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Vicky, die Sternenkriegerin
Vicky, die Sternenkriegerin
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eBook678 Seiten9 Stunden

Vicky, die Sternenkriegerin

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Über dieses E-Book

Auf der Erde ist nichts los, und schon gar nicht in Terville. Kein Wunder, dass Vicky am liebsten durch die Wälder streift und sich die Maglevzüge ansieht - die auf der Erde nicht einmal halten. Als eines Tages ein Raumschiff vom Himmel stürzt, ahnt sie nicht, dass ihr Traum, andere Welten zu sehen, bald auf ganz andere Weise in Erfüllung geht, als sie sich das vorgestellt hat. Denn da draußen herrscht Krieg, und bald schon gerät sie selbst zwischen die Fronten.

SpracheDeutsch
HerausgeberLoewe Lissabon
Erscheinungsdatum27. Juli 2020
ISBN9781393859611
Vicky, die Sternenkriegerin

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    Buchvorschau

    Vicky, die Sternenkriegerin - Erich Rast

    Kapitel 1

    Der Auslöser der Lenkrakete zündete. Lautlos implodierte die Waffe, sandte einen Impuls aus, der sämtliche Hyperraumsysteme im Umkreis von einem halben Parsec nutzlos machte. Die Blase aus exotischer Materie um das Schiff zerplatzte und ein Riss im Raum-Zeit-Gefüge schleuderte es gewaltsam in den Normalraum zurück. Dafür war die Maschine nicht gebaut worden, im engen Cockpit schrillten Alarmsirenen und Warntöne.

    »Hüllenbruch«, meldete eine Computerstimme. »Hüllenbruch. Bereitmachen zum Notausstieg! Bereitmachen zum Notausstieg!«

    Der Pilot ignorierte die Warnung. Blitzschnell bediente er die Steuerkonsolen, seine greifzangenartigen Hände flogen über die Schalter, fanden die richtigen, um den Kurs zu ändern. Hochempfindliche militärische Tiefenraumsensoren zeigten an, dass sie noch immer hinter ihm her waren. Drei Schiffe schossen aus dem Hyperraum, schwarze pfeilförmige Schatten, Abfangjäger der siebten Vongul-Flotte.

    »Aktive Waffenabtastung, Subraum«, erklärte die elektronische Stimme ruhig wie immer. »Hüllenbruch, Atmosphärenverlust. Sofort evakuieren!«

    Leider war dem Bordcomputer der Ernst der Lage nicht klar, dazu war er nicht programmiert worden. Wenn er jetzt ausstieg, dann putzten ihn die Verfolger vom Himmel. Die Rettungskapsel war chancenlos, ließ sich kaum manövrieren, die feindlichen Sensoren konnten sie spielend leicht erfassen. Konzentriert arbeitete der Pilot an den Konsolen. Glücklicherweise war er in einem bewohnten System aus dem künstlichen Wurmloch gefallen. Irgendein Kaff, der Name sagte ihm nichts. Zielstrebig wählte er den nächstgelegenen Planeten. Das Schiff gehorchte sofort, steuerte mit Maximalschub auf das Ziel zu. Die Verfolger machten ihre Waffensysteme scharf.

    »Kurs zwischen die Orbitalstationen nehmen!«

    Der Bordcomputer reagierte sofort und ein heftiger Ruck lief durch den geschundenen Rumpf. Die Fliehkräfte rissen an den Armaturen und zerquetschten mit einem hässlichen metallischen Knirschen das Cockpit. Eine Metallstange bohrte sich in die Hüfte des Piloten, die Instrumente explodierten vor seinen Augen und wie erwartet brach auch die Hülle. Gleichzeitig traten sie zwischen zwei gefechtsbereiten Orbitalstationen mit beinahe Hyperraumgeschwindigkeit in die Atmosphäre des fremden Planeten ein. Es blieb keine Zeit, zu prüfen, wer dort wohnte, zu welcher Allianz das System zählte. Er musste in die Kapsel, aber er steckte fest. Die Stange hatte sich durch seinen Körper gebohrt.

    »Bugdüsen ausgefallen, Antigrav ausgefallen, Hüllenbruch, Aufprall in dreißig Sekunden. Warnung! Unkontrollierter Absturz, Aufprall in dreißig Sekunden!«

    Die Armaturen waren nutzlos, aber die zentralen Systeme schienen noch zu funktionieren. »Kapselexit in achtzehn Sekunden!«, befahl der Pilot.

    »Sprengung, Kapsel, achtzehn Sekunden«, bestätigte die Stimme des Bordcomputers. »Fünfundzwanzig Sekunden bis Aufprall, vollständiger Kontrollverlust, Versagen der Kühlsysteme.«

    Das Schiff verwandelte sich in einen Feuerball, und er war noch immer eingeklemmt. Er ging in sich, konzentrierte sich, erinnerte sich an das Training, die jahrzehntelange Auswahl, Hunderte von Prüfungen. Er schob alle ablenkenden Gedanken beiseite und suchte den Ort der Ruhe in sich. Er fand ihn, verfiel in einen Trance-Zustand, den seine Artgenossen in ihrer beinahe schon vergessenen Sprache als ›auf den Berg steigen und die Wolken sehen‹ bezeichneten. Dann strengte er alle Muskeln seines Körpers an und riss die Strebe gewaltsam aus seiner Hüfte. Grünes Blut spritzte durch die Kabine, gerann in der Hitze fast augenblicklich, nahm ihm die Sicht. Das vegetative Nervensystem versuchte zu übernehmen, ein Überlebensmechanismus, den er um jeden Preis vermeiden musste, sonst verwandelte er sich in ein geistloses Tier aus der Urzeit, das keine Ahnung hatte, wie man eine Rettungskapsel startete. Er konzentrierte sich auf die Übungen vor seinem inneren Auge, die ihn wach hielten, und schleppte sich zur Kapsel. Das Schiff kreiselte, schlingerte unkontrolliert, sodass er sich mit den Händen an Griffen festhalten musste, die eigentlich bloß für den Flug ohne künstliche Gravitation vorgesehen waren.

    »Kapselsprengung in fünf Sekunden«, warnte der Computer.

    Rauch erfüllte das Cockpit und nahm ihm die Sicht. Er tastete nach der offenstehenden Tür und fand sie, kroch mühsam hinein und befahl: »Kapsel zünden!«

    Schockabsorbierende Flüssigkeit füllte das Innere und seine Lungen, Warnanzeigen flimmerten über einen kleinen Bildschirm. Die Tür schloss sich schlagartig und ein lauter Knall verkündete, dass die Kapsel aus dem Rumpf des Schiffs gesprengt wurde. So heftig rissen die Fliehkräfte, dass er sofort das Bewusstsein verlor. Zwei Sekunden später zerschellte das Raumschiff in einem Wald.

    ***

    Niemand wusste von ihrem Hobby, nicht einmal ihre besten Freundinnen Tanxia und Sammy, und schon gar nicht ihre nichts ahnenden Eltern. Niemand sollte davon wissen; von einem sechzehnjährigen Mädchen erwartete man anderes, dass sie sich mit Jungs rumtrieb beispielsweise. Sie ging im Kopf die möglichen Kandidaten durch und verzog angewidert den Mund. Nein Danke! Nicht in Terville. Den einzigen, der sie vielleicht ein bisschen verstand, nannten sie ›Kartoffel‹, er war bestimmt zwei Jahre jünger als sie und erinnerte tatsächlich an eine Kartoffel. Aber zumindest kannte er sich mit Raumschiffen und dem Rest der Galaxis aus, was man von den anderen im Dorf kaum sagen konnte. Ein paar mochten vielleicht ganz nett sein; um die buhlten alle. Die meisten erwiesen sich jedoch bei nährem Hinsehen als blöde Arschlöcher, und zumindest Sammy und Tanxia setzten all ihre Hoffnungen aufs College in der nächstgrößten Stadt, wenn sie es im nächsten Jahr dorthin schafften. An einem Ort mit unter zweitausend Einwohnern war die Auswahl doch arg beschränkt.

    Vicky öffnete einen Klappstuhl aus Plastik mit grünem Leinenbezug und machte es sich an ihrem Aussichtspunkt bequem. Aus einem kleinen roten Rucksack zog sie eine Thermoskanne, schenkte sich eine Tasse ein und legte Notizblock und Kugelschreiber bereit. Das Hobby hatte einen fragwürdigen Ruf, war wohl eher etwas für Rentner, weshalb sie es nun einmal selbst ihren besten Freundinnen gegenüber verschwieg. Sie galt schon als verschroben genug, und die Tatsache, dass sie eine Jeanslatzhose und ein rot kariertes Holzfällerhemd trug, half auch nicht unbedingt, im Dorf einen guten Eindruck zu machen. Dabei war die Hose unzerstörbar, jeder andere Stoff wäre im Gestrüpp zerrissen, und ihre Eltern konnten es sich nun einmal nicht leisten, ihrer Tochter jeden Monat neue Klamotten zu kaufen. Außerdem hielt ihr Vater als eingefleischter Farmer nicht viel von Mode, er fand, dass sie lieber ordentliche Funktionskleidung tragen sollte, schließlich musste sie auch oft anpacken, zum Beispiel bei der Ernte, wenn mal wieder einer der gigantischen Ernteroboter ausgefallen war und sie geschickt auf die Führerkanzel kletterte, die überhaupt nur in Sonderfällen per Hand bedient wurde. Vicky fand im Gegensatz zu ihren Freundinnen und einem Großteil der männlichen Bevölkerung von Terville, dass ihr Vater recht hatte und an ihren Jeans nichts auszusetzen war. Mit einem Kleid wäre sie im Zaun hängen geblieben, in den sie eigenhändig mit der Drahtschere ein Loch geschnitten hatte. Nicht besonders sinnvoll also für die Orte, an denen sie sich nach der Schule gerne herumtrieb.

    Sie nippte an dem Kaffee, es war für diese Jahreszeit im September schon verdammt kalt, und warf einen Blick auf ihre Digitaluhr – ein altertümliches Modell, das noch nicht einmal ans Intergal-Netz angeschlossen war. ›Zwei Minuten‹, stellte sie zufrieden fest. Sie war rechtzeitig gekommen. Natürlich hatte sie ein paar moderne Utensilien dabei, sie mochte im Hinterland aufgewachsen sein, aber nicht hinterm Mond. (Eine veraltete Redewendung, wenn man bedachte, dass hinter dem Mond weit mehr als in Terville los war, fiel ihr ein.)

    Ein Laser verriet ihr die Geschwindigkeit und ihr Interkom stellte ein kleines Hologramm ins Netz, das andere dann studierten, klassifizierten, diskutierten. Sie kannte keinen von ihnen persönlich, die Foren ließen sie insgesamt eher kalt, aber gelegentlich lieferte der eine oder andere nützliche Informationen. Ihre Tabellen über die Ziele und Ursprungsorte hätte sie ohne Hilfe aus dem Netz niemals zusammenstellen können.

    Sie spürte den Zug lange, bevor er zu hören oder zu sehen war. Der Boden erzitterte, eine kaum merkliche Vibration, die Fluktuationen im Magnetfeld verursachten. Die Schwankungen waren winzig, aber wenn eine Last von Tausenden von Tonnen auf ihnen lag, dann machten sie sich über kurz oder lang im Gleisbett bemerkbar, da konnte kein Ingenieur etwas dagegen tun.

    Ein Luftzug entstand, ein Sog, der ihr anfangs einen Schrecken eingejagt hatte. Alle möglichen Gerüchte und Mythen wanden sich um die angeblichen Gefahren in der Nähe der Maglevs, weshalb die Behörden um die Strecken ja auch Zäune errichtet hatten. Diese rosteten langsam vor sich hin, und in Wirklichkeit waren die meisten Horrorgeschichten falsch oder zumindest stark übertrieben. Solange man zehn Meter Abstand einhielt, blieb man sicher. Nur auf ihren Notizblock und den Kugelschreiber musste sie achten, sonst wehte der aufkommende Sturm sie weg.

    Ein tiefes Brummen und ein höheres, aufdringliches Moskitosummen der elektrischen Anlagen kündigten die unmittelbare Ankunft des Zuges an. Das Gleissegment war aktiviert worden und die Magneten arbeiteten bereits. Ihr Interkom bestand größtenteils aus Plastik, ebenso die Thermoskanne, und auch sonst trug sie nichts aus Metall herum, denn das hätte bei diesem Abstand tatsächlich Probleme bereitet.

    Die Triebwagen des Zugs schossen um die Biegung, drei gigantische Lokomotiven der Abramov-Bauart, silbern glänzende, haushohe Stahlkolosse, die hintereinander gekuppelt waren, um viele tausend Tonnen kilometerlang im Schlepptau hinter sich herzuziehen. Eine Druckwelle erfasste sie, der Lärm war so ohrenbetäubend, dass man sich nicht einmal geschrien hätte verständigen können. Nicht, dass hier irgendjemand nach ihr rief. Sie war allein, niemand sonst interessierte sich für die Maglev-Züge, und die Bahnmitarbeiter kamen nur alle paar Jahre vorbei, um die Magnetschienen zu prüfen. Den Zaun hatten sie jedenfalls noch nie geflickt, falls ihnen das Loch überhaupt einmal aufgefallen war.

    Vicky mochte die Abramov. Besonders aerodynamisch waren sie nicht gebaut, im Gegensatz zu neueren Triebwagen hatten sie platte Nasen, was den Drucktunnel immens verstärkte, den sie vor sich herschoben. Aber sie hatten etwas an sich, eine brachiale Gewalt verbanden sie mit einer gewissen Eleganz. Dank der silbernen Metallverkleidung sahen sie eher wie klobige Raumschiffe als Züge aus.

    Sie warf einen Blick auf den Geschwindigkeitsmesser. Er zeigte 304 Stundenkilometer an. Als sie wieder aufsah, waren die Lokomotiven schon weg und die ersten Güterwaggons brausten an ihr vorbei. Zwischen jedem von ihnen entstand ein Luftloch, das sich wie ein Schlag in die Magengrube anfühlte. Jetzt musste sie aufpassen, versuchen, wenigstens eine der Aufschriften zu erhaschen. Idealerweise gelang es ihr, aus dem Holo später die Fahrtnummer zu rekonstruieren, aus der sich meistens der Zielort schließen ließ. Oft fehlten sie leider, oder sie waren verdeckt oder zu verschwommen auf dem Holo. Dann mussten sie und ihre anonymen Helfer im Netz anhand der Logos der Frachtunternehmen raten, wohin der Zug fuhr und wo seine Segmente letztlich enden sollten. Es gab Tausende von möglichen Zielen; die Arbeit war nie fertig. Genau das gefiel ihr an dem Hobby.

    Jeder Waggon war groß wie eine Scheune, ein gigantischer Container aus Stahl, und es gab Dutzende unterschiedlicher Typen und Beschriftungen. Manche rosteten vor sich hin, die Farbe blätterte ab, andere waren nagelneu, glänzten im Licht der Nachmittagssonne und transportierten Hochtechnologiegüter. Vicky wusste, dass sie an Verteilerbahnhöfen vollautomatisch umgeladen wurden, gekoppelt und rangiert, bis sie schließlich mit einem der Züge ihren Zielplaneten erreichten. Jede dieser Rangierstationen war so groß wie eine Stadt, und die meisten von ihnen verbanden dutzende von Strecken, manche sogar hunderte.

    Nur auf Terra hielt kein Zug. Natürlich nicht. Die Wiege der Menschheit lag so weit abseits, dass keiner auch nur auf die Idee gekommen wäre, für eine der sechs Linien, die über die Erde liefen, einen Bahnhof einzurichten. Man hatte die Menschheit vergessen, pflegte ihr Vater immer zu sagen, aber Vicky war sich ziemlich sicher, dass niemand überhaupt je an sie gedacht hatte. An wen man nicht dachte, den konnte man nicht vergessen, und kein Außerirdischer und auch kein Mensch jenseits von Terra verschwendete einen Gedanken auf den Ort, von dem aus die Menschheit dereinst in den Kosmos aufgebrochen war. Außer die Xu’Un’Gil, wenn es darum ging, die Erde ein bisschen mehr auszubeuten oder dem Bürgermeister von Terville das Leben schwer zu machen.

    Immer wieder erstaunte sie die Stille danach. Der Lärm verlief sich so schnell, wie er kam, kaum waren die vier Kilometer aus Tausenden von Tonnen Ladung und Stahl hinter der nächsten Biegung verschwunden, waren sie schon nicht mehr zu hören. Der Boden zitterte noch ein wenig, die Luft über den Magneten flirrte; dann schaltete sich das Segment ab und alles war wieder still. Aber Vicky war nicht fertig. Während sie die Zahl und Typen der Waggons in ihr Notizbuch eintrug und das Hologramm hochlud, behielt sie die Uhr im Auge. Nach exakt einer Minute einundvierzig Sekunden erklang der Donnerknall, den die Bewohner von Terville schon kaum mehr wahrnahmen, so alltäglich war er für sie. Der Zug war durch das Wurmloch gefahren und kam am anderen Ende des Universums auf einem anderen Planeten wieder heraus, und zwar zweifelsohne auf einem Planeten, auf dem mehr als in Terville los war.

    Vicky seufzte und trug die Zeit ein. Das Wort ›Provinz‹ war für ihren Heimatort definitiv untertrieben. Terville lag in der Provinz von Europien, Europien lag in der Provinz von Terra, und die gute alte Erde selbst lag so dermaßen am Arsch der Galaxis, dass selbst die meisten Menschen von ihrem Heimatplaneten nie gehört hatten. Geheucheltes Interesse erwies sich noch als die beste Antwort, die man erwarten konnte, wenn man im Intergal-Netz erwähnte, wo man herkam: »Ach ja, klar! Diese ›Erde‹, da kommen die Menschen ursprünglich her, oder?« Keine Sau interessierte sich für die Menschen, kein Mensch interessierte sich für die Wiege der Menschheit, und die Tatsache, dass die Xu’Un’Gil ihren Planeten ausbeuteten und besetzt hielten, rief allenfalls ein Kopfschütteln über die Ungerechtigkeit in der Galaxis hervor. »Schlimm, schlimm. Wie heißt der Ort noch? Liegt der nicht bei Tauri? Da habe ich mal wirklich gut gegessen, die Restaurants liegen in der Hauptstadt gleich am Meer, einem purpurfarbenen Ozean, und haben einen verdammt guten Ruf. Und die Sonnenuntergänge!«

    Sie war auf dem Rückweg zur Farm, als das Schiff vom Himmel fiel. Wie ein Meteor hinterließ es einen Feuerschweif, er leuchtete im Licht der untergehenden Abendsonne, und ein Donnergrollen erklang. Neugierig betrachtete Vicky das Himmelsphänomen, bis ihr klar wurde, dass es direkt auf sie zusteuerte. Sie widerstand dem Drang, wegzurennen; sie mochte nicht die Klügste in der Schule sein, aber hell genug war sie, um zu erkennen, wie sinnlos der Versuch gewesen wäre. Sie spürte die Hitzewelle, die über sie mit einem Brüllen hinwegzog, das jeden Maglev-Zug in den Schatten stellte. ›Holy Shit!‹, dachte sie noch, bevor eine Druckwelle sie zu Boden warf, Holz zersplitterte und Bäume Feuer fingen. Sie vergrub den Kopf in der Erde, Funken und Asche regneten auf sie herab. Ein glühender Ast fiel auf ihren Handrücken. Hastig schüttelte sie ihn ab. Das würde eine Brandblase geben. Eine ohrenbetäubende Explosion und ein dumpfes Beben der Erde verkündeten den Aufprall des Himmelskörpers.

    Als sie sich wieder hochrappelte, war der Spuk längst vorüber. Der Meteor oder das Raumschiff hatte eine glatte Schneise durch den Wald gesprengt, Bäume wie Streichhölzer umgeknickt und am Ende ein Erdbeben verursacht. Aber sie war wohlauf, wenn man von der kleinen Verbrennung mal absah. Sie folgte der Schneise, über umgestürzte Baumstämme und glimmende Äste, doch bereits nach wenigen Metern wurden der Rauch und die Hitze unerträglich. An der Absturzstelle brannte es, dunkle Wolken stiegen in etwa zweihundert Meter Entfernung auf. Ohne Atemmaske ließ sich da kaum etwas machen und die Feuerwehr war sicher schon unterwegs. Leider kam sie aus der nächsten Stadt, aus Groß-Menlow, einem Ort mit etwa 160,000 Einwohnern. Die Autos brauchten eine gute halbe Stunde und auch ein Notfallhelikopter musste erst gerufen werden. Die Xu’Un’Gil besaßen atmosphärentaugliche Shuttles, die aus dem Orbit in ein paar Minuten vor Ort gewesen wären, aber die Besatzer tauchten nur selten auf und überließen das Tagesgeschäft den Menschen.

    Vicky band sich ihren Schal vors Gesicht und versuchte, sich weiter durch das Inferno vorzukämpfen, gab jedoch nach wenigen Metern wieder auf. Sie würde sich eine Rauchvergiftung holen, und außerdem hatte sie einmal gehört, dass der hoch konzentrierte Trockentreibstoff von Raumschiffen sehr giftig sein sollte. Das war wohl doch nur etwas für jemanden mit Spezialausrüstung. Sie wollte sich gerade darauf beschränken, einen Schnappschuss ins Netz zu stellen, da fiel ihr ein grellroter Stoff auf, der im Licht der Abendsonne in den Baumwipfeln leuchtete. Ein Fallschirm! Also war tatsächlich ein Raumschiff und kein Meteor heruntergekommen.

    Sie kämpfte sich durchs Unterholz auf den Ort zu, der etwa hundert Meter abseits der eigentlichen Schneise lag, und verlor nach wenigen Metern den Stoff aus den Augen. Auf gut Glück hielt sie weiter in die die Richtung, und stieß tatsächlich nach einigen Minuten auf den Ort, an dem der Fallschirm niedergegangen war. Auch hier rauchte es, an einigen Stellen züngelten noch die Flammen, und eine kleine Tanne war in der Mitte durchgebrochen. Glücklicherweise hatte es vor ein paar Tagen kräftig geregnet, im Hochsommer hätte sich rasend schnell ein Waldbrand ausgebreitet. Obwohl sie damals ein kleines Kind gewesen war, erinnerte sich Vicky bestens an die Brände vor zehn Jahren, bei denen ihre Eltern beinahe die Farm verloren hätten.

    Neben der Tanne dampfte in einem Krater eine Kapsel, ein etwa zwei Meter fünfzig hoher und ein Meter fünfzig breiter Kasten aus Metall. Auf der Oberseite war er knallorange gestrichen, die Unterseite bestand aus einer matten Metalllegierung. Sie tippte auf Titan oder Aluminium mit wabenartiger Struktur; von solchen Stoffen hatten sie im Schulunterricht gehört. Der Fallschirm hatte sich in den darüberliegenden Baumkronen verfangen und war zum Teil gerissen, und überhaupt deutete der Krater zweifelsohne darauf hin, dass er den Aufprall nicht vollständig verhindert hatte. Vielleicht war er für dichtere Atmosphären als die der Erde entwickelt worden oder von vornherein bloß dazu gedacht gewesen, den Schock ein wenig abzudämpfen.

    Die Vorderseite der Kapsel und die Seitenwände waren beschriftet, doch definitiv nicht auf Standard-Intergal. Die Buchstaben oder Runen sagten ihr nichts, sie hatte dieses Schriftsystem garantiert noch nicht gesehen. Ein kleines, nur etwa fünfzig auf zwanzig Zentimeter hohes Sichtfenster war in die Vorderseite eingelassen. Das Wort ›Radioaktivität‹ spukte ihr durch den Kopf, aber sie ignorierte es und trat näher. Die Kapsel lag schräg, sie konnte vom Rand des Kraters einen Blick ins Innere erhaschen. Enttäuscht stellte sie fest, dass die Scheibe auf der Innenseite beschlagen war. Da schien etwas Grünliches dahinter zu liegen, doch vor allem sah sie Wasserdampf, wie bei einer gläsernen Duschkabine, wenn sie im Winter im ungeheizten Bad als erste duschte – ein Privileg, dass ihr erst zuteilgeworden war, seitdem ihr Bruder sich freiwillig zum Militärdienst gemeldet hatte. Der Idiot!

    Vicky konnte sich nicht entscheiden, was zu tun war. Zwar hatte sie Erste Hilfe für außerirdische Spezies in der Schule gelernt, aber der Unterricht hatte sich auf die Xu’Un’Gil beschränkt, was man auf keinen Fall falsch machen durfte, bevor die Besatzer mit ihren Truppen und Notärzten eintrafen. Die Reptilienwesen waren zäher als Menschen, man sollte eigentlich gar nichts tun, wenn einer in Not geriet. Nur war sie sich in diesem Fall sicher, keinen von ihnen vor sich zu haben. Die Notkapsel ganz sicher nicht in der Sprache Xu’Un’Gil beschriftet, die sie sogar ein bisschen lesen konnte, und außerdem wären zusätzliche Standard-Intergal Hinweise darauf gewesen. Eine Menge Menschen halfen den Xu’Un’Gil, darunter ja auch ihr Bruder, obwohl er immer betonte, dass die Orbitalkräfte von den Streitkräften ihrer Besatzer vollkommen unabhängig seien. Was wusste er schon davon, er war ja bloß ein Rekrut!

    Sollte sie die Kapsel öffnen? Was, wenn die Erdatmosphäre ihren Insassen sofort umbrachte? ›Unwahrscheinlich‹, ging es ihr durch den Kopf. In diesem Fall ließe sich der Öffnungsmechanismus gar nicht auslösen. Was sie zur wichtigeren Frage brachte: Wie brachte man das Ding überhaupt auf? Sie klopfte gegen die Metallkapsel und fluchte. Die mattschwarze Oberfläche war glühend heiß!

    Sie untersuchte die Seitenwände und fand eine Vertiefung, auf die ein Pfeil und deutlich erkennbare Runen hinwiesen. Kurzerhand umwickelte sie ihre Hand mit dem Schal und drückte. Nichts geschah. Sie musterte den Mechanismus genauer, wobei sie beinahe über den Kraterrand gestolpert wäre. Er erinnerte ein bisschen an den einer Autotür. Also hakte sie die Finger ein und zog. Mit einem Zischen, das ihr einen heftigen Schreck einjagte, fuhr ein Teil der Vertiefung zur Seite und offenbarte ein Holodisplay, auf dem in schematischer Sicht ein humanoider Körper abgebildet war. Zwei Beine, zwei Füße, auch wenn die Proportionen nicht den menschlichen entsprachen. Dazu blendete es eine Unzahl von Informationen in jener Runenschrift ein, die sie nur zu gerne entziffert hätte. Rote Symbole blinkten und einige Zeichen waren fett gedruckt und eingerahmt, das konnten nur Warnhinweise sein. Unter der holografischen Anzeige prangte ein fetter, roter Knopf, für den eigentlich bloß eine Erklärung infrage kam. Die Notverriegelung.

    Sie dachte nach. Die Kapsel funktionierte, zeigte entweder medizinische Daten oder irgendwelche Fehler an. Der Türmechanismus schien unbeschädigt zu sein. Die Feuerwehr kam erst in zwanzig Minuten, und weder von den Xu’Un’Gil noch von einem Rettungshubschrauber war etwas zu sehen. Der Insasse der Kapsel brauchte Hilfe, sonst wäre er schon von selbst herausgekommen. Eine Rettungskapsel ließ sich nicht so einfach öffnen, wenn die Atmosphäre tödlich war. Terranische Keime und Pilze konnten einer außerirdischen Spezies nicht zur Gefahr werden und Umweltgifte würde die Automatik ebenfalls prüfen. Und zu guter Letzt hatte sie sich gewiss schon verstrahlt, falls Radioaktivität im Spiel war. Also drückte sie den Knopf.

    Zuerst geschah gar nichts. Dann nahm sie ein leises Zischen wahr, das nach und nach intensiver wurde. Instinktiv trat Vicky einen Schritt zurück, was sich als weise Entscheidung erwies, als plötzlich mit einem lauten Knall die gesamte Vorderseite des Behälters absprang und sie beinahe erschlagen hätte. Ein Schwall einer klebrigen Flüssigkeit floss aus dem Innern, die an Honig erinnerte. Übrig blieb erst einmal nichts als weißer Rauch oder Wasserdampf, der auch das Sichtfenster beschlagen hatte. Während er verflog, traten nach und nach die Umrisse einer außerirdischen Lebensform zutage. Vickys Magen verkrampfte sich vor Aufregung. Er – oder sie oder es, fiel ihr ein – trug einen hellbeigen Raumanzug, eine Art Overall mit Gürtel und ganz gewöhnlichen Hosentaschen, dazu jedoch keinen Helm, und ein großer Teil der Arme blieb frei. Es handelte sich eindeutig um eine humanoide Lebensform, ein Zweibeiner, wie sie schon vermutet hatte. Der Kopf war grünlich, wie von der Farbe eines Grashüpfers, und auch die Arme wirkten wie die Glieder eines Insekts, schienen vier statt drei Gelenke aufzuweisen und endeten in konzentrisch angeordneten, fragil und gleichzeitig elegant wirkenden Fingern, die eher an Robotergreifzangen denn an menschliche Hände erinnerten. Zwei Fühler oder Antennen auf dem grünen Kopf verstärkten den Eindruck, einen etwa menschengroßen Grashüpfer vor sich zu haben.

    Das Gesicht hingegen wirkte überhaupt nicht insektenhaft, sondern wie eine Mischung aus Mensch und Fisch. Es besaß einen Mund, der beinahe menschlich aussah, nur dass die Lippen wulstig wie die von Fischen waren und ein wenig hervorstanden, und drei Nasenlöcher, die nach unten verliefen und ziemlich exakt die Stelle einnahmen, an der auch eine menschliche Nase lag. Die Augen lagen leicht seitlich und bestanden aus nach unten lang gezogenen Ovalen, zwei dunkle Seen, die im untergehenden Licht der Abendsonne ölig glänzten. Sie waren weit größer als die eines Menschen, nahmen beinahe die gesamte obere Gesichtshälfte ein. Auf dem Kopf, zwischen zwei Fühlern, besaß das Wesen eine Art Kamm, einen bunt schimmernden Büschel, wie bei manchen irdischen Molchen und Reptilien. Ein grüner Drachen-Graßhüpfer-Olm mit Kulleraugen.

    Vicky ging im Geist die vielen Bilder von außerirdischen Spezies durch, die sie im Unterricht durchgegangen waren, und musste passen. Hunderte hatten sie durchgenommen, ihre Daten auswendig gelernt und in langweiligen Xenobiologiearbeiten wieder zu Papier gebracht, und sie war sich hundertprozentig sicher, diese Spezies nie gesehen zu haben. Sie zuckte vor Schreck zusammen, als die Augen plötzlich auf beinahe menschliche Weise blinzelten.

    »Hallo?«, rief sie auf brüchigem Standard-Intergal und kam sich dabei schrecklich dumm vor. »Sind sie der Pilot? Sind sie verletzt?«

    Das Wesen hob die Greifhand, nestelte an einem Gurt herum, ließ sie jedoch unverrichteter Dinge wieder sinken und gab ein lautes, lang gezogenes Stöhnen von sich, bei dem es sich, da war sich Vicky ganz sicher, in der Tat um ein Schmerzlaut handelte. »Ja. Verletzt. Wo ... bin ich?«

    Sein Standard-Intergal klang gepflegt, wie von den professionellen Sprechern der Sprachkurse der Xu’Un’Gil gesprochen, nach denen sie im Unterricht lernten.

    »Auf der Erde.«

    Er neigte den Kopf und einer seiner Fühler knickte nach vorne. Vicky spürte ihr Herz pochen. Bis auf ihre Besatzer hatte sie in ihrem Leben noch nie einen Außerirdischen leibhaftig zu Gesicht bekommen. Wenn überhaupt je einer auf der Erde zu tun hatte, dann mit Sicherheit nichts in Terville.

    »Terra?«, murmelte der verletzte Pilot benommen.

    »Ja.«

    »Sol-System. Sol 3«

    Das klang eher wie eine Feststellung, aber es war wohl besser, präzise zu sein. Vicky fragte sich, ob er vielleicht einen Schlag auf den Kopf bekommen hatte, falls da überhaupt sein Hirn lag, denn sicher musste er als Pilot doch eine Ahnung haben, wo er bruchgelandet war?

    »Richtig. Der dritte Planet von Sol. Wir nennen ihn ›Erde‹.«

    »Scheiße.«

    ***

    Ihr Leben lang hatte sie davon geträumt, zu den Sternen zu reisen, die vielen anderen Spezies kennenzulernen, die das Universum bevölkerten, oder wenigstens wie ihr Bruder einmal von der Oberfläche runterzukommen und ein paar Monate auf einer modernen Raumstation zu verbringen, und dann fällt dem ersten Außerirdischen, dem sie abgesehen von den Echsenköpfen begegnet, zur Erde nichts weiter als das Wort ›Scheiße‹ ein? Sie unterdrückte den Zorn und einen Anfall von Lokalpatriotismus, der wider Willen in ihr aufkam. Es gab Wichtigeres zu tun, als den verletzten Piloten über die Vorzüge von Terra aufzuklären, an die sie selbst nicht glaubte.

    »Es kommt bald Hilfe«, erklärte sie. »Die Behörden sind sicher schon auf dem Weg.«

    Dass es sich dabei erst einmal wohl bloß um den Dorfpolizisten und den Bürgermeister handelte, die sicher just in diesem Moment an der elterlichen Farm vorbei mit dem Jeep unterwegs waren, verschwieg sie. Der Außerirdische stöhnte erneut und begann, mit beiden Greifzangen am Gurtsystem herumzufummeln. Sie trat näher und half ihm, obwohl er ihr instinktiv Furcht einjagte. Davon hatten sie im Xenobiologieunterricht gelernt, die Angst vor dem Unbekannten war den Menschen wie den meisten vernunftbegabten Spezies angeboren und musste erst überwunden werden. Sie hatte das immer für Propaganda der Xu’Un’Gil gehalten. Vielleicht war wirklich was dran.

    »Bitte ...«, murmelte der Grashüpfer-Drache. »Keine Behörden.«

    »Sie kommen gleich«, versuchte sie ihn zu beruhigen. Sie ging mittlerweile davon aus, dass er verwirrt war, und ihr fiel ein Riss an der Seite seines Raumanzugs auf, aus dem eine Menge zähflüssiger grüner Flüssigkeit lief, bei der es sich nur um Blut handeln konnte.

    »Nein ... bitte ... keine Behörden. Muss ... weiter.«

    Sie fand den Sicherungsknopf, den er suchte, und das Gurtsystem sprang auf. Er packte mit beiden Armen die Kapselwände und hievte sich heraus, stolperte jedoch über den Kraterrand. Sie fing ihn auf, stützte ihn und vergaß dabei die Angst vor dem Unbekannten.

    »Bitte, sie sind verletzt, sie brauchen ärztliche Hilfe. In Groß-Menlow betreiben die Xu’Un’Gil eine Xenoklinik, dort kann ihnen –«

    »Oh, nein! Keine Xu’Un’Gil!«

    Das Sprechen kostete dem Besucher sichtbare Mühe, aber die Botschaft war eindeutig. »Keine Xu’Un’Gil?«

    Seine Fühler bewegten sich auf und ab. »Richtig.« Halb auf sie gestützt betrachtete er den Himmel. Er starb doch nicht etwa schon, während sie ihn stützte?

    »Sie sind ein Men’shuk?«

    »Ein Mensch, ja.«

    »Richtig. Menuschuk«, wiederholte er das fremdartige Wort, das natürlich bloß als Lehnwort ins Standard-Intergal übernommen worden war. Dazu gab es festgelegte Transliterationsvorschriften, anhand derer die Laute an das vereinfachte phonetische System des Intergal angepasst wurden.

    »Bitte nur Menschuk’en – keine Xu’Un’Gil. Ich muss weiter ...«

    »Sie müssen sich ausruhen und brauchen Hilfe«, hielt sie dagegen, und er widersprach nicht. Aber er bestand darauf, so schnell wie möglich von der Rettungskapsel wegzukommen, also tat sie das Beste, was ihr in diesem Augenblick einfiel, und führte ihn zur Scheune der elterlichen Farm. Der Weg dauerte normalerweise höchstens zehn Minuten und sie brauchten eine halbe Stunde, doch jedes Mal, wenn sie anhalten wollte und vorschlug, im Netz nach Hilfe zu suchen, lehnte er ab und zog sie fast weiter, obwohl er deutlich humpelte, mit dem linken Fuß kaum aufsetzen konnte, und schrecklich blutete. Wie viel Blut er wohl verlieren konnte?

    Ihr Eltern brachten sie um, wenn sie erfuhren, wen sie da in der Scheune beherbergte, und nicht nur ihre Eltern. Der Pilot wollte nichts mit den Behörden zu tun haben, fürchtete sich vor den Xu’Un’Gil. Wenn er nicht gut mit ihnen stand, dann hatte sie nicht vor, ihn an sie auszuliefern. Aber sie musste auf der Hut bleiben und die Neuigkeit erst einmal für sich behalten.

    Kapitel 2

    Das Rad gehörte ihrem Bruder und deshalb benutzte sie es nur selten. Nicht, dass Pete sich darum gekümmert hätte, er hatte als Rekrut auf der Orbitalstation, oder wo auch immer er gerade geschunden wurde, sicher andere Sorgen und es ihr bei der Abreise ganz offiziell übergeben, was ihn dennoch nicht vor ihrem Zorn geschützt hatte. Nein, sie lief normalerweise zu Fuß ins Zentrum von Terville oder sie nahm ihr eigenes, weitaus weniger taugliches Rad, weil es sich beim Rad ihres Bruderherzens um scheußlich aufgemotztes Mountainbike handelte. Sie wurde oft genug schon wegen ihrer kurzen, verstrubbelten Haare gehänselt – sie wollte mal einen von diesen Typen sehen, wenn die Föhnfrisur zwischen den Zahnrädern einer Erntemaschine hängen blieb –, da musste sie nicht noch mit einem Mountainbike durchs Dorf radeln. Nur diesmal hatte sie es eilig und ihr eigenes Rad hatte einen Platten. Ihr Patient war eingeschlafen und sie musste davon ausgehen, dass er im Sterben lag. Also trat sie in die Pedale, über Stock und Stein, und leider auch durch den Schlamm in der Auffahrt zum Hof, den die Räder ohne Schutzbleche schön fein auf ihrem Rücken verteilten.

    Auf halben Weg ins Dorf, als der Feldweg sich in eine Schotterstraße umwandelte, kamen ihr der Dorfpolizist Becker und Bürgermeister Wonneberg im Polizeijeep entgegen, der gleichzeitig auch als Dienstwagen des Bürgermeisters fungierte. Sie fluchte leise vor sich hin, nicht die Abkürzung genommen zu haben, wollte schnurstracks an dem Auto vorbeiradeln, aber der Weg war zu eng, und außerdem erregte sie Verdacht, wenn sie die beiden nicht wenigstens grüßte. Jeder kannte schließlich jeden im Dorf.

    Becker kurbelte das Fenster runter und hielt den Kopf aus dem Wagen.

    »Hallo Vicky!«

    »Hi!«

    Sie winkte zurück und tat so, als habe sie es eilig. Die Einkaufsliste, die sie in die Hand geknüllt hatte, ließ sie unbewusst in die Tasche ihrer Latzhose gleiten, wobei sie aus dem Gleichgewicht geriet und sich aufstützen musste.

    Der Bürgermeister wandte sich an sie: »Victoria, ist dein Vater zuhause?«

    Wonneberg galt als Kollaborateur, sonst hätte er nicht das Amt innegehalten, aber er war freundlich und hatte einen guten Ruf, war größtenteils beliebt. Selbst ihre Mutter hielt ihn nicht für gefährlich.

    »Auf den Nordfeldern, Erntebots warten.«

    »Alles klar. Wir fahren rauf in den Stresenwald vor der Bahnlinie. Da ist was runtergekommen.«

    »Oh ja!«, bestätigte sie. Den Knall und die Verwüstung zu leugnen, hätte Argwohn erregt.

    »Ist’s okay, wenn wir die Abkürzung über die Farm nehmen?«

    Sie schluckte und hoffte, dass die beiden ihr das mulmige Gefühl, das sich in ihrer Magengrube breitmachte, nicht ansahen. Sie würden direkt an der Scheune vorbeifahren. »Natürlich! Geht schneller!«

    Becker übernahm wieder das Gespräch, während der Bürgermeister einstieg und sich anschnallte. »Hast du was gesehen? Warst du im Wald?«

    Sie versuchte, jünger zu wirken, als sie war, spielte das zehnjährige Mädchen und hoffte gleichzeitig, nicht zu dick aufzutragen. »Ja, ich glaube, das war ein Riesenmeteor! Aber es ist kein Waldbrand entstanden, jedenfalls steigt kein Rauch mehr auf.«

    »Wir prüfen das gerade. Fährst du zur Schule?«

    »Nein, nein, wir haben heute keinen Nachmittagsunterricht. Ich bin ... in der Eisdiele verabredet.«

    »Alles klar! Viel Spaß!«

    Er salutierte auf gespielte Weise. Sie mochte den dicken, gemütlichen Polizisten mit dem albern verwirbelten Schnauzbart, kannte ihn seit ihrer Kindheit. Er tratschte eigentlich nur den ganzen Tag über mit den Dorfbewohnern herum, und sie war sich sicher, dass er seine Pistole im Leben noch nicht eingesetzt hatte. Wahrscheinlich war sie nicht einmal geladen. Trotzdem zuckte sie unbewusst zusammen, als er ihr im Wegfahren aus dem Wagen heraus hinterherrief: »Vicky, sag deinem Vater Bescheid, dass wir mit ihm sprechen müssen, ja?«

    Sie tat, als habe sie ihn nicht gehört und radelte hastig weiter, nahm eine Abkürzung über einen besonders steinigen Feldweg ins Tal, der sie beinahe in den Straßengraben beförderte. Sie kannte die Gegend aus dem Effeff, als Kind wäre sie doppelt so schnell ins Dorf gebrettert, aber sie war ein bisschen außer Übung. Außerdem war Petes Rad schrecklich eingestellt, der Sattel kam ihr zu tief vor und der Lenker zu kurz.

    Als sie auf die asphaltierte Straße kam – eine von vieren, um die sich die Häuser von Terville gruppierten –, fiel ihr zu spät ein, dass der Weg sie tatsächlich direkt an der Eisdiele vorbeiführte. Kein sehr guter Plan. Irgendjemandem begegnete man dort immer. Sie war es nicht gewohnt, geheime Einkäufe zu machen.

    »Oh nein!«, flüsterte sie zu sich selbst. Da saßen Matt Bröninger zusammen mit diesem ›Pelle‹, einem unangenehmen Vollidioten, und noch ein paar anderen Jungs, und mittendrin zwischen ihnen Tanxia, sowie Petra und Susanne aus der 11b über ihrer Stufe. Trotz des kühlen Wetters genossen sie anscheinend die tief stehende Abendsonne und schlürften an Milchshakes, als sei der Sommer nie zu Ende gegangen. Was nun? Tanxia erkannte sie schon und winkte ihr zu.

    Kurzerhand trat Vicky in die Pedale, beschleunigte so schnell sie konnte und zog an der Gruppe mit einem nonchalanten Winken und einem unverständlichen Ruf vorbei. Einer der Jungs rief irgendwas Blödes hinterher, das sie sowieso nicht verstand, jemand kicherte laut, und schon war sie um die Ecke gebogen. Den verdutzten und definitiv enttäuschten Gesichtsausdruck ihrer Freundin würde sie so schnell allerdings nicht vergessen.

    Dreißig Sekunden später warf sie das Rad vor den Eingang zu Meyers Gemischtwarenladen und stürmte durch die Tür. Eine Glocke bimmelte, und sie fand sich außer Atem keuchend vor dem Inhaber wieder. Ferdinand Meyer, der Prototyp des guten Onkels mit grau melierten Haaren, sah über den Rand seiner Lesebrille zu ihr. Er las den ganzen Tag über, wenn er nicht gerade Kunden bediente oder sich mit ihnen übers Wetter unterhielt. Jeder im Dorf kannte ihn und er kannte jeden im Dorf. Was in diesem Fall ein Problem war, doch eins, das sich nicht vermeiden ließ. Sie musste eben hoffen, dass er ihrer Mutter nichts erzählte.

    »Vicky, wir schließen zwar bald, aber ein paar Minuten hast du noch. Eile mit Weile.«

    Sie grinste. »Ich suche was Spezielles, und es eilt tatsächlich ein bisschen. Sagen sie, Herr Meyer, es ist doch verboten, anderen zu erzählen, was einer einkauft, oder?«

    Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich und er rückte sich die Brille zurecht. »Vicky, du hast hoffentlich nicht ...? Ich meine, wenn’s um medizinische Fragen geht, solltest du besser gleich zu Doktor Vieux gehen. Er ist gesetzlich zur Verschwiegenheit verpflichtet, auch deinen Eltern gegenüber.«

    Auf die Idee war sie gar nicht gekommen. Ein menschlicher Arzt konnte durchaus Proteine und Erst-Hilfe-Sets für außerirdische Spezies aufbewahren, war vielleicht sogar als Rettungssanitäter für Außerirdische geschult. Höchstwahrscheinlich aber nur für die Xu’Un’Gil, und ganz sicher nicht für einen X’ur. Diese Spezies war nämlich verdammt selten, das hatte ihr der Pilot, der sich M’xor nannte, erklärt, bevor er wieder eingeschlafen war.

    Meyer starrte sie an, und sie hatte das Gefühl, dass da etwas nicht stimmte. Woher wusste er, dass es sich um einen medizinischen Notfall handelte? Er verkaufte so ziemlich alles: frisches Obst und Gemüse, Haushaltswaren aller Art wie Knöpfe, Glühbirnen, Trecker-Zubehör, Nähzeug, Küchenmaschinen. Der Laden fungierte als Apotheke, weshalb sie auch gekommen war, nur wie kam Meyer darauf?

    Er deutete ihr Schweigen falsch, lächelte freundlich und zwinkerte ihr zu: »Aber keine Sorge, Vicky, ich kann meinen Mund halten.« Er seufzte laut. »Einen Schwangerschaftstest, nehme ich an?«

    Sie lachte hysterisch, die Anspannung, die sich durch die ungewöhnlichen Ereignisse des Tages aufgestaut hatten, entluden sich auf explosive Weise und es dauerte einen Augenblick, bis sie sich wieder einfing. Dem Apotheker und Gemischtwarenhändler war der Fehler peinlich, er strich sich über den grauen Rauschebart und lief rot an.

    »Oh, keine Sorge, Herr Meyer! Ich bin ganz bestimmt nicht schwanger.«

    Noch als sie die Worte sprach, wurmten sie sie mehr, als sie jemals zugegeben hätte. Natürlich wollte sie nicht schwanger werden, schon gar nicht ungeplant. Nur leider ärgerte sie der Grund. Sie nahm die Pille, ihre Mutter hatte ihr dazu geraten, nachdem ein Mädchen zwei Stufen über ihr eine Menge Ärger bekommen hatte – ihre Eltern waren gegen die Abtreibung gewesen, und jetzt hing sie in Groß-Menlow herum, verheiratet mit einem Idioten, der sich mehr für sein Auto als für seinen Sohn interessierte, und würde niemals mehr eine höhere Schule oder die Uni sehen. Dummerweise hätte sie selbst jedoch die Pille genauso gut wieder absetzen können, denn bisher hatte sich keine Gelegenheit ergeben, ihre Nützlichkeit zu testen. Den Grund dafür sah Vicky in der sowohl zahlenmäßigen als auch geistigen Beschränktheit der übrigen Dorfbewohner in ihrer Altersklasse.

    »Gut, gut«, murmelte Meyer verlegen. »War nur so eine Idee, weil du so reingestürmt bist mit diesem Gesichtsausdruck. Wäre ja wirklich zu früh dafür.« Sein Gesicht hellte sich auf. »Nun, also was darfs dann sein?«

    Vicky ignorierte das Summen ihres Telefons, das sie auch ohne draufzusehen als Nachricht von Tanxia identifizieren konnte. »Ich brauche Notproteine oder Notmahlzeiten und Erste-Hilfe-Sets, Verbandszeug und so.«

    »Ah, das ist kein Problem!«

    »... für Spezies 367. Man nennt sie X’ur auf Intergal.«

    Meyer hielt inne und musterte sie von oben bis unten, als habe er persönlich ein Exemplar dieser seltenen Spezies vor sich. Er schaltete schnell, für ihre Zwecke bei Weitem zu schnell. »Das war kein Meteor. Das war ein Raumschiff. Und ich nehme an, das Ganze sollte unter uns bleiben? Du weißt, dass wir die Rettungskräfte alarmieren müssen?«

    »Dem Piloten geht es gut«, log Vicky und war sich plötzlich selbst nicht mehr sicher, ob sie das Richtige tat. Was, wenn er tatsächlich im Sterben lag? Die Behörden nicht einzuschalten, das wäre dann wohl unterlassene Hilfeleistung. »Er will auf keinen Fall mit den Xu’Un’Gil zu tun haben.«

    Der Händler zuckte mit den Schultern. »Und? Was weißt du über ihn? Er könnte ein entlaufener Sträfling oder ein Massenmörder sein. Nicht alle, die von den Xu’Un’Gil gesucht werden, sind gute Menschen.«

    Er würde zum Telefon greifen und ihre Eltern anrufen, ging es ihr durch den Kopf, und das Schlimmste daran war, dass er recht hatte. Sie wusste nichts über diesen Pilot, er hatte ihr nicht erklärt, warum er vor den Behörden Angst hatte, und es gab alle möglichen Gründe, die nichts damit zu tun hatten, dass die Xu’Un’Gil sich als die Herrscher der Erde aufspielten. Sie wusste nicht mehr, was sie sagen sollte.

    Herr Meyer beobachtete ihre Reaktion und lächelte freundlich. Er kam hinter dem Tresen hervor, verriegelte die Ladentür, drehte das Schild auf ›geschlossen‹ und zog den Rollladen herunter.

    »Spezies 367, sagst du«, murmelte er. »Du hast doch nicht im Intergal-Netz nachgesehen?«

    Sie schüttelte den Kopf. »Sie überwachen das Netz.«

    Er nickte bedächtig. »Das ist korrekt. Also gut.«

    Mit einem Seufzen holte er hinter dem Tresen einen abgewetzten, gedruckten Katalog hervor, auf dem in gelben Buchstaben auf rotem Untergrund ›großer Almanach galaktischer Lebensformen‹ stand. »Die Ausgabe ist ein bisschen veraltet, aber wir werden deinen Freund schon finden.« Mit dem Finger ging er durch einen Index, fand den Eintrag und blätterte die Seite auf. Er studierte ihn in aller Seelenruhe, Vicky konnte die Spannung kaum aushalten, bis er den Band zu ihr drehte. Die Abbildung ähnelte M’xor so sehr, als habe der Zeichner ihn sich als Vorbild genommen. Höchstens die Fühler mochten etwas übertrieben lang sein, das variierte wohl von Exemplar zu Exemplar. Die Spezies stammte vom Planeten Prak’sur, dem vierten Planeten aus dem Sur System. In der Tat war sie extrem selten, denn der Planet war vor über hundert Jahren vernichtet worden. Seitdem trieben sich die X’ur überall in der Galaxis herum. Sie galten als Einzelgänger, hochintelligent, umgänglich und normalerweise ungefährlich, besaßen einen ausgeprägten Ehrenkodex, ein reiches Kulturgut, das zumindest in digitaler Form der Zerstörung ihres Planeten entgangen war, und kamen aufgrund ihrer Sprachbegabung und ihres Einfühlungsvermögens, sowie einer ausgesprochenen Höflichkeit und einem gewissen Mangel an Aggression mit anderen Lebensformen gut aus.

    »Siehst du«, stellte Vicky fest. »Eine harmlose Spezies.«

    Die Bemerkung schien den alten Händler zu amüsieren. »Wir sind auch eine harmlose Spezies. Das besagt gar nichts. Aber sieh hier!«

    Er legte den Finger auf einen Kasten am Ende der Doppelseite, der mit ›Politik‹ betitelt war. Darin stand:

    »Zerstörung von Pak’Sur vermutl. 3488 IGT durch die Vongul während des Dritten Galaktischen Konflikts (S. 288, Schautafel 2) durch eine geächtete Kernpulswaffe; seitdem Auflösung der ehemals demokratisch-oligarchischen Staatsstruktur, Staatenlosigkeit; bis zu ihrem Niedergang häufige Assoziierung mit der Dritten Republik (S. 20, Übersicht ›polit. Fraktionen‹) und weiteren Achsenkräften gegen die Expansion des Vongul-Makkarats; Verdacht auf Zusammenarbeit mit der Terrororganisation ›Vierte Republik‹.«

    Vicky mochte in Geschichte nicht viel aufgepasst haben, aber sie verstand sofort. Die Xu’Un’Gil dienten den Vongul, die Erde lag im Vongul-Großreich, wenn auch eher am Rand, und natürlich hatte selten ein Vongul einen Grund, auf Terra vorbeizusehen. Die Vongul ihrerseits hatten M’xors Heimatplaneten vom Himmel gepustet, und zwar mit einer jener allseits geächteten Waffen, die den gesamten Kern eines Planeten destabilisierten, bis er praktisch auseinanderbrach. Die Erde und viele weitere menschliche Kolonien waren wohlweislich neutral geblieben und schließlich von den einen oder anderen Freunden der Vongul besetzt worden. Nicht so die restlichen Vertreter der X’ur, sie hatten sich größtenteils der Dritten Republik angeschlossen, die bekanntermaßen ebenfalls verloren hatte. Kein Wunder, dass nicht mehr viele von Spezies 367 übrig waren und dass M’xor keine Lust hatte, sich von den Xu’Un’Gil ärztlich versorgen zu lassen.

    Herr Meyer zog aus einer Schublade im Tresen eine handgeschriebene Liste und ging sie durch. Schließlich gab er einen tiefen, lauten Seufzer von sich.

    »Wie geht es deiner Mutter, Aldena?«, erkundigte er sich plötzlich. Ein merkwürdiger Themenwechsel.

    »Gut. Also, haben –«

    Er unterbrach sie. »Wie die Mutter, so die Tochter, eh?«

    Sie hatte keine Ahnung, auf was er hinauswollte.

    »Wir kennen uns schon lange, ich und deine Mutter, wusstest du das?«

    »Sie hat mal erwähnt, dass ihr zusammengearbeitet habt, als sie als Krankenschwester gearbeitet hat, glaube ich.«

    Meyer schürzte die Lippen. »Mehr hat sie nicht gesagt?«

    Vicky schüttelte den Kopf. Sie verstand immer noch nicht, worauf er hinauswollte, und fand den Themenwechsel, wenn sie ehrlich sein sollte, ziemlich unpassend. Der Pilot namens M’xor lag möglicherweise im Sterben, er hatte eindringlich nach diesen Proteinen verlangt und auch keinen Hehl daraus gemacht, dass es eilig war. Sonst hätte sie sich kaum auf Petes Fahrrad geschwungen und sich Ärger mit einer ihrer besten Freundinnen eingehandelt.

    »Gut«, stellte der Händler zufrieden fest. »Verrate deiner Mutter besser nichts von dieser Geschichte. Sie soll sich keine unnötigen Sorgen machen. Der Pilot braucht Hilfe, richtig, und ist aus historischen Gründen nicht allzu gut auf unsere Besatzer zu sprechen. Wollen wir ihm also seine Proteine besorgen, je schneller es ihm besser geht, desto eher ist die Angelegenheit erledigt. Wo finden wir ihn denn? Ich kenne jemanden, den ich vorbeischicken könnte.«

    Vickys Gesichtsausdruck versteinerte. Sie war sich sicher, dass Herr Meyer keiner Fliege etwas zuleidetat, aber sie hatte nicht vor, ein unnötiges Risiko einzugehen. Mit brüchiger, ihrer Meinung nach entschieden zu schwacher Stimme bekräftigte sie: »Ich bringe ihm die Proteine.«

    Er lächelte. »Du erinnerst mich sehr an deine Mutter. Grüße sie von mir! Sie hätte all die Jahre doch mal vorbeischauen können. Oder nein. Grüße sie nicht von mir! Halte sie aus der Sache raus, okay?«

    Vicky nickte zögerlich. Anscheinend kaufte sie doch nicht in diesem Laden ein. An einem Ort, an dem es gerade mal eine Eisdiele und zwei Geschäfte gab, war das mehr als merkwürdig. Das musste sie einmal näher untersuchen. Später. Sie hatte nämlich nicht vor, M’xor ihrer Mutter vorzustellen, den Ärger wollte sie sich sparen, zumal ihre Eltern noch nichts von ihrem Plan wussten, nicht mit Sammy und Tanxia aufs College zu gehen, sondern die Schule abzubrechen.

    »Warte hier!«

    Meyer verschwand im Hinterzimmer und kam nach einigen Minuten mit zwei Kartons zurück. Auf einem stand ›Generikum B-87a‹ und auf einem anderen ›Multispezies-Erste-Hilfe (Desinfektion, Frakturen, Brandwunden)‹.

    »Mehr kann ich dir leider nicht bieten. Laut meiner Liste sollte das Generikum B87a für einen X’ur geeignet sein. Gut schmecken wird es wohl nicht, aber du kannst dir denken, dass ich keine Notfallproteine für Hunderte von Lebensformen im Keller lagere. Das Erste-Hilfe-Set wird nicht viel bringen, du kannst damit aber zumindest die Wunden säubern und verbinden. Alles andere muss ein Multispezies-Spezialist erledigen, auch deine Mutter könnte dir da nicht helfen. Hör zu, Vicky: Wenn es diesem X’ur schlecht geht, wenn er sagt, dass er weitere Hilfe braucht, dann musst du mich sofort anrufen. Frag am Telefon, ob die Knöpfe schon da sind.«

    »Die Knöpfe?«, wiederholte sie dümmlich.

    »Sprich nicht am Telefon über ihn, nenne seinen Namen nicht, und auch keine Speziesnummer oder den Namen seiner Spezies.«

    »Ist schon klar.«

    Sie war ja nicht auf den Kopf gefallen! Meyer jedoch packte sie für einen Mann seines Alters mit erstaunlicher Kraft an den Schultern und sah ihr über die Brille hinweg in die Augen. »Vicky, da draußen herrscht Krieg, das ist dir doch klar, ja? Nicht alles, was ihr in der Schule lernt, entspricht so ganz der Wahrheit. Dieser Pilot, er könnte ein einfacher Handelsreisender sein. Aber er könnte genauso gut für eine Fraktion, für irgendeine politische Gruppe arbeiten, die in diesem Augenblick gegen die Vongul kämpft, und er könnte abgeschossen worden sein. Verstehst du?«

    Sie nickte und das Herz rutschte ihr in die Hose. Plötzlich wurde ihr klar, wie ernst die Sache war.

    »Wenn die Xu’Un’Gil diesen X’ur bei deinen Eltern finden, dann wirst nicht nur du festgenommen, Vicky, sondern auch deine Mutter, dein Vater, dein Bruder und das halbe Dorf mit dazu.«

    Sie wollte sich entschuldigen, rechtfertigen, hatte das Gefühl, er mache ihr Vorwürfe. »Ich wollte ihm doch nur helfen ...«

    »Und das ist richtig so!«, bekräftigte Herr Meyer. »Du hast nichts Falsches getan! Deine Mutter wäre mit mir einer Meinung, darauf kannst du dich verlassen, und eben deshalb darfst du ihr nichts davon erzählen. Bring diese Proteine zu dem abgestürzten Piloten. Morgen kommst du zurück, in den Laden, wann immer es passt, und wir reden darüber, wie es ihm geht. Okay? Versprichst du mir das?«

    Ein Klos bildete sich in ihrer Kehle und sie brachte zur Antwort nur ein heiseres Krächzen heraus.

    »Warte, ich packe die Sachen ein, damit keiner die Packungen sieht, und lege noch ein paar Kleinigkeiten obendrauf.«

    Mit zitternden Knien verließ sie den Gemischtwarenladen. Sie war an diesem Ort aufgewachsen, hatte immer geglaubt, alles und jeden in Terville zu kennen. Nach den Ereignissen des Tages war sie sich da nicht mehr so sicher. Und nicht nur den Ort und Herrn Meyer kannte sie schlechter, als sie angenommen hatte. Wo hatte ihre Mutter eigentlich als Krankenschwester gearbeitet? War das nicht zur Zeit der zweiten Aufstände gewesen, als sich die Menschheit noch gegen ihre Besatzer gewehrt hatte?

    Kapitel 3

    Unterwegs stürzte sie und schrammte sich die Hände auf, weil diese verdammte Plastiktüte, die ihr Herr Meyer mitgegeben hatte, andauernd gegen die Beine baumelte. Es war bereits dunkel, als sie auf die Hofeinfahrt bog. Der Jeep ihres Vaters stand an seinem angestammten Platz und deutete darauf hin, dass er zurück war und aufs Abendessen wartete. Später als normal, stellte Vicky fest, der Weg von den Nordfeldern dauerte nicht länger als eine halbe Stunde.

    Sie sprang vom Rad und schob es bewusst in den Schatten zwischen Scheune und Haupthaus, damit sie nicht sehen konnten, dass sie schon zurück war. Sonst hätten sie womöglich nach ihr gesucht, und das wollte sie vermeiden. Nicht, dass sie jemand in der Scheune vermutet hätten. Sie produzierten schon lange kein Heu mehr, sodass sie bloß als Lagerschuppen diente. Da die Ernteroboter im Freien oder in modernen Lagerhallen bei den Südfeldern gewartet wurden, blieb das Gebäude praktisch unbenutzt. Mutter hatte einmal vorgehabt, es in einen Anbau mit Wintergarten umzuwandeln, doch die Pläne waren die Jahre über im Sand stecken geblieben und es hatte ihnen an Geld gemangelt.

    Vicky schlich sich durch die Hintertür, vorbei an rostigen Erntemaschinen der vorletzten Generation im Halbdunkel zu der Vorratskammer, in der sie M’xor untergebracht hatte. Wenn sie die Tür schloss, konnte sie das Licht einschalten, ohne dass jemand im Haupthaus davon etwas mitbekam. Er lag auf der alten Matratze genau so, wie sie ihn verlassen hatte, und ihr Herz schlug höher. War er gestorben? Wie sollte sie das den Behörden erklären? ›Herr Richter! Ich habe einen bruchgelandeten Außerirdischen im Schuppen

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