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Das Gesetz in uns
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eBook225 Seiten3 Stunden

Das Gesetz in uns

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Über dieses E-Book

Frau Dr. med. Reyersdorff ist schön und in jeder Hinsicht beeindruckend, das ist der Eindruck, den Konsul Printheer von ihr hat, als er ihr zum ersten Mal gegenüber sitzt. Printheer, der in einem eigentümlichen Verhältnis zu ihrem gerade verstorbenen Vater stand, bietet ihr an, sie finanziell zu unterstützen, was sie ablehnt. In der flugs von seinen Untergebenen angelegten Mappe über die junge Ärztin kann der Konsul nachlesen, dass diese ihr Staatsexamen "summa cum laude" gemacht und über Krebserkrankungen promoviert hat. Daraufhin beschließt der Industriekapitän, ihr über Strohmänner eine berufliche Chance zu bieten und sie gleichzeitig mit wiederholten Einladungen an sich zu binden. Beides gelingt und die junge Frau, die nur unter großen Mühen ihr Studium zu Ende gebracht hat, erkennt nicht die Intention des alternden Frauenhelden, sie in sein Bett zu bekommen. Hochdramatisch endet diese Entwicklung mit dem Tod des Konsuls. Doch ist die junge Ärztin tatsächlich eine Mörderin im Affekt, wie sie selbst es glaubt?Lisa Honroth-Loewe (1890–1947) ist eine der deutschen Autorin, die vorwiegend leichte Liebes- und Unterhaltungsromane schrieb. Nach 1933 aus Deutschland emigriert, lebte sie in Basel, bevor sie später in die USA auswanderte. 1947 ist sie in Rockville, Maryland, gestorben. Außer unter ihrem eigenen Namen hat sich auch unter den Pseudonymen Liane Sanden und Rena Felden publiziert.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum11. Apr. 2018
ISBN9788711593288
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    Buchvorschau

    Das Gesetz in uns - Lisa Honroth Löwe

    www.egmont.com

    1

    „Printheer", las Agnete über dem großen Portal.

    „Ich möchte Herrn Printheer sprechen."

    „Dritten Stock. Zimmer neunhundertvierundzwanzig. Anmeldung."

    Schon wandte der Pförtner sich einem anderen Besucher zu. Unschlüssig stand Agnete vor dem Paternosterwerk. Unaufhaltsam gingen die Fahrstühle nebeneinander hinauf, herunter, trugen empor, schleuderten hinaus. ‚Zellen‘ — mußte Agnete denken — ‚Zellen, in denen Menschen gefangen sind mit ihrer Arbeit, ihren Sorgen, mit all der sinnlosen Hast, aus der das Leben besteht.‘ Sie zögerte einen Augenblick, sah die Gesichter hinauf- und heruntergleiten, sorgenvolle, gespannte, ermüdete, alte und junge Gesichter — aber alle hineingerissen in das treibende Rad der Arbeit. Es lag etwas Atemberaubendes in diesem ewigen Hinauf und Hinab, das niemals Ruhe fand.

    Gerade erschien eine dieser emporsausenden Holzzellen vor ihr. Sie trat hinein. Schon schwebte sie aufwärts.

    „Erster Stock, Rechnungsabteilung, las sie, „zweiter Stock, Personalabteilung.

    Hier stieg ein Herr mit einem dicken Aktenbündel und einem ebenso umfangreichen Bauch ein. Er schnaufte asthmatisch und ließ über schiefsitzende Gläser hinweg einen erfreuten Blick über Agnetes Erscheinung gleiten.

    Der Paternosterfahrstuhl schwebte weiter. Dritter Stock. Sie stieg aus.

    Eine breite Schranke von rötlich poliertem Holz versperrte den Weg. Ein Diener:

    „Sie wünschen?"

    „Zu Herrn Konsul Printheer."

    „Sind Sie angemeldet? Nein? Dann bedaure ich." Aus einem ihr selbst unklaren, inneren Widerstreben hatte Agnete bisher gezögert, die Karte Printheers vorzuzeigen. Aber anders kam sie jetzt nicht weiter.

    Mit dem Diener ging eine sichtliche Veränderung vor, als seine Augen die Zeilen überflogen, in denen Printheer Agnete um ihren Besuch bat.

    „Wollen gnädiges Fräulein mir, bitte, folgen?" Er ging in respektvollem Abstand neben Agnete den Gang entlang zu einer Tür mit dem Schild: Privatsekretariat. Sie passierten ein sehr großes Zimmer, in dem eine Anzahl Herren warteten.

    „Darf ich bitten, hier einen Augenblick Platz zu nehmen?"

    Der Diener schob mit einem Schwunge Agnete einen bequemen Sessel hin. Dann ging er weiter in ein drittes Zimmer. Dort saßen einige junge Mädchen an Maschinen. Ein junger Mann ging diktierend auf und ab.

    Auf eine kurze Mitteilung des Dieners hin kam dieser schnell auf Agnete zu.

    „Ich bitte Sie, sich ein paar Augenblicke zu gedulden, gnädiges Fräulein. Herr Konsul ist beschäftigt. Aber ich werde Sie sofort persönlich anmelden."

    Agnete wartete. Von ihrem Platz am Fenster konnte sie die beiden Räume rechts und links beobachten. Die Herren in dem großen Zimmer schienen alle Besucher zu sein, die auf Konsul Printheer warteten. Sie war die einzige Frau hier.

    Interessierter schweifte aber ihr Blick in das andere Zimmer. Zum ersten Male sah sie solch einen modernen Bürobetrieb. Es schwirrte hier geradezu von Arbeit. Ununterbrochen ging das Telephon. Boten, Angestellte kamen herein, gingen hinaus. Eine Dame war ausschließlich damit beschäftigt, Briefe und Telegramme zu öffnen und in verschiedene Mappen zu ordnen. Ein Diener stand schon bereit, um diese Mappen in Empfang zu nehmen und mit ihnen durch eine andere Tür zu verschwinden.

    Nun kam der junge Mann, der Agnete hatte anmelden wollen, zurück und öffnete im Vorbeigehen die Tür zu dem großen Raum, in dem die Herren warteten.

    „Herr Konsul bedauert, er hat noch eine unerwartete Konferenz. Vielleicht bemühen sich die Herren morgen nochmals."

    Dann auf einen Zettel sehend:

    „Herr Doktor Bernhard, wenn Sie, bitte, zu einer Vorbesprechung zu Herrn Direktor Sarter herübergehen wollen? — Herr Böhnisch, bitte, Zimmer zweihundertzweiundsechzig. Herr Prokurist Werner hat Anweisung bekommen, mit Ihnen zu verhandeln." Die namentlich aufgerufenen Herren ergriffen eilig ihre Mappen und gingen hinaus. Die anderen Wartenden standen enttäuscht auf.

    Nun wandte der Herr sich zu Agnete:

    „Darf ich Sie bitten, gnädiges Fräulein? Herr Konsul erwartet Sie."

    *


    Agnete stand Printheer gegenüber. Der erste Eindruck war der ungewöhnlicher Kraft. Lag es in seiner sehr großen, breitschultrigen Gestalt, lag es in seinen Augen, die dunkel unter den schweren Lidern hervorblitzten? Das Mädchen sah in ein mächtiges Gesicht, das trotz seiner Gepflegtheit irgendwie unmodern wirkte. Irgendwo mußte sie eine solche Physiognomie schon einmal gesehen haben. Und das Wesentliche waren wohl die Augen, schien ihr.

    Täuschte sie sich, oder lag eine gewisse Spannung in der Art, wie Printheer sie betrachtete? Galt diese Spannung ihrer Erscheinung? Von neuem überkam sie die starke Befangenheit. Was sollte sie Printheer eigentlich sagen? Aber schließlich war es ja an ihm, zu sprechen. Er selbst hatte sie hergebeten, ohne daß sie den Grund ahnte.

    Jetzt reichte Printheer Agnete Reyersdorff die Hand. Es war eine große, fleischige Hand, die fest zufaßte. Nun hörte sie auch seine Stimme: tief, klangvoll.

    „Fräulein Reyersdorff, zunächst mein aufrichtigstes Beileid zum Tode Ihres Vaters."

    Printheer machte eine kleine Pause und betrachtete Agnete unverwandt.

    „Sie werden sich über meine Karte gewundert haben. Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig. Bitte!"

    Er wies auf einen Sessel und nahm ihr gegenüber Platz.

    Agnete sah Printheer aufmerksam an. Ihre Befangenheit war geschwunden.

    „Ich gehe wohl nicht fehl, Fräulein Reyersdorff, wenn ich annehme, daß Ihr Vater mit Ihnen über meine Beziehungen zu ihm gesprochen hat."

    Agnete schüttelte den Kopf.

    „Nicht? — Dann haben Sie wohl aus den hinterlassenen Papieren des Verstorbenen Näheres ersehen?"

    Wieder schüttelte Agnete den Kopf.

    „Nichts, gar nichts, Fräulein Reyersdorff?"

    „Gar nichts."

    Ton und Blick waren so aufrichtig und ob seiner eindringlichen Fragen so verwundert, daß Printheer, der Erfahrene, nicht zweifeln konnte, daß Agnete die Wahrheit sprach.

    „Nun denn, Fräulein Reyersdorff, dann muß ich Ihnen wohl eine Erklärung geben. Ihr Vater und ich haben vor Jahren zusammen angefangen. Er hat mir einmal einen großen Dienst erwiesen — ich möchte nicht darüber reden, denn ich sehe, er hat es auch nicht gewollt. Eine Sache zwischen Männern war es. Ich habe es ihm nicht vergessen. Ich habe mich aus meiner Dankbarkeit heraus auch später weiter um ihn kümmern wollen. Aber er hat mich zurückgewiesen. Er wollte ja alles immer nur durch sich selbst erreichen. So — —, er zögerte einen Augenblick, „kamen wir auseinander. Doch habe ich ihn auch, ohne daß er es wußte, immer im Auge behalten, bereit, einzugreifen, wenn es nötig wäre. Ich wußte, daß seine Verhältnisse eng waren, aber nicht eigentlich sorgenvoll. Das hat sich wohl in der letzten Zeit geändert? Würden Sie mir Näheres darüber sagen können? Ich frage nicht aus müßiger Neugier, sondern aus meiner Dankbarkeit für Ihren Vater heraus. War seine Lage schon lange bedrängt?

    „Nein, erst ganz zuletzt, Herr Konsul. Vater war ja in bezug auf seine pekuniären Verhältnisse sehr verschlossen. Und sehr stolz, stolz und aufrecht."

    „Ja, das war er wohl", sagte Printheer und sah auf Agnetes versonnenes Gesicht.

    „Nun, Fräulein Reyersdorff, meine Dankesschuld an Ihrem Vater besteht für mich weiter — Ihnen gegenüber. Für Sie würde er diesen Dank nicht zurückweisen, soweit kannte ich ihn auch. Würden Sie mir vielleicht einmal von sich in kurzen Umrissen erzählen? Sie wissen nun: Ich frage aus bestimmten Gründen. Wie sind Ihre pekuniären Verhältnisse jetzt?"

    „Ich bin bis jetzt durchgekommen, Herr Konsul. Aber nun sieht es etwas sehr schwierig aus."

    „Hat Ihnen Ihr Vater gar nichts hinterlassen?"

    „Nur das kleine Anwesen, das er sich in der Werksiedlung erworben hatte."

    „Wollen Sie das Haus behalten?"

    „Ich weiß es noch nicht. Mein Beruf wird mich ja nie mehr dauernd in die Heimat zurückführen. So wird das Haus ein Luxus sein, den ich mir nicht mehr leisten kann. Freilich, fügte Agnete leiser hinzu, „ich hänge an ihm.

    „Nun, Fräulein Reyersdorff, Sie brauchen ja heut und morgen noch keine Entschlüsse zu fassen. Würden Sie vielleicht die Sorge dafür mir später überlassen, auch einen eventuellen Verkauf?"

    „Gern, wenn Sie so gütig sein wollen."

    „Dann schicken Sie mir, bitte, alle diesbezüglichen Schriftstücke und Urkunden über Kauf und Belastung sowie den Hypothekenbrief an mein Büro. Sie werden dann bald von mir hören. — Aber nun wüßte ich gern noch etwas über Ihr Leben. Sie haben einen Beruf?"

    „Ja, ich habe Medizin studiert."

    „Wie weit sind Sie denn?"

    „Ich bin fertig."

    „Ganz fertig? Sie sehen ja noch so jung aus."

    Hier lächelte Agnete zum ersten Male. Es war nur ein ganz schneller Hauch eines Lächelns, der über ihr Gesicht ging, aber er erhellte es wunderbar.

    Printheers Augen schossen wie ein Blitz über sie hin.

    Eine Schönheit war ja dieses Mädchen. Nur froher und unbelasteter müßte es aussehen.

    „Haben Sie auch schon Ihr praktisches Jahr gemacht? Womöglich auch schon den Doktor? Ja? Oh, dann bitte ich um Entschuldigung, daß ich Sie nicht mit Ihrem Titel angeredet habe. Nun, Fräulein Doktor, wollen Sie mir jetzt noch anvertrauen, wie Sie sich die Zukunft vorgestellt haben?"

    „Wie ich mir die Zukunft vorgestellt habe? Ach Gott, Herr Konsul, Vorstellungen von der Zukunft kann man sich unter den heutigen Verhältnissen nicht mehr machen. Man muß ja alles beiseitestellen an eigenen Wünschen, um sich nur überhaupt durchzuschlagen. Bezahlte Assistentenstellungen zu bekommen ist unmöglich, wenn man nicht besondere Beziehungen hat —"

    „Protektion ist heut in allen Berufen notwendig, Fräulein Reyersdorff."

    „— ja, und Vertretungen sind kaum noch zu haben. Für eine selbständige Niederlassung fehlen mir alle Mittel, ganz abgesehen davon, daß mir meine Ausbildung noch lange nicht genügen würde. Ich habe schon versucht, alles mögliche zu bekommen. Aber es ist für eine Akademikerin viel schwerer als für einen anderen Menschen, eine Stellung zu finden. Man kommt nicht einmal als Dienstmädchen unter. Der Arbeitsnachweis hat mir ein paar Stellen nachgewiesen. Aber die Leute haben sofort nein gesagt. Man kann doch eine Ärztin nicht ans Waschfaß stellen oder an den Aufwischeimer, hieß es." Printheer sagte lächelnd, und wieder streifte sein Blick schnell über Agnete hin:

    „Das kann ich mir vorstellen, daß Sie als Dienstmädchen nicht gerade an Ihrem richtigen Platze sind."

    „Auch als Stenotypistin habe ich mich schon beworben, aber auch vergebens."

    „Stenotypistin? Das ist Unsinn, Fräulein Reyersdorff. Wir haben in der Wirtschaft so viel tüchtige und geschulte Bürokräfte, die auf der Straße liegen, daß wir nicht noch ungeschulte einstellen können." Agnete zuckte die Schultern:

    „Sie haben ja recht, Herr Konsul. Aber —" Sie schwieg bedrückt.

    „Und was würden Sie beginnen, Fräulein Reyersdorff, wenn Sie reich wären?"

    „Reich? Ich ersehne Reichtum nicht, Herr Konsul.

    Die Wünsche, die ich ans Leben habe, sind bescheiden. Aber wenn ich nur die geringsten Mittel hätte, dann würde ich rein wissenschaftlich arbeiten wollen."

    „Denken Sie an ein Spezialgebiet?"

    Agnetes blasses Gesicht belebte sich. Ihre Stimme bekam Wärme und Klang.

    „O ja, Herr Konsul, Krebsforschung. Meine Doktorarbeit handelte von derartigen Problemen. Ich wäre glücklich, wenn ich auf diesem Gebiet weiterarbeiten könnte. Aber — das sind Wünsche. Es geht eben nicht."

    Printheer überlegte kurz:

    „Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Fräulein Doktor. Vielleicht ist es möglich, etwas für Sie zu tun. Jedenfalls stehe ich immer zu Ihrer Verfügung, wenn Sie etwas von mir wünschen. Bitte, wenden Sie sich immer direkt an meinen Privatsekretär Doktor Dörnberg. Das erspart Ihnen den Instanzenweg."

    Er sah auf seine Uhr. Agnete erhob sich sofort. „Ich danke Ihnen, Herr Konsul."

    „Noch nichts zu danken, Fräulein Doktor. Hoffentlich bald auf Wiedersehen."

    Printheer ließ Agnete vor sich durchs Zimmer gehen. Sie sah nicht den Blick, mit dem er sie prüfte, ihre große, schmale Gestalt mit dem federnden Gang, die stolze, entschlossene Haltung des Kopfes, um den sich das blonde Haar wie ein Helm schloß, das ganze Strenge und Unberührte ihrer Erscheinung. Etwas Dianenhaftes war in der Art, wie ihre Füße ausschritten. Unwillkürlich schlossen sich seine Augen zusammen. Der schmallippige Mund, der in so starkem Gegensatz zu dem großflächigen Gesicht stand, schob sich vor. Agnete fühlte, ohne ihn zu sehen, diesen prüfenden Blick in ihrem Rücken. Beunruhigt drehte sie sich um, sah aber in ein verbindlich lächelndes, beherrschtes Gesicht. Printheer öffnete ihr selbst die Tür zu dem Sekretariatszimmer. An dem erstaunten Aufsehen der Sekretärinnen drin spürte Agnete, daß diese Höflichkeit Printheers etwas Ungewöhnliches war. Noch einmal fühlte sie seine Hand mit dem festen zupackenden Druck, sah, wie seine große, dunkle Gestalt in dem hellen Lichtviereck stand, das von den großen Fenstern her bis zur Tür fiel.

    Und schon riß der Privatsekretär die Tür zum Korridor vor Agnete auf.

    Konsul Printheer sah Agnetes schwarze, schmale Silhouette um die Ecke biegen. Schon in der Tür zu seinem Arbeitszimmer wandte er sich um:

    „Legen Sie Akten an: Dr. med. Agnete Reyersdorff."

    2

    Agnete stand auf der Straße. Der feuchte Märzwind warf sich ihr in wilden Stößen entgegen und nahm ihr fast den Atem. Merkwürdig, daß ihr diese erste, ungewohnte Weichheit der Frühlingsluft jetzt erst zum Bewußtsein kam. Heute früh hatte sie in ihrer Aufregung nichts von allem gespürt. Und jetzt fühlte sie eine Unruhe in sich, stärker eigentlich als vor dem Besuch bei Printheer. Niemals hätte sie geglaubt, daß der Vater eine Beziehung zu einem Manne wie Printheer gehabt hätte, niemals geglaubt, daß sie selbst je in eine Beziehung zu ihm treten würde. Vielleicht würde er doch einen Weg für sie wissen? Er hatte es ja angedeutet. Aber wie vielen, die zu einem Manne wie Printheer kamen, mochte wohl Ähnliches gesagt werden! Wie vielen etwas versprochen werden, ohne daß das Versprechen je eingelöst wurde. Vermutlich war es dies Unsichere, was sie so bedrängte. Heute früh noch, ehe diese Karte von Printheer ihr aus der Heimat nachgesandt worden war, hatte sie ihr Leben überschauen können, hatte gewußt, daß sie ganz allein auf sich gestellt war und auf das, was die Studentenhilfe ihr an Arbeit übermittelte. Jetzt war alles vage geworden — und doch hatte im Grunde sich nichts geändert. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie hätte diesen Besuch bei Printheer nicht gemacht. Man hätte sich nicht noch durch solche Dinge in falsche Erwartungen hineinziehen lassen sollen.

    Agnete fühlte sich plötzlich sehr allein. Sie hatte das Bedürfnis, mit einem Menschen zu sprechen; darum nahm sie eine Elektrische und fuhr nach dem Studentenhaus in der Johannisstraße. Um diese Zeit würde sie Wolfgang treffen.

    *


    Ein ununterbrochenes Kommen und Gehen herrschte in dem alten Hause der Johannisstraße. Jetzt, um die Mittagszeit, wurde der Speiseraum fast gestürmt. Für wenig Geld bekamen hier die ewig hungrigen jungen Menschen eine kräftige Mahlzeit. Und wenn es auch nicht gerade so schmeckte wie daheim bei der Mutter, so war man doch froh, sich einmal am Tag richtig satt essen zu können. Studentenleben von heute ist wahrlich kein leichtes Leben. Wo ist die Sorgenlosigkeit geblieben, der fröhliche Leichtsinn, der früher untrennbar verbunden war mit dem Begriff „Student? „Durchhalten! Fertig werden! — das ist der Rhythmus, der heute den gewaltigen Bau der Universität durchpulst. Fertig werden! Nicht mehr den Eltern auf der Tasche liegen, die oft genug das Geld für das Studium ihres Kindes nur mit den schwersten Opfern aufbringen können. Nicht mehr von Tee und trockenen Semmeln leben müssen, wenn der Monat sich seinem Ende nähert und man selbst das Geld für das Mittagessen in der Studentenspeisung nicht mehr hat. Aber Durchhalten! — bis zum Examen. Der wissenschaftlichen Arbeit treu bleiben. Arzt werden, um der Menschheit helfen zu können. Recht studieren, um später Recht zu sprechen. Selbst lernen, viel lernen, um andere einst lehren zu können!

    Und dann macht man das Examen, dann ist man glücklich fertig, hat sich mit größten Opfern an Kraft und Geld durchgearbeitet bis zum Abschluß — und was ist dann? Gering die Aussicht auf irgendeine Anstellung, gering die Bezahlung, wenn man so glücklich war, etwas zu bekommen. Jahrelange, trostlose Wartezeit für die meisten.

    Es steckt ein ungeheurer Idealismus in dieser studierenden Jugend von heute, die trotz der trüben Zukunftsaussichten weiterarbeitet, weiterhungert, weiterstrebt. Durchhalten! Fertig werden!

    Agnete schob sich zwischen ein paar Kommilitonen hindurch, nickte hier und da. Es waren Studenten, die sie von den Hörsälen und Kollegs kannte. Ein Klappern von Tellern, Geruch von Kohl und Suppe schlug ihr aus dem niedrigen Eßsaal entgegen.

    „Tag, Fräulein Reyersdorff, sagte ein blonder junger Mann hinter ihr — er fuhr nachts eine Taxe, um am Tage studieren zu können — „na, beehren Sie uns auch einmal wieder? Wen suchen Sie denn?

    „Wolfgang,

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