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Träume der Ellen Stein
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eBook254 Seiten3 Stunden

Träume der Ellen Stein

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Über dieses E-Book

Berlin am 23. November 1927: Ellen Stein, ledig, die wie fünfzig aussieht, dabei noch keine vierzig ist, ist Untermieterin bei Herrn Brenneisen, und beide sind sich in inniger Abneigung verbunden, was aber vor allem auch daran liegt, dass Ellen Stein überhaupt in einem gespannten Verhältnis zu dem Berlin, den Menschen von heute steht, deren Repräsentant Brenneisen nun einmal ist. Eine engere Verbindung hat das "hagere, vermännlichte, ältere Fräulein mit scharfen Zügen und einem graumelierten Haarknoten" vor allem noch zu Ruth, der Tochter ihrer Schwester. Doch Ruth will nun heiraten, und Ellen ist weder diesen Eheaussichten noch ihrem Bräutigam Fred Meirowitz besonders zugeneigt. Einstmals, so vertraut sie der geliebten Nichte an, hatte auch sie Verehrer, Ernst Weinberg, Dr. Slop, Herman Müller, Benno Bernauer, und hätte mehrmals fast geheiratet, was aber jedes Mal scheiterte, unter anderem daran, dass Dr. Slop in einem fernem Lazarett irgendwo an der Ostfront an Flecktyphus verstorben, Herman Müller bereits im August 1914 gefallen ist und Benno Bernauer noch immer in den Pripetsümpfen vermisst wird. In ihren Träumen jedoch lebt sie das ungelebte Leben an Seite ihrer Männer und anderer geliebter und weniger geliebter Menschen nach. Dann fährt wieder die Straßenbahn vorbei, sie wacht auf, ist allein und einsam und muss sich des drohenden Verlustes der geliebten Nichte Ruth gewärtigen. "Träume der Ellen Stein" ist ein eindrucksvoller, psychologisch dichter Roman voll menschlicher Tiefe und Wärme, voller Einsamkeit, Verlust, Erinnerung, Leid, zuletzt aber auch Nähe und Liebe ... Ein fast vergessenes Hauptwerk Georg Hermanns, das wiederzuentdecken sich mehr als lohnt!Georg Hermann, eigentlich Georg Hermann Borchardt (1871–1943), war ein deutscher Schriftsteller. Georg Hermann wurde 1871 als jüngstes von sechs Kindern einer alteingesessenen jüdisch-berlinerischen und später verarmten Kaufmannsfamilie geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums durchlief er eine Kaufmannslehre und arbeitete als Gehilfe in einem Krawattengeschäft. Von 1896 bis 1899 besuchte er literarische, kunstgeschichtliche und philosophische Vorlesungen an der Universität Berlin. Später war er beim Statistischen Amt Berlin beschäftigt, schrieb daneben Texte für Zeitungen und Zeitschriften und machte sich durch Feuilletons, Kunstkritiken und als Verfasser kunsthistorischer Werke nach und nach einen Namen. Obwohl er sich bereits als Schüler schriftstellerisch versucht und später unter anderem drei Bände Prosaskizzen veröffentlicht hatte, setzte er sich als Schriftsteller allerdings erst relativ spät durch: Erst der Roman "Jettchen Gebert" (1906) machte ihn mit einem Schlag berühmt. "Jettchen Gebert" und sein Fortsetzungsband "Henriette Jacoby", die ein Bild des liberalen Geistes im Berlin der 1840er Jahre in einer jüdischen Familie zeichnen, waren Bestseller mit zusammen mehr als 260 Auflagen. Hermann lebte fortan als vielgelesener Romancier in Berlin, zeitweise in Neckargemünd bei Heidelberg. Sein literarisches Vorbild war Theodor Fontane, was ihm auch die Bezeichnung "jüdischer Fontane" eintrug. Neben oft stark autobiografisch getönten jüdisch-bürgerlichen Themen griff er auch Stoffe aus den unteren sozialen Schichten ("Kubinke", 1910, der Zuhälterroman "Rosenemil", 1935) und aus der preußischen Geschichte auf. Seine Romane sind Unterhaltungsliteratur von Rang, wie sie in Deutschland selten ist.Durch die nationalsozialistischen Machthaber ständig bedroht, entschloss sich Hermann nach dem Reichstagsbrand im Jahre 1933, Deutschland zu verlassen und ging nach Holland ins Exil. Seine Werke standen auf der "Schwarzen Liste" und wurden bei den Bücherverbrennungen im Mai 1933 den Flammen übergeben. Im Exil schrieb Hermann unter schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen weitere Romane.
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum7. Apr. 2016
ISBN9788711517253
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    Buchvorschau

    Träume der Ellen Stein - Georg Hermann

    Esel.

    I. Die Tante

    Leute, die Ellen Stein von früher kannten, behaupteten, dass sie von je sehr klug und bildungsbeflissen, ja mehr als das, geistvoll und recht hübsch, oder zum mindesten doch sehr apart dabei gewesen wäre. Das erste hatte sich wohl modifiziert, aber kaum ganz verloren, aber das andere war spurenlos fast vergangen im Laufe von nicht zwei Jahrzehnten; so wie ungefähr die antike Kultur nach dem Einfall der Barbaren. Heute war Ellen Stein ein hageres, vermännlichtes, älteres Fräulein mit scharfen Zügen und einem graumelierten Haarknoten, der sich über einem glatt gebürsteten graumelierten Scheitel hochdrehte. Sie sah so aus, wie man sich die Pflicht vorstellt, wenn man jung ist. Grau, scharf und ohne Lächeln und mit hastigen und bestimmten Bewegungen, die maschinenmässig geregelt sind; und sie war so gekleidet, wie die Pflicht — die ja nun mal eine Frauensperson ist —, es nur sein kann. Also so, wie vor zwanzig Jahren ein älteres Fräulein zwar nicht aussah, aber wie man sich vorstellte, dass sie aussehen müsste. In ihrem dunklen Kleid, das sich auch im wärmsten Sommer nur um einige Nuancen auflichtete, und von dem ein Mann leicht glauben könnte, dass es immer das gleiche sei, trotzdem eine Frau sofort sehen würde, dass es nie das gleiche und immer ein anderes ist ... betonte sie aufdringlich, dass sie auf Kleidung keinen Wert legte und niemandem mehr gefallen wollte, ja es übelnähme, wenn es trotzdem der Fall wäre. Die Frauen aber sahen sofort (nicht ohne Neid), dass die Kostüme dieses Fräulein Stein aus dem teuersten Stall kämen; während die Männer — doch auf die kam es ja auch nicht an! — keinen Blick für so etwas hatten. Nebenbei hätte Ellen Stein sich wie ungewaschen gefühlt, wenn sie etwa billig oder gar unsolide — ein Wort, das Schüttelfrost bei ihr auslöste — angezogen gewesen wäre. So war sie also alles in allem gewiss kein angenehmer Mensch; aber ihre sämtlichen Bekannten waren sich darin einig, dass sie das wäre, was man einen: hochanständigen Menschen nennt. Auch wenn sie gern an ihnen Kritik übte, ohne dazu aufgefordert zu sein, und zwar mit einer Ironie, die unfassbar war und zu ihren verknitterten Zügen, die seit langem wohl das Lächeln verlernt hatten, das geistige Gegenspiel bot. Ebenso hatte — ausser Herrn Brenneisen, und der zählte ja nicht zu ihren Bekannten — noch nie jemand bei ihr Gemüt, Mitfühlen und Herzlichkeit vermisst, oder sie nicht verlässlich und hilfsbereit gefunden, wenn es darauf ankam. Sogar von der Familie wurde sie mit jener Achtung behandelt, die selbst die Familie jemand zukommen lässt, den sie einmal beerben will. Die Familie lächelte über ihre Schrullen, die darin bestanden, dass sie Nebensächliches, wie Sprachkurse und Vorträge, Museen, Goethe oder Politik und Friedensbewegungen blutig ernst nahm ... dass sie ihre Tagesarbeit systematisch eingeteilt hat ... und dass sie, ehe sie — sagen wir — eine Reise nach Spanien machte, viele Dutzende von Büchern über Land, Leute, Geschichte und Kunst und Geologie dieser langweiligen Halbinsel monatelang wälzte, und bei einer armen flüchtigen spanischen Sozialistin mit Augen wie leere Teller auf einer abgegessenen Tafel, vergeblich sich in den Gutturalen dieses Idioms zu vervollkommnen suchte ... in jenen Kehllauten, die, wie sie gern allen die es nichts anging, erklärte, sicher arabische Reminiszenzen sind ... verzieh ihr also, dass sie all das blutig ernst nahm, was keinen vernünftigen Menschen etwas anging, während sie für die wirklich-wichtigen Dinge, wie eine Kinopremiere im Kapitol, einen Grosskampftag der Boxer im Sportpalast, einen Fünfuhrtee im Esplanade und eine Modenschau bei Adlon, nicht zu haben war, ja nicht einmal dahin mitzuschleifen war, wenn ihre Schwester, Frau Bergheim oder ihre Nichte Ruth Bergheim, sie im Wagen dazu abholen kamen. Und dabei hing sie doch mit einer wahren Affenliebe an Ruth. Und war unglücklich, wenn das Kind sie drei Tage nicht besucht hatte.

    Dennoch — so kompliziert sind die menschlichen Beziehungen — kann nicht verkannt werden, dass sowohl ihre Schwester, Frau Bergheim, und ganz besonders Ruth, doch insgeheim sehr stolz auf Ellen Stein und ihre Schrullen waren, weil jene den Mut hatte, inmitten einer Gesellschaft, die ganz anders geartet war, das Leben auf eigene Manier zu führen. Und weiter waren sie auch stolz darauf (vor allem Ruth!), weil Tante Ellen in sich noch die Tradition der Familie verkörperte, sie pflegte und der Gegenwart keine Konzessionen machte. Nicht einen, sondern drei Buick konnte sie sich anschaffen; — tut es nicht. Hätte hundertmal sich zum Beispiel neu einrichten können ... nein, sie lebt immer noch zwischen dem altmodischen Plunder von Eltern und Grosseltern, zwischen dem sie geboren ist. Und wenn Besuch da ist, lässt sie Kerzen brennen, weil sie das intimer findet, und elektrisches Licht zu hassen behauptet. Sie hat aus ihrer Wohnung ein Familienmuseum gemacht, was lächerlich und rührend zugleich ist. Hat sich selbst als Kustodin dieses Museums zur alten Tante gemacht, rein aus Pietät, was gar nicht nötig und durchaus vorzeitig war. Will aussehen wie fünfzig und ist noch nicht einmal vierzig. Vielleicht tut sie das auch nur, weil heute andere Frauen, die fünfzig sind, wie dreissig aussehen wollen. Man weiss es doch, wie alt sie ist, man kann es ja nachrechnen, auch wenn sie sich seit Jahren verbeten hat, dass man ihr zu ihrem Geburtstag etwas schenkt oder überhaupt Notiz davon nimmt. Wenn Ruth ihr mal sagt, dass sie heute gut und jung aussieht — und das tut sie manchmal — wird sie sogar grob.

    Ebenso ist Tante Ellen (das weiss Ruth) allen Versuchen ihrer Mutter, ihr einen ihrer verflossenen Liebhaber als Mann aufzuhängen, — und das spielt mit immer neuen Reflektanten noch bis in die letzte Zeit hinein —, geschickt und energisch stets ausgewichen, so fein und unauffällig es Ruths Mutter auch eingefädelt haben mochte. Und aus reiner Pietät hält sie zum Beispiel noch Johanna, sonst niemand (ausser der Hülfe), weil sich natürlich Johanna mit keinem anderen Mädchen verträgt, da sie sechsundvierzig Jahr im Haus ist und vom zweiten Küchenmädchen zur Alleinherrscherin avanciert ist. Ruths Mutter sagt immer, man soll ihr doch endlich etwas aussetzen, sie wollen sie beide wo einkaufen. — Tante Ellen will nicht. Denn sonst würde Johanna — meint sie — in wenigen Monaten verrosten und kaputt gehen, wie eine alte Waschmaschine, die ausser Betrieb gesetzt ist. Und Johanna will es natürlich erst recht nicht; denn welcher Autokrat will je in Pension gehen?! Und dabei ist es mit ihr kaum noch auszuhalten. Wenn sie wenigstens ein Haarnetz trüge über den weissen Zotteln oder ein Häubchen; aber es ist doch beinahe schon unappetitlich, wenn sie einen Teller Suppe vorsetzt. Und zudem stehen sie wie Hund und Katze miteinander, und sie ärgert Tante Ellen mit ihren plumpen Vertraulichkeiten, die die immer wieder von sich wegschiebt, manchmal bis aufs Blut. Tante Ellen möchte sie ja gerne los werden, ist auch stets wieder dazu fest entschlossen; aber sie behält sie dann eben doch, weil sie genau weiss, dass sie ohne sie und das Haus nichts mehr im Leben anfangen kann. Und so quälen sich beide immer weiter. Ruths Mutter meint zwar, dass das vielleicht andere Gründe haben könnte, weshalb Ellen dem kein Ende macht. Dass sie irgendwie ihr ausgeliefert sei. Weiss Gott, wodurch. Aber das ist natürlich Unsinn. Mutter redet leicht doch so etwas.

    Und deshalb hat sie auch Fifi, den alten maroden Sprengwagen von Hund, immer noch nicht vergiften lassen, nur weil Ruth mit ihm vor sechzehn Jahren lieber als mit all ihren Puppen gespielt hat. Und sie lässt Lora schreien, trotzdem, oder weil er seit dreissig Jahren sie damit im Arbeiten stört. Er sieht jetzt wie ein halb gerupfter Hahn aus, ist nur Krallen, Schnabel und Bösartigkeit. Aber er schreit immer noch.

    All das — angefangen bei den griechischen Vasen, dem Arabischen und den Koransuren und der Friedensgesellschaft, dem Spanischen und dem Kommunismus, dem Goethe-Fimmel und der Flaubert-Sammlung (und dabei hat sie doch gar nicht zu Ende studiert!) ... bis zu ihrem Pflichtgefühl Johanna, Fifi und Lora und auch ihrer Schwester, Ruths Mutter, gegenüber, über die alle sich Tante Ellen keinerlei Illusionen macht ... aber auch gar keine! ... und die sie völlig durchschaut und doch nicht fallen lässt, ... findet Ruth furchtbar lächerlich, und doch imponiert es ihr gewaltig. Irgendwie ist ihr die Tante Ellen zugleich Vorbild und abschreckendes Beispiel. Ein komisches, antiquiertes Überbleibsel aus vergangenen Tagen; und doch das, was sie gern erreichen möchte und nie erreichen kann. Ganz heimlich ist Ruth Bergheim nämlich verliebt in sie, und fühlt sich mit ihren neunzehn, die die Reife und Selbständigkeit und Erfahrung in allen menschlichen Sensationen von ehedem fünfunddreissig vorweggenommen haben, doch sehr zu ihr hingezogen ... zu dieser Tante Ellen (besonders jetzt, da sie sich Knall und Fall mit Doktor Fred Meirowitz verlobt hat. Sonntag wird Empfang sein). Ebenso empfindet sie es aber, dass sie nicht zu ihr hinüber kann. Denn — was niemand so auf den ersten Blick sehen wird — unter dem Firnis einer snobistischen Lebenslust, die eine lachende Unverwüstlichkeit und echte Sportliebe erträglich machen, steckt bei Ruth ein durch die Zustände im Elternhaus tief zerquältes Menschenkind, das doch zu schwach ist, um anders zu sein, als es ist, oder durch die Umgebung wurde. Und dass wieder, leider ein Familienerbteil von dem alten Grosspapa Stein, viel zu klug ist, um all das nicht selbst zu fühlen.

    Tante Ellen wiederum hängt an ihrer Nichte mit all ihren ungenützten Gefühlen von Mütterlichkeit und mit einer geheimen Bewunderung, weil jene ein Dasein lebt, das sie zu leben kaum je den Mut fand, und dieses Dasein als selbstverständlich und zu ihr gehörig nimmt. Trotzdem häkeln sie sich natürlich und bewitzeln einander, wo sie sich sehen. Nur damit sie sich ihrer eigentlichen Gefühle füreinander nicht bewusst werden brauchen. Das ist nun schon seit einigen Jahren so und wird heute, am 23. November 1927 auch nicht viel anders sein. Immerhin sieht Ellen Stein diesem Besuch heute — nur eine Tasse Tee nach dem Abendbrot! — mit sehr gemischten Gefühlen und nicht ohne Bangen entgegen. Denn sie weiss von dieser Verlobung mehr als Ruth, und ahnt mehr, als ihr selbst lieb ist. Eigentlich wollte sie sogar noch abtelephonieren. Was sollte sie da noch? Ihre Rolle war doch ausgespielt; und ändern könnte sie doch nichts mehr; würde sich nur wieder durch unvorsichtiges Reden den Mund verbrennen. Und das bisschen Freude, das sie an dem Kind hätte, durch solchen Familienstunk (denn ihre Schwester liebte es nicht, dass man ihre Kreise störte, ... dann wurde sie brutal!) auch noch verlieren. Wenn Ruth erst verheiratet wäre, würde sie sich ja doch von ihr entfernen. Hoffnungslos in anderer Richtung hin. Schade!

    All das hatte sich Ellen Stein lange überlegt, und trotzdem hatte sie doch lieber dem jungen Russen abtelephoniert, bei dem sie seit einem Vierteljahr russisch nahm, aber nicht recht weiter kam, weil er von einer Stunde dreiviertel von seinen Onkeln und Vettern und Tanten und Basen erzählte, die alle entweder Minister, Generäle oder Gouverneure und Hofdamen waren und beim Zar oder bei der Zarewna (Ça dépend) sehr in Gunst gestanden hätten, und von denen dann jeder auf eine andere raffiniert-grausame Art ums Leben gekommen war. Er gehörte eben wie alle russischen Emigranten einer sehr vornehmen und sehr weitverzweigten Familie an. So vornehm und so weitverzweigt, dass man gar nicht begriff, wie er jetzt so allein sein und so tief herunterkommen konnte. Also er würde statt heute abend um neun, morgen früh um neun kommen, der Herr Jwanoff Maljukin. Und dann ... ja ... dann gab es noch von sieben bis acht den Vortrag: „Der englische Arbeiter nach dem Kriege." Aber den mochte sie deshalb doch nicht versäumen.

    Es war nebenbei ein sehr interessanter Vortrag. Nur dass er, wie alle Vorträge, zu wenig bei den Hörern voraussetzte und deshalb eigentlich aufhörte, bevor er angefangen hatte. Das, was man gern hören wollte: ‚Was ist los mit dem englischen Arbeiter? Was wird geschehen? Und wo steht er im Kampf gegen den Kapitalismus?‘ verschwieg der Vortragende, weil er es selbst nicht wusste, legte aber Wert darauf, alle englischen Worte englischer als der Engländer auszusprechen. Kurz, der Vortrag unterschied sich nicht viel von den hundertfünfzig Vorträgen, die an diesem Tag in Berlin gehalten wurden; ebenso, wie dieser Novembertag sich nicht viel von anderen Novembertagen früherer Jahre, und sehr wenig von denen dieses Jahres unterschied. Das heisst: die Wetterberichte behaupteten, dass man noch nie einen so kalten November gehabt hätte, aber gerade als sie das feststellten, hörte es schon wieder mit der Kälte auf, und der Schnee wurde zu Wasser und Schlamm, den die Autos in Fächern weit um sich spritzten, wobei sie, spasshaft, wie sie von Natur sind, nach den Strümpfen der Damen zielten. Aber nach wenigen Stunden, als die Strassenreinigung eingesetzt war, hatten sie auch dieses kleine Vergnügen nicht mehr, und die Strasse lag so grau wie immer im November, und Bürgersteig und Asphalt trocknete langsam in den amüsanten Ornamenten der Vorsatzpapiere bei einem scharfen Wind auf, der — eine Eigenart von Berlin! — an jeder Strassenecke aus einer anderen Richtung blies. Die Menschen jedoch waren gut und schlecht angezogen, je nach der Gegend; und sie gingen nach Hause oder ins Kino oder ins Sechstagerennen, in die Gesellschaft, in die Bar, ins Café, in die Kneipe, in die Kaschemme, auf Arbeit oder auf Einbruch, ins Theater oder ins Varieté, je nach dem Geldbeutel. Pärchen trafen sich und lächelten sich entgegen, und dieses Sich-schon-weitem-entgegenlächeln war vielleicht ihr Poetischstes an diesem Abend. Das andere war nur Amüsement oder Stumpfsinn und schlechte Laune, Missverständnisse und Nörgelei. Um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche flammten in buntem Wechsel die Giebelreklamen und die gleichen Leute, die noch nie einen Blick von länger als einer halben Sekunde auf den ausgestirnten Augusthimmel hatten verweilen lassen, blieben hier einen Augenblick doch stehen und waren sehr begeistert davon; andere ergötzten sich mehr an den Spiegelungen, in dem noch teilweise feuchten, von tausend Gummirädern blankpolierten Asphalt, die kaleidoskopartig wechselten, und sagten dabei: „Lesser Ury." Alle aber waren stolz darauf, dass soviel Menschen und soviel Autos und Trams und Omnibusse sich in verschiedenen Richtungen durcheinanderschoben, vorwärtsstrebten, hielten, wieder anrückten und im Karussell um den Kirchenbau tanzten, nach den Taktschlägen der Verkehrsschutzleute und zu der Jazzmusik der Autohupen; und dass bei diesem Weltstadtspielen der Erwachsenen eigentlich doch viel weniger Menschen zu Schaden kamen, als man erwartete, und die meisten mit heilen Knochen dort landeten, wo sie hin wollten. Erst im Theater oder im Café gaben sie mit der Garderobe die Sensation der Strasse ab. Jeder Mann sah dabei jede Frau an, wie der Jäger einen Hasen, der in der Ackerfurche davonhoppelt. Wenn er ihn nicht gerade heute erlegte, nun so könnte er es ja ein anderes Mal tun. Und sie richteten die Attacken ihrer Blicke und auch ihrer Worte wahllos gegen solche, die sie ermunterten, und gegen solche, die sie im voraus entrüstet oder gleichgültig abwiesen, ohne, was das Alter und das Aussehen anbetraf, hier besonders wählerisch zu sein.

    Und nachdem Ellen Stein dreimal Annäherungsversuche hatte abwehren müssen, der eine konnte an Alter ihr Vater sein, er schob seinen Bauch nur schwerfällig durch das Gewühl und mimmelte etwas von „Schönes Kind und „Abendessen vorsichtig aus dicken Lippen. Der andere konnte ihr Sohn sein. Er begann damit, ob er ihr die Pakete tragen dürfe, ... (denn Ellen Stein hatte noch schnell vor Ladenschluss, bevor sie sich über die Absichten der englischen Arbeiterschaft nicht instruieren liess, etwas Schokolade und Teegebäck und ein paar besondere Raffiniertheiten, die man nur an einer Quelle bekam, gekauft, weil sie wusste, dass Ruth so etwas über alles liebte. Ganz gleich, was es war. Es musste nur eine Verpackung haben, auf der englisch, französisch, italienisch, russisch oder chinesisch stand, dann war sie schon begeistert und knabberte und knusperte mit spitzen Zähnen und seligem Gesicht daran herum, als beginge sie damit eine sakrale Handlung) ... Aber Ellen Stein konnte sich doch nicht der Meinung anschliessen, die jener Jüngling vertrat, dass diese paar kleinen Päckchen für ihre zarten Hände viel zu schwer wären. Der junge Mann sagte nebenbei sein Sprüchlein her, als ob er es aus dem Buch „Der scharmante Gesellschafter in allen Lebenslagen, Kapitel acht: „Anknüpfung einer Damenbekanntschaft, auswendig gelernt hätte.

    Und dem dritten verzieh Ellen Stein nicht, dass er, ein hübscher, geradegewachsener ostpreussischer Schnoesel mit Wasserscheitel, der Wunschtraum jedes Ladenmädchens, so wenig Geschmack hatte, seine unzarten Werbungen gegen ein ältliches und unauffälliges Wesen, wie sie es war, nutzlos zu verschwenden. Was versprach er sich nur davon?! Als aber dann noch ein junges, hageres, frierendes Ding, bei der die Schminke sich mit der hektischen Röte vermischte, mit einer Lederkappe mit zwei Schlaufen, wie die Ohren eines Wiesels, in einer Pelzboa und zu kurzem Röckchen, aus denen wie zwei Stearinkerzen zwei lange, dünne, weissbestrumpfte Knabenbeine zur Erde wuchsen, sie erst frech anblinzelte, dann, nachdem sie eine Weile neben ihr gegangen war, unauffällig leise mit der Zunge schnalzte, und endlich sogar irgend etwas zu zwitschern begann, zog es Ellen Stein doch vor (nicht angewidert, sondern mehr beschämt und tieftraurig darüber, wozu Menschen, und besonders ihre Schwestern, alles greifen mussten, um in einer Grossstadt ihr armseliges Leben zu fristen) — zog es vor, zog es vor ... sie wäre ja viel lieber noch etwas gegangen! ... ein vorüberfahrendes Auto anzuhalten. Es war auch Zeit ... vielleicht warteten Ruth und Fred schon bei ihr auf sie. Der Chauffeur wiederholte mit sehr unfreundlichem Gesicht, da die Entfernung zu kurz war — nur ein paar Minuten — Strasse und Hausnummer. Währenddessen könnten ihm die dicksten Fuhren durch die Nase gehen und nachher konnte man wieder bis halb elf warten, wenn die Theater aus waren, bis man wieder eine ordentliche Fuhre kriegt. Denn auch die Strasse hat ihre Gezeiten, ihre Ebbe und Flut, deren Rhythmus nur der kennt und beachtet, der von der Strasse zu leben hat. Der Zeitungshändler, die Prostituierte, der Chauffeur, der Taschendieb und der Schupomann, der Kokainverkäufer und der Schlepper. Und diese Ebbe und Flut sind fast in jeder Strasse und in jedem Stadtteil andere. Um Viertelstunden, ja um Stunden voneinander getrennt.

    Das Auto aber warf sich mit jener Ungeduld in das Gewühl seiner Konkurrenten jeglichen Kalibers, die eine Charaktereigenschaft des Grossstadtautos ist: es hat seinen Autoehrgeiz, schneller zu fahren als das andere. Aber zumeist und gerade hier ist es ja — und um diese Zeit vor allem — gezwungen, nach Zählen auf der Stelle zu marschieren. Aber sowie es fünfzig Meter freie Fahrt wittert, kurbelt es auch schon auf Prestissimo an und bringt seinen Eifer gerade noch zehn Zentimeter vor seinem Vordermann zu stehen, schnauft tief auf vor Ungeduld, und nimmt alsbald einen neuen Anlauf, um an jenem möglichst vorbeizufahren, der aber ebenso resultatlos verläuft, ... bis es plötzlich in eine Nebenstrasse abbiegt und nun zeigt, was es kann. Manchmal sausen die grossen hellen Spiegelfenster in all ihrer Buntheit des Lichts und der Seidenstoffe und Blumen und Lederwaren und Hüte, der Parfümflakons und der Pyramiden aus Schuhwerk dem da drinnen vorüber, wie mit dem zitternden Fächerschlag japanischer Gaukler die bunten Bälle durcheinanderwirbeln. Und dann maikäfert das Auto wieder eine Minute auf einem Fleck, und er betrachtet stieren Blicks und halb bewusst einen mit Lotterielosen beklebten Zigarrenladen, oder die triefenden Spiesse des Gitters eines melancholischen Vorgartens, der eigentlich kein Garten, sondern nur ein Stückchen eingefriedeter Erde ist, die die kaum glaubliche Tatsache erhärtet, dass, bevor es hier Granitplatten und Steine und Asphalt und Leitungsdrähte und Häuser und Kanalisationsröhren in den Schächten gab, dass da hier doch Erde, richtiger Erdboden, Sand, Wiesen oder Kiefernschonung war, und dass sich immer noch Erde unter all dem findet, und auch eines Tages — wenn auch wohl erst in Jahrhunderten! — wieder zum Vorschein kommen wird.

    Ja, selbst Ellen Stein erinnerte sich sogar noch so ganz dämmerhaft der Zeit, da hier noch Erde und kein Haus war; ja nichts von alledem, was hier jetzt — scheinbar für ewig — die Herrschaft übernommen hat. Sie war jetzt missgestimmt, Ellen Stein. Nicht etwa durch die kleinen Erlebnisse von vorhin, die die üblichen für eine alleingehende Dame in dieser Gegend und um diese Tageszeit waren, und die sie nicht einmal besonders tragisch nahm. (Ja sie dachte sogar manchmal: ‚was würde sein, wenn ...? Und was sind das wohl für Menschen?

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