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Das Labyrinth
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eBook447 Seiten6 Stunden

Das Labyrinth

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Über dieses E-Book

Sieben Jahre nach ihrer Trennung treffen im Herbst 1993 Sine und ihr tot geglaubter Geliebter, der junge Rechtsanwalt Jon Bæksgaard, unvermittelt in Wien wieder aufeinander. Jon ist von New York nach Österreich gekommen, um in Zusammenarbeit mit Simon Wiesenthal den NS-Kriegsverbrecher Jürgen Menken ausfindig zu machen, der unerkannt mit seiner Frau in der Stadt lebt. In Österreich scheint unterdessen der Aufstieg des Rechtspopulismus unaufhaltsam, und eine rätselhafte Serie von Briefbombenattentaten hält die Öffentlichkeit in Atem. Der dänische Star-Autor Stig Dalager verwebt in seinen packenden Polizeithriller "Das Labyrinth" neben Zeitgeschichtlichem auch längst vergessen Geglaubtes, das in Traumsequenzen an die Oberfläche tritt. Spannend und hochpolitisch kreist er um essenzielle Fragestellungen von Vergangenheit und Gegenwart, erzählt aber vor allem von den Irrwegen und Wagnissen eines Mannes auf der Suche nach seiner Bestimmung. Der schwedische Kritiker Lars Olof Franzén bezeichnete die Hauptfigur Jon als "den Odysseus unserer Zeit", und tatsächlich bindet Dalager Reminiszenzen an den griechischen Mythos von Theseus und dem Minotaurus in Knossos in sein Labyrinth ein. Der Frage, wie viel Mensch und wie viel Bestie in ihm steckt, muss sich schließlich auch Jon stellen ... PRESSESTIMMEN"Ein brillanter politischer Thriller, der beste Roman, den Dalager je geschrieben hat." - Ålborg StiftstidendeAUTORENPORTRÄTStig Dalager wurde 1952 in Frederiksberg, Dänemark geboren. Die Eltern waren Lebensmittelhändler. Er studierte Vergleichende Litteraturwissenschaft an der Universität in Aarhus, wo er seinen MD und einen PhD machte. Er hat in Leipzig, New York und Wien gewohnt, aber heute lebt er in Brønshøj in der Nähe von Kopenhagen. Im Lauf seine lange Karriere, hat er mehr als 50 Werke geschrieben, und er gehört zu den bekanntesten Schriftstellern und Bühneautoren in Dänemark.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum21. Apr. 2015
ISBN9788711454961
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    Buchvorschau

    Das Labyrinth - Stig Dalager

    war.

    1993–1994

    The pain will not go away. Sine wohnt in Wien im dritten Stock eines Gartenhauses in der Billrothstraße in einer Vierzimmerwohnung mit Balkon. Sie wohnt hier mit ihrem Sohn Tobias und mit Günther, ihrem Freund aus Berlin, den sie im uno-Komplex am linken Donauufer getroffen hat, wo sie an Dritte-Welt-Projekten arbeitet. Es ist Nacht, und die Wohnung ist frisch geweißt, leuchtet stark im Dunkeln, es ist, als gingen Gespenster im breiten Korridor umher, der einmal für Besuch aus dem akademischen Bürgertum der Stadt und wahrscheinlich auch von Offizieren mit ihren Frauen und Kindern gedacht war, und vor ihnen von Geldleuten in ihren gut sitzenden schwarzen Anzügen; früher lebte in der Wohnung ein Kunstmaler, der Professor war, und vor ihm ein Oberst mit Familie, und noch vor ihnen ein Bankier. Der Parkettfußboden des Korridors, der freie Platz hinter der Anrichte und der breite Garderobenschrank samt dem Kristallkronleuchter erinnern immer an früher, als man hier ein anderes Leben führte, so wie an die Gespenster, deren flüsternde Stimmen sie zu hören glaubt, während sie neben Günther schläft, dem traumlosen Günther, der mit seinem schönen, symmetrischen Gesicht und in seiner schlafenden Leblosigkeit ein Fremder sein könnte, ein Jedermann, der durch seine bloße Anwesenheit vor der Einsamkeit schützt. Hat Jon sie angesteckt? Lebt sie am besten, wenn sie träumt?

    In diesem Altweibersommer im September in Wien hat sie ihn im vollen Tageslicht ganz vergessen, selbst ganz früh am Morgen, ehe sie mit der Straßenbahn zum Schottentor fährt, Tobias in die Sonderklasse des funktionalistischen Gebäudes in der Gymnasiumstraße begleitet und er sich, die Hand des Begleitlehrers auf der Schulter, zu ihr umdreht, mit diesem Gesicht, das ihm gehören könnte, dreht sich die Zeit für sie nicht zurück; es gibt keine Stelle mehr im Körper, die schmerzt, sie sieht das Gesicht wie ein Gesicht, das gerade in diesem Augenblick hier lebt, das leicht verstörte Gesicht ihres Sohnes, mit der augenblicklichen Angst, mit den gehemmten oder schreienden Kindern in dem funktionalistischen Gebäude allein zurückgelassen zu werden.

    In dieser Nacht, in der nur ein Laken ihren fast nackten Körper bedeckt, träumt sie, nicht diese bizarre, albdruckartige oder diffus aufgelöste Art von Traum, er ist wirklicher als das, was sie umgibt. Es ist ein Novembertag vor über sieben Jahren, mit den einsetzenden Presswehen fährt sie allein in einem Taxi zu den Betonbauten des Rigshospitalet; an diesem Novembertag, an dem die grauen Farben des Himmels die Sicht nach oben begrenzen und Kopenhagen fast im Winterschlaf liegt, wirkt Tegners gewaltige und grünspanüberzogene, schräg vor dem Krankenhaus aufragende Statuengruppe eines muskulösen Mannes und zweier Frauen, die ins Licht hochschauen, wie eine schwere Fata Morgana. Als sie vorm Haupteingang des Rigshospitalet mit den automatisch auf- und zugleitenden Türen aus dem Taxi steigt, ist ihr einen Augenblick lang schwindlig, und sie ist schwach auf den Beinen, der Chauffeur, ein ursprünglich aus Pakistan stammender Mann, hat es eilig, aus dem Auto zu kommen, um sie zu stützen und begleitet sie durch die Türen in die summende, überhelle Vorhalle, wo Patienten in Rollstühlen und Besucher in Winterkleidung sich wie in einem Film bewegen.

    – Schaffst du es allein?, fragt der Fahrer und legt ihr schützend die Hand auf die Schulter.

    Sie sieht in die glänzenden dunklen Augen im grau werdenden Gesicht und nickt. Ein Passant blickt ihnen misstrauisch nach.

    Er gibt ihr die Tasche, und sie bewegt sich beschwerlich tiefer in die Halle hinein und will um eine Ecke biegen, verspürt aber wieder die Schmerzen und das Ziehen im Bauch und lehnt sich an die Wand. Einen Augenblick lang dreht sich alles um sie, dann ist er wieder da, der Taxifahrer, er nimmt ihre Tasche und stützt sie und hilft ihr schweigend um die Ecke und zu den Fahrstühlen in der marmorierten Wand. Sie spürt das Wasser und stellt sich vor, es wäre ein See unter ihr, aber da ist nichts. Sein Knoblauchatem verstärkt ihre Übelkeit, und doch hält sie sich an seinem Arm fest. Als eine Fahrstuhltür aufgeht, bittet sie um ihre Tasche, dankt ihm und betritt den neonerleuchteten, engen Raum. Als sie sich zur Tür umdreht, steht er immer noch draußen und gibt auf sie acht. Sie ist allein im Fahrstuhl.

    – Zweiter Stock!, sagt er.

    Sie drückt den Knopf zum zweiten Stock und wirft ihm ein nervöses Lächeln zu. Die Tür gleitet langsam zu, er verschwindet, sie fährt nach oben. Sie schwebt nach oben, es dauert eine Ewigkeit, ein neuer Schmerz durchzuckt sie, sie hält ihren Bauch fest, als der Fahrstuhl hält und die Tür aufgleitet, weiß sie einen Augenblick lang nicht, wo sie ist, um sie herum ist alles weiß und grau, sie tritt auf den Gang, entdeckt, dass sie die Tasche vergessen hat, macht kehrt, bückt sich und fällt fast über die Tasche. Irgendjemand packt sie von hinten am Arm, ein Mann in weißem Kittel, und zieht sie wieder auf die schwankenden Beine. Alles ist weiß.

    Zwei andere Weißgekleidete kommen dazu, sie sprechen zu ihr, sie hört, was sie sagen, versteht es jedoch kaum, sie geleiten sie in einen größeren, nackten Raum mit einer Liege. Sie heben sie halbwegs auf die Liege, einer von ihnen zieht halb die Gardine vor die vielen Fenster, die sich grau in der Ferne verlieren. Man misst ihren Puls, betastet ihren dicken Bauch, sie starrt die weiße Decke an, will nur schlafen, doch jetzt kommt der Schmerz wieder. Plötzlich ist sie wieder ein Kind und liegt still in ihrem kleinen weißen Zimmer, und ihr ganzer Körper ist heiß, und sie redet im Fieber, und ihre Mutter legt ihr die Hand auf die Stirn und sagt:

    – Das macht nichts, du wirst schon wieder gesund.

    Eine Krankenschwester hat das Gesicht ihrer Mutter und ist ihr dennoch fremd, sie versucht, sich dagegen zu wehren, und sagt:

    – Wo bist du, Mama?

    – Willst du etwas gegen die Schmerzen?, fragt das Gesicht.

    Sie nickt, und man hält ihr eine Plastikmaske vors Gesicht.

    Es dauert lange, sehr lange. Sie hat das Gefühl, aufzuwachen und sich umzusehen, und die weißen Gestalten sind verschwunden, die Tür steht zum Gang hin offen, sie ist allein. Wieder.

    Sie hat die Maske nicht mehr auf, oder doch?

    – Das hilft lange nicht gegen alle Schmerzen, sagt das Gesicht, oder sagt sie es selbst?

    Ihre Mutter steht am Fußende der Liege und lächelt ihr zu.

    – Warum kommst du erst jetzt?, fragt sie.

    Ihre Mutter lächelt wieder, sie ist von der australischen Sonne gebräunt. Jetzt reitet sie vor ihr auf dem schwarzen Hengst, sie reiten über die Felder, wilder und wilder, der Pferdegeruch steigt in ihr hoch, sie klammert sich an den Sattelknopf.

    – Ich falle, ich falle, ruft sie und schließt die Augen. Ihre Mutter lacht. Sie öffnet die Augen, der Raum ist leer, der Schmerz kehrt zurück, sie beißt die Zähne zusammen, es knackt in den Kiefergelenken, warum kommt niemand? Irgendjemand macht auf dem Gang halt und schaut herein und verschwindet wieder.

    Sie schnappt nach Luft und ist auf einem Schiff, schwankt von einer Seite zur anderen, langsam, in Zeitlupe, ein Mann in Weiß kommt zur Tür herein, an seinem feinen, scharfen Nasenbein erkennt sie die Mumie von Tanis wieder, die sie monatelang Stück für Stück abgebürstet hat, jetzt kommt sie zu ihr und spricht (sie hatte dasselbe sorglose Lächeln):

    – Die Hebamme hat sich verspätet, Entschuldigung, sie wird gleich hier sein!

    Sie will etwas sagen, aber die Worte bleiben ihr im Hals stecken.

    Der Arzt, der weiße Mann, die Mumie, zieht ihr die Beine auseinander. Er berührt sie im Schritt.

    – Das Wasser geht schon ab, sagt er, du kommst ziemlich spät, aber wir schaffen das schon.

    Er steckt ihre Beine oben in zwei Bügel.

    Der Herzskarabäus von Tanis leuchtet auf seiner Stirn.

    »Rette mich vor dem geheimnisvollen Gott.«

    Die Schmerzen kommen wieder. Sie schließt die Augen und flüchtet in den schwarzen Raum.

    – Pressen, pressen!, sagt eine Frauenstimme plötzlich ganz nahe.

    Sie will nicht aus dem schwarzen Raum heraus.

    – Pressen!, wiederholt die Stimme noch lauter.

    Und sie presst und presst, und graue Bilder von ihr selbst in einer Tivolischaukel, die nie anhält, und in einem stinkenden, staubigen Kellerraum, der sich nie öffnen wird und mit leeren Pappkartons ohne Boden angefüllt ist, wechseln sich mit Bildern von dunklen Gesichtern in ihr unbekannten Straßen ab, und in dem Moment, in dem sie aus voller Kraft keucht, sodass es in den Gehörgängen pfeift, hört sie irgendwo in ihrem Hinterkopf das Echo einer Mundharmonika aus dem Kinderzimmer; Gedanken, so fern wie die flatternden Slogans auf den breiten Transparenten hinter den Zeppelinen, die den Himmel durchkreuzen, kommen zu ihr, blitzartig; Gräuelgesichter überwältigen sie plötzlich, und weg sind sie.

    Ihr Körper vibriert bei diesen Geräuschen, dem Licht, den Gerüchen, den Gesichtern und dem lautlosen Chaos der Sinne. Im ersten Augenblick öffnet sich unter ihm ein Abgrund von ungeahnter Dunkelheit, wie ein Abbild der Sekunde seiner eigenen Geburt, im nächsten Augenblick schwindelt dem Körper zwischen punktuell auftretenden Zugschmerzen unter einem Scheinwerfer aus stechenden Sonnen am Rande der Erlösung oder des Orgasmus, der Körper spannt sich zu einem Bogen, der Körper ermattet, fällt nach unten, die Welle der Stofflichkeit durchfährt ihn schäumend, und er ist ein Fahrzeug im Sturm und ein Zentrum der Welt zugleich. Er ist ein Reisender, der seine längste Reise in kürzester Zeit zurücklegt, ein blinder und auch ein sehender Reisender, der sich den Elementen zur Verfügung stellt, denselben Elementen, die ihn eines Tages auflösen werden, ihn jetzt aber einem Höhepunkt zutreiben, einem Erblühen des Fleisches.

    Alles ist in Alarmbereitschaft, Säfte und Plasma, Schweiß und Wasser durchströmen den Körper, das Skelett reißt an seinen Scharnieren, und die Muskeln der Beckenpartie ziehen sich zu einem harten Knoten aus Schmerzen zusammen, die wie unerträgliche Musik in einem Albtraum wiederkehren, doch neben dem Albtraum lebt ein beginnendes Ziehen von Erwartung, eine Hochstimmung des Körpers, bis in die Schläfen hinein; Tränen und Lächeln huschen über die Physiognomie wie über das Gesicht eines Toren, das Lebendige des Körpers, das hinaus muss, fühlt sich wie ein Stein an und ähnelt einem mit Moorsaft übergossenen Stück Holz, einem Baum, der Hunderte von Jahren in der Mooresfinsternis verschwunden war und plötzlich vom Licht angestrahlt und lebendig wird. Im Gesicht des kaum geborenen Kindes sieht man die Zeichnung des Greises; in den wenigen Sekunden, die es noch mit dem Mutterkuchen verbunden ist, sieht man es von einem wundersamen Zögern und Stille umgeben, und man zweifelt, ob es überhaupt unter den Lebenden weilt; aus seinem ersten impulsiven Schrei hört man den Schock über die Ankunft heraus, in die Welt hineingeworfen zu sein. Vielleicht erholen wir uns nie von diesem Schock aus Licht und Geräuschen, vielleicht erklärt das unser doppeltes Verhältnis zum Licht: Wir sehnen uns nach ihm und flüchten davor. Erst in der Dunkelheit kommen wir zur Ruhe.

    Sie ruft aus der Dunkelheit, plötzlich ist der Schmerz weg, sie hört jemanden schreien, es dämmert ihr, dass es ein Kind ist, ein beschmiertes, braunes Wesen, ihr Kind, das lebt. Sie lacht und weint gleichzeitig, die Hebamme, die weiße Frau, legt ihr das kleine fleischliche Bündel auf ihren verschwitzten Körper.

    Sie erwacht halb im weißen Schlafzimmer in Wien und streckt die Hand nach Günther aus.

    – Was ist?, sagt er im Schlaf.

    – Ich habe gerade geboren, sagt sie und tastet in der Dunkelheit nach seiner Schulter, aber er seufzt, dreht ihr den Rücken zu und schläft weiter.

    – Ich habe gerade geboren, wiederholt sie flüsternd, ohne ganz zu verstehen, wo sie sich befindet, und warum die Person neben ihr nur aus Nacken, Haar und Schulterblättern besteht.

    Sie steht auf, ihre verschwitzten Füße kleben am Parkettfußboden, sie tastet nach einer Zigarette in ihrer Tasche neben dem Bett, steckt sie an und geht zum Fenster, wo der im Dunkeln liegende Hof und die blinden Fenster im Gebäude gegenüber und die brennende Lampe in der Toreinfahrt zur Straße sie nicht beruhigen. Die Stille ist überwältigend, kein Geräusch ist von der Stadt zu hören, Straßenbahnen, Busse, selbst Autos sind schlafen gegangen, sie stellt sich vor, die trockene Wärme und der Föhn mit seinem Sand aus der Sahara, der die Leute manchmal wahnsinnig macht, hätten die Leute jetzt aus der Stadt vertrieben, sie ist auf einer einsamen Insel und muss hinein und nach Tobias schauen, plötzlich hat sie Angst, er würde nicht mehr atmen, er hätte, wie noch vor einigen Jahren, unruhig geschlafen und sich freigestrampelt und wäre aus dem Bett gefallen. Sie geht durch den angrenzenden Raum zu seiner Tür, die angelehnt ist, aber als sie die Tür öffnet, schläft er friedlich in seinem blauen Bett, den Kopf zurückgelegt und mit etwas Speichel in den Mundwinkeln. Sie tritt ganz nahe an ihn heran, wischt ihm den Speichel ab und streichelt seine Stirn und Wangen. Die ganze Anspannung vom Tage ist aus dem Gesicht unter dem dichten hellen Haar gewichen, diesem offenen Gesicht, gelöst und auf eine Weise verwundbar, die sie nicht für möglich gehalten hätte, wenn sie nicht seine Mutter wäre und es selbst gesehen hätte.

    Es lächelt in der Dunkelheit.

    Sie streicht ihm über das Haar und bemerkt dabei die Schachteln, die er systematisch an der Wand neben dem Bett aufgestapelt hat, zwei Türme bilden sie, einer ist schwarz, der andere weiß, zwei Türme eines imaginären Schlosses in einem imaginären Land; an manchen Tagen kann er sie unablässig einreißen und aufbauen, bis sie ihn unterbricht, und er protestiert in seiner halbfertigen Sprache mit deutschen und dänischen Wörtern und reißt sich von ihr los, um in seiner ungehemmten, sinnlosen Aktivität fortzufahren, die ihn von der Welt isoliert.

    Und doch lächelt er in der Dunkelheit. Wo befindet er sich? Woran denkt er? Irgendwo ist er vielleicht glücklich, an einem Ort, von dem sie ausgeschlossen ist, genauso wie es für ihn ausgeschlossen ist, sie anders als in Bruchstücken zu verstehen. Sie hat immerzu dieses Gefühl, zwei Zentimeter davor zu sein, ihn zu erreichen, doch diese beiden Zentimeter sind entscheidend, sie machen den Unterschied aus zwischen Sommer und Winter.

    Mit niemandem ist sie mehr verbunden, niemanden liebt sie mehr, mit niemandem ist das Leben so anstrengend und erschöpfend wie mit Tobias. Wie viele Nächte hat sie sich nicht in den Schlaf geweint, wenn er sie in den Jahren, in denen sie allein mit ihm wohnte, zum neunten oder zehnten Mal nachts aufweckte und weder in ihrem Bett noch in seinem eigenen zur Ruhe kam und sich vor irgendetwas fürchtete, was sie nicht verstand, oder energisch durch die Wohnung ging, um ein Spielzeugauto zu suchen, das nicht an seinem Platz war, oder einen Bären, der nicht in seinem Bett lag und manchmal nur in seiner Fantasie existierte. Wie viele Au-pair-Mädchen und österreichische Kindermädchen hat er in den Jahren in Wien mit seinen unvorhersehbaren Ausbrüchen an den Rand der Erschöpfung gebracht, seinen zwanghaften Ritualen, was Kleidung oder Essen betraf, seiner plötzlichen Kommunikationslosigkeit, seinem In-sich-selbst-Zurückziehen, und wie oft steckte sie gerade in einer Arbeit oder war in ihrem Büro in der achten Etage des uno-Gebäudes am linken Donauufer in einer Besprechung und hatte das Gefühl, er wäre in »schlechten« Händen, und im selben Augenblick würde sich in der Wohnung in der Billrothstraße ein kleineres Drama mit ihm abspielen.

    Sie hatte ihn in einem Rausch in Kopenhagen geboren – gerade aus Paris zurückgekehrt –, und es war ein langsames Erwachen in eine schmerzliche und vage Realität, die mehrere Ärzte und Psychologen sieben Jahre lang mit unterschiedlichen Diagnosen und Namen belegt hatten, er war ein »HDS-Kind«, er war »autistisch«, er war »neurologisch geschädigt« oder »hirngeschädigt«, möglicherweise bei der Geburt, dieser Geburt, die für sie ein Höhepunkt gewesen war, niemand – nicht einmal sie selbst – hatte in der ersten langen Zeit etwas geahnt. Als Mutter war sie ein Neuling. Wie hätte sie all die kleinen Anzeichen einer Störung lesen können, die sie erst später in einen größeren Zusammenhang bringen konnte, obwohl sie immer noch nicht ganz versteht, was mit Tobias nicht stimmt, ihrem Jungen, der im Schlaf den anderen Jungen gleicht und den normalen herabgesetzten Atem und die Gesichtszüge der anderen hat.

    Ein Neurologe in Wien hatte ihr vor einem Jahr nach einer längeren Untersuchung gesagt:

    – Ihr Sohn hat einen bleibenden »Schaden«, auf den Sie sich einstellen müssen. Er wird Sie viele Jahre lang sehr stark brauchen, physisch und mental. Sie sind seine Tür zur Welt, ohne Ihre Anwesenheit riskieren Sie, dass er sich in sich selbst verliert.

    Sie erinnert sich genau an diesen Tag im Mariahilfer Krankenhaus, wo sie den sprechenden Mund des Neurologen anstarrte und im nächsten Augenblick seine gepflegten Hände bemerkte, die sich auf einem Mahagonischreibtisch falteten, er machte den Eindruck eines Richters in einem Prozess, der vor einigen Jahren begonnen hatte, als sie die Stelle antrat und die große Wohnung in Wien bezog, die sie von einer Woche auf die andere mangels weiterer freier Wohnungen bekommen hatte, und in der sie mit ihrem guten Einkommen hängen geblieben war, auch weil sie ein Zimmer an einen uno-Angestellten und später an Günther vermietet hatte.

    Als sie an diesem Tag im Büro des neurologischen Oberarztes in dem weißen Kittel blass wurde, blass und ihr die Worte fehlten, lehnte er sich mit einem Gesicht, das milde Einfühlung demonstrierte, etwas zu ihr vor und sagte:

    – Es gibt auch Einrichtungen, gute private Einrichtungen, das ist natürlich nicht billig, aber ...

    – Er wird bei mir wohnen, sagte sie bestimmt.

    – Die meisten schaffen es nicht, sagte der Oberarzt, früher oder später muss man aufgeben.

    – Ich gebe nicht auf, sagte sie, eher gebe ich meine Arbeit hier auf und fahre nach Hause.

    – Verzeihen Sie, sagte der Oberarzt mit einem kleinen selbstsicheren Lächeln, aber das Problem wird Sie immer begleiten, und wovon wollen Sie dann leben?

    – Mir fällt schon etwas ein, sagte sie und wollte nicht zeigen, wie nervös sie wurde.

    Als sie das Krankenhaus verließ, wurde ihr schlecht, und sie musste sich im grauweißen Gang auf einen Stuhl setzen, obwohl Günther damals schon zwei Jahre mit ihr zusammengelebt hatte, dachte sie keinen Augenblick lang an ihn. Ihre Augen verfolgten die Vorbeigehenden im Gang, Krankenschwestern und Kranke, ein gleichmäßiger Strom von Menschen mit fremden Gesichtern und Gebärden, Menschen, die in einer Sprache redeten, die nicht die ihre war. Sie hatte geglaubt, sie hätte sich an das Leben in der Stadt gewöhnt, immer wieder hatte sie ihren Kollegen in der uno-City erzählt, dass ihr die Stadt gefalle, die Parks, das Belvedere, Schönbrunn, der Stephansdom, die Karlskirche, die Donau, die Musik, selbst die Mentalität, aber hier war sie allein, unter gealterten Körpern und effektiven Krankenschwestern mit ihren katholischen Uniformen wusste sie plötzlich nicht, was sie mit Tobias und mit ihrem Leben anfangen sollte.

    Sie verspürte eine überraschende Wut auf Jon und auf Tobias, hatte Jon sie nicht verlassen und sie mit einem hirngeschädigten Kind allein gelassen? Hinter ihrer gescheiterten Liebe saß eine gescheiterte Wut, die sich eingekapselt hatte und zu einer harten Saite in ihrem Innern geworden war. Sie ballte eine Hand zur Faust, mit der anderen hielt sie den Sitz fest. In ihrer Familie hatte es noch nie hirngeschädigte Kinder gegeben, Tobias hatte es also von ihm, ähnelten sie einander etwa nicht wie ein Wassertropfen dem anderen? In diesem Augenblick verdichtete sich der ganze Verdruss über Tobias zu einer Last, die sie für immer tragen musste, sie sah sich selbst als diejenige, die immer nur geben sollte und nichts zurückbekam, wie eine Stimme ohne Resonanz, und sie stand schon auf, um zum Oberarzt zurückzugehen und sich dafür zu entschuldigen, dass sie seinen Vorschlag, Tobias unterzubringen, verbissen abgelehnt hatte, als etwas sie zurückhielt.

    Am Ende des Ganges spielte ein Junge mit einem Papierflieger, sein Gesicht lag halb im Schatten, der Flieger fiel herunter, er hob ihn auf und drehte sich in ihre Richtung um und sah zu ihr hin, ihre Augen begegneten einander, einige Sekunden lang lächelte er. Sein Lächeln hatte keinen Sinn, es warf sie weit in sich selbst zurück, es erinnerte sie daran, wie Tobias nachts lächelte. Fast ihr ganzes Leben lag in diesem Augenblick auf einer haarfeinen Waage, die Stimmen um sie herum, der korridorartige, schmale Gang löste sich in eine Reihe von Augenblicken auf, in denen sie Tobias an sich gedrückt gehalten hatte, in denen sie eins gewesen waren, die besonderen Augenblicke in ihren Zimmern in der Wohngemeinschaft in Søbredden im Kopenhagener Vorort Gentofte, in der Wohnung in der Billrothstraße, unter den Linden des hügeligen Türkenschanzparks, am Teich mit seinen wechselnden grünen und blauen Farben, und sie stand auf und ging in die Sonne und das Rauschen der lauten Straße hinaus, wo sie ganz schmal und zerbrechlich wirkte. Sie war wieder auf einige unbekannte Ressourcen gestoßen. Die Ressourcen des Lächelns. Und hatte sie es nicht geschafft?


    Sie geht aus Tobias’ Zimmer und lässt die Tür einen Spalt weit offen stehen. Sie will wieder zu Günther in das Schlafzimmer, aber als sie das weiße Bett sieht und Günther, seine Schultern und Haare und seinen Nacken, holt sie sich lautlos eine dünne Bluse aus dem Schrank, nimmt das Zigarettenpäckchen und begibt sich in das Wohnzimmer und setzt sich auf das Ledersofa. Ihre Zigarette im Aschenbecher auf dem Sofatisch ist ausgebrannt, sie will sich eine neue anzünden, hat aber das Feuerzeug im Schlafzimmer vergessen, ihr fällt ein, dass Günther immer ein Feuerzeug in seinem Jackett hat, und sie bewegt sich still über den glatten Boden und verharrt einen Augenblick lang im breiten, dunklen Korridor mit dem Garderobenschrank und den Gespenstern. Der Fußboden ist kalt, und ihre Hand zittert etwas, als sie die Tür zu der Nachtschwärze des Garderobenschranks mit seiner stillstehenden Luft und dem Geruch von Lack und schon lange entfernten Mottenkugeln öffnet, sie steckt die Hand in Günthers Jacketttaschen und findet nichts, dann tastet sie sich zu den Westentaschen der Jacketts vor und fühlt in einer das Feuerzeug und zieht es heraus. Am Feuerzeug klebt ein Papier und flattert zu Boden, sie macht das Feuerzeug an und hebt es auf. Es ist ein dünnes Polaroidfoto einer schönen, dunkelhaarigen Frau, sie lehnt sich entspannt an einen Baum in einem Park. Die Schatten der Baumkrone, die in starkem Sonnenlicht steht, geben ihren dunklen Augen einen besonderen Glanz, sie meint, sie schon einmal gesehen zu haben, weiß aber nicht, wo.

    Es saust ihr in den Ohren, gedankenlos starrt sie im Licht des Feuerzeugs weiter auf die Frau und zündet in ihrem Zustand aus erregter Müdigkeit fast das Foto an, das Foto fällt ihr aus der Hand, und als sie es aufhebt, sieht sie hinten auf dem Foto einen schnell hingekritzelten Satz. Sie erkennt Günthers Schrift: »Maria 12 Uhr Karlsplatz«. Am liebsten möchte sie sofort ins Schlafzimmer gehen und Günther wecken, bleibt aber eine Weile mit dem Foto in einer Hand und dem Feuerzeug in der anderen stehen.

    – Günther, flüstert sie halb gelähmt und sieht durch das Dunkel zu der hohen grauen Tür zum Schlafzimmer hin, der Abstand zur Tür scheint plötzlich sehr groß zu sein, und die Beine können sie nicht tragen und tragen sie doch an der Tür vorbei und durch das Esszimmer zum Sofa im anderen Zimmer, wo sie sich schwer setzt.

    Sie kann das Zimmer nicht überblicken, aber dort, wo die Möbel als fest konturierte Schatten hervortreten, und die Matisse-Reproduktionen und die blauen handgedrehten chinesischen Vasen, die Günther für sie auf seiner China-Reise gekauft hat, in der dunklen Eintönigkeit der Nacht ihre Farbe verloren haben, weiß sie, dass sie sich selbst etwas vorgemacht hat. Sie hat sich etwas vorgemacht, weil er lügt, aber seine Art zu lügen ist subtil, beinahe fern und zufällig, so als nickte einem jemand mit wissendem Blick hinter einer Autoscheibe zu, während das Auto in die andere Richtung fährt, erst danach fällt einem ein, wer da gewinkt hat und was dieser kurze Augenblick der Vertrautheit bedeutete, ja, man beginnt zu zweifeln, ob es überhaupt Vertrautheit war, und schließlich, ob das Ereignis überhaupt stattgefunden hat. Vielleicht irrt man sich, und Günther ist gerade perfekt darin, Zweifel am vollen Gebrauch der Sinne zu säen. »Du bist müde«, wird er sagen, wenn sie glaubt, mit ihm verabredet zu sein, »du hast dich in der Zeit geirrt« oder »wir sind an einem anderen Tag verabredet, das hast du einfach vergessen« oder »du weißt doch, dass ich Tobias am Freitagnachmittag nicht holen kann«, wenn sie gerade am Vortag abgemacht hatten, dass er dieses eine Mal Tobias aus der Schule in der Gymnasiumstraße abholt.

    Sie hat sich selbst etwas vorgemacht, wenn sie dachte, mit ihm rechnen zu können. Hatte sie nicht so sehr einen Mann und Gesellschaft in der Wohnung gebraucht, dass sie alle seine Ausweichmanöver als Missverständnisse hinnahm, die auf ihr Konto gingen? Ist es ihm nicht gelungen, sie als müde, unaufmerksam und immer etwas hinterherhinkend darzustellen und sich selbst immer als vorneweg, gegenwärtig und effektiv? Oh, selbstverständlich gibt es Tage, an denen sie von Tobias und der Arbeit müde ist, aber unaufmerksam? Nein, nicht unaufmerksam. Und es geht noch weiter, sie hat das Gefühl, Tobias interessiere ihn nicht, obwohl er etwas anderes sagt.

    Unter Hunderten von Zimmern und Wohnungen der Zimmervermittlung in der uno-City hatte Günther vor einigen Jahren gerade ihres ausgesucht, als er aus Berlin seine neue Arbeit bei der uno antrat und nur ein Hotelzimmer hatte. Er verdiente mehr als sie und hätte sich etwas Teureres und Größeres nehmen können, aber er habe es nicht eilig, sagte er, er wolle sich umschauen, und vielleicht wäre die Arbeit überhaupt nichts für ihn, ein Headhunter hatte ihn eigens für Planungsarbeiten, eine Führungsfunktion, bei der es darum ging, Mittel von New York nach Wien zu transferieren und Wirtschaftspläne aufzustellen, ausgesucht. Er war nicht nur diplomierter, sondern auch »Prämierter-Wirtschaftswissenschaftler« aus Berlin, wie er scherzhaft gesagt hatte, als sie das erste Mal zusammen in der angenehmen luftgekühlten Kantine der uno-City gegessen hatten und übereinkamen, dass er einziehen würde (anfangs für einige Monate). Am Abend zuvor hatte er sich das Zimmer angesehen, und als Tobias nervös wurde und sich unwohl fühlte, weil er einen fremden Mann in der Wohnung sah, und plötzlich begonnen hatte, sie von ihm wegzuziehen, war Günther ganz ruhig geblieben und hatte sich Zeit genommen, in sein Zimmer mitzugehen, und hatte dort geduldig versucht, mit ihm zu sprechen, Tobias hatte sich erstaunlich schnell beruhigt.

    Im Zustand der Isolation, in dem sie mit Tobias lebte, hatte diese Geste und auch sein Blick, der damals lebendig war, sie sofort angezogen; er strahlte, fand sie, sofort Vertrauen aus, obwohl sie nichts von ihm wusste, aber als er ihr schon am nächsten Tag in der Kantine im ganzen Menschengewühl eine kleine Rose mitbrachte und ihr halb im Spaß, halb im Ernst, Details seiner Ehe und anscheinend schmerzlichen Scheidung anvertraute, die er vor einigen Jahren in Berlin durchgemacht hatte, sah sie ihn von diesem Tag an mit anderen Augen als mit denen einer Vermieterin und Kollegin. Anders als der frühere Mieter, der ganz für sich lebte und zu festen Zeiten kam und ging und dabei ein paar Bemerkungen machte und mit dem Kopf nickte, wollte Günther abends gern mitessen, ja, nach einigen Wochen begann er, sie und Tobias und das Au-pair-Mädchen mit verschiedenen exotischen Gerichten zu überraschen, die er in der großen Küche hinter geschlossenen Türen zubereitet hatte (er hatte zwei Jahre an der deutschen Botschaft in Singapur gearbeitet), und nach dem Abendessen hatte er noch so viel Energie, Tobias mit Fotos von Sportwagen und Oldtimern zu unterhalten, die zu seinen vielen »Hobbys« gehörten (er selbst fuhr damals einen völlig überholten MG), und anscheinend machten ihm Tobias’ stark schwankende Konzentration und sein großes Bedürfnis nach Wiederholungen nichts aus.

    Günthers Anwesenheit in der Wohnung und seine fast zu energische Mischung aus Aufmerksamkeit und Aufmerksamkeiten, die Sine in anderen Zusammenhängen amüsiert hätten (jeden Freitag lud er sie in ein Restaurant mit Zigeunermusik nahe dem Burgtheater zum Essen ein und schenkte ihr eine Rose), weckten sie aus dem Schlaf der erotischen Sinne, in dem sie sich als alleinerziehende Mutter mit einer anstrengenden Arbeit und einem außerordentlich schwierigen Kind befunden hatte; ihre Vorbehalte gegenüber Männern und ihr Verdacht, dass kein Mann den Alltag mit ihr und Tobias teilen könnte, und ihre Erwartung, dass Tobias keinen Mann so nahe um sich haben könnte, der nicht sein Vater war (obwohl er ihn nie kennengelernt hatte), all das spielte keine Rolle mehr, und obwohl sie sich weiter einredete, dass Günther in seinem Anzug mit seiner glänzenden Mappe und dem wirtschaftlichen Fachwissen und seinem etwas zu hungrigen Ausdruck kein Mann nach ihrem Geschmack war, gab sie sich ihm doch hin; sie, die in ihren Verhältnissen zu Männern früher sexuell nie passiv gewesen war, ließ sich eines Abends von ihm ausziehen, nachdem sie einen Film im Fernsehen gesehen und bei den Spätnachrichten ausgeschaltet hatten und Tobias schon lange in seinem Zimmer schlief.

    Ganz langsam und schweigend, fast sorgfältig, zog er ihr im warmen Zimmer an einem kalten Novemberabend, als der Regen gegen die Fenster der Balkontür schlug, Bluse und Rock und die schwarzen Strümpfe und Büstenhalter und Slip aus, und als sie nackt vor ihm stand, schien er zu zögern, ihren Körper zu bewundern, einige Sekunden lang hatte sie vor etwas Angst, das plötzlich einem voyeurartigen Blick glich, sie spiegelte sich in seinem Blick wie eine Sache, und der Blick veränderte sein Gesicht, seit diesen Sekunden, die von da an in ihrem Unbewussten gespeichert waren, lag hinter der Begierde in seinen Augen etwas Totes, aber sie schob es von sich, sie war selbst wie eine Dürstende auf einem Floß, von der Gier nach dem Körper eines Mannes gepackt, und als er schnell ihre Hand nahm und sie zum großen Bett im Schlafzimmer führte und sich die Kleidung herunterriss und sich über sie warf, war sie empfangsbereit und verlor sich in seinem Stöhnen und in seinen Küssen und der erregenden Wirkung seines Gliedes auf ihren Körper; so viele Jahre war es her, dass sie mit einem Mann zusammen gewesen war, dass ihr Körper bebte, und ihre Augen flatterten wie von elektrischen Stößen, sie versank auf einmal tief in sich selbst und hatte das Gefühl, in einem luftleeren, dunklen Raum zu schweben, und entdeckte erst zu spät, dass er nackt neben ihrem Bett stand und sie betrachtete, während er ihr ein Glas Wasser reichte.

    Flüchtig sah sie Jons Gesicht vor sich und konnte ihre augenblickliche Verwunderung nicht unterdrücken, dass sich im nächsten Augenblick das regelmäßige Gesicht und die schmalen Augen eines anderen Mannes in der Dunkelheit über ihr abzeichneten.

    – Geht es dir nicht gut?, fragte Günther und setzte sich auf die Bettkante.

    – Nein, sagte sie, aber sie wusste nicht, was sie fühlte.

    – Hast du mehr erwartet?

    – Das ist alles so neu für mich, du musst mir etwas Zeit lassen, sagte sie und trank aus dem Glas, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen.

    – Das nächste Mal wird es besser.

    Sie nickte und dachte: »Vielleicht gibt es kein nächstes Mal.«

    In dieser Nacht schlief er im Bett in seinem Zimmer, aber bereits in der nächsten Woche waren sie wieder zusammen, und er blieb in der Nacht bei ihr, ohne dass sie protestierte. In der ersten Zeit machte er Tobias Platz, als er plötzlich nachts auftauchte und in seiner halb sprachlosen und ungeduldigen Art darauf bestand, neben »seiner« Mutter zu liegen. Günther verschwand schweigend in sein Zimmer und erwähnte den Vorfall beim Frühstück oder in der Straßenbahn zum Schottentor mit keinem Wort. Auch stand er in der ersten Zeit einige Male mitten in der Nacht auf, wenn Tobias unruhig war, um sich »um ihn zu kümmern«, wie er sagte, und jedes Mal, wenn er das tat, öffnete sie sich ihm etwas mehr.


    Aber das ist jetzt lange her, sie hat sich längst daran gewöhnt, dass sie allein für Tobias verantwortlich ist, so wie sie sich mit wachsendem Unbehagen daran gewöhnt hat, dass Günther ihn nicht nur übersieht, sondern seine Anwesenheit ihn zunehmend irritiert. »Wenn er nicht wäre«, sagte er eines Tages, »dann könnten wir ganz anders leben, jetzt ist es ein Problem für uns, ein Wochenende nach Paris zu fahren oder Ähnliches.« Oder an einem anderen Tag: »Wenn du nicht so viel mit ihm beschäftigt wärst, würdest du dich vielleicht mehr für mich und meine Arbeit interessieren.« Oder: »Es gibt doch Einrichtungen für Kinder wie ihn, siehst du denn nicht, wie sehr er dich beansprucht?« Oder: »Er wird nie normal werden, warum gestehst du dir nicht ein, dass du ihn ein Leben lang pflegen kannst und er immer derselbe bleiben wird?« Oder: »Du musst dich zwischen mir und ihm entscheiden, er ist ja der Mann in deinem Leben.«

    Ihr Unbehagen gegenüber Günther richtet sich jetzt gegen sie selbst. Warum hat sie ihn nicht einfach gebeten zu gehen, warum klebt sie an ihm? Warum hört sie nicht auf, ihn damit zu entschuldigen, dass er nicht der Vater ihres Kindes ist, und woher kommt das schlechte Gewissen, das er ihr so vortrefflich einreden konnte? Ist ihre Lage wirklich so verzweifelt, und ist ihre Angst vor dem Alleinsein so groß, oder setzt sie alles daran, zu beweisen, dass sie sich in ihm nicht geirrt hat, weil sie um keinen Preis will, dass noch eine Beziehung mit einem Mann scheitert?

    Aber ist sie an Jon gescheitert, ist nicht er an ihr gescheitert? Sie hat ihn zu sehr geliebt und wollte seine Fehler nicht sehen. War es nicht so?

    Nein, sie will nicht an Jon denken. Sie denkt zu viel, sie ...

    Das Zimmer um sie hat sich verwandelt, die Stühle, die weißen Wände, die Kaktuspflanzen im Fenster, die Balkontür mit ihrem verchromten Türgriff, Tobias’ gerahmte Zeichnung an der Wand, die einem Gesicht ähnelt, selbst die Dunkelheit draußen ist näher gekommen. Je deutlicher sich die Dinge abzeichnen, desto klaustrophobischer empfindet sie ihren Zustand. Sie friert und steht vom Sofa auf. Bleibt einen Augenblick stehen, Tobias ruft nach ihr, sie geht zu ihm, er wirft sich im Bett herum und ist verschwitzt, sie lässt sich neben dem Bett nieder und drückt ihn an sich.

    – Da sind Fliegen, viele Fliegen, sagt er im Halbschlaf.

    – Hier sind keine Fliegen, sagt sie und streicht ihm über die nasse Stirn.

    – Tausend Bzzzzzzt, sagt er.

    – Schlaf jetzt ganz ruhig, sagt sie und spürt, wie müde sie ist.

    Nach einer Weile entspannt sich sein Körper, und er schläft fest ein. Sie lässt ihn vorsichtig wieder auf das Bett gleiten und geht aus dem Zimmer. Als sie wieder im Schlafzimmer ist und sich unter das Laken legt, bewegt sich Günther und murmelt mit dem Rücken zu ihr:

    – Dieser ganze Krach ...

    – Ich mache keinen Krach, sagt sie.

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