich dem Rimas, doch waren sie größer und schlanker. Kleidung aus einem seltsamen, fluid wirkenden Material bedeckte ihre fahle Haut nur teilweise. Jeder von ihnen trug eine Art Fliegerbrille, wie auf Rimas Zeichnung, durch die ihre Augen ungewöhnlich groß erschienen. Geometrische Bemalungen zierten ihre Körper. Eine der Gestalten kam auf sie zu und bewegte dabei die Lippen, vernehmen konnte Rima jedoch nichts.
„Artemis, kannst du etwas hören?", wandte sie sich hilfesuchend an den Turing-Apparat.
„Ja, es klingt wie Singen. Ich versuche, eine Lautmatrix zu erstellen."
„Mach schnell", drängte Rima und versuchte, möglichst nicht bedrohlich zu wirken. Doch wie würde ihre Mimik auf dem Mond verstanden werden? Sie lächelte und hoffte, dass es nicht nach hinten losging.
Nervosität ergriff die Gruppe, weil Rima nicht reagierte. Je mehr Zeit verstrich, desto unruhiger wurden die Bewegungen der Delegation. Angestrengt beobachtete Rima die rastlosen Lippenbewegungen ihres Gegenübers, doch wurde daraus