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Carl Laemmle
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eBook350 Seiten5 Stunden

Carl Laemmle

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Über dieses E-Book

Cristina Stanca-Mustea erzählt die schier unglaubliche Biografie Carl Laemmles (1867-1939), der 1884 als mittelloser 17-Jähriger aus demschwäbischen Laupheim nach Amerika auswanderte, der Gründer Hollywoods wurde und zu einem der ganz Großen derFilmindustrie aufstieg. Er war es, der Universal Pictures ins Leben rief und Filme wie `Dracula´, `Frankenstein´, `Das Phantom der Oper´ und `Im Westen nichts Neues´ produzierte.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum22. Jan. 2016
ISBN9788711449493
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    Buchvorschau

    Carl Laemmle - Cristina Stanca-Mustea

    Weekly.

    1. Kapitel

    In Laupheim

    1867–1883

    Der »Laupheimer Verkündiger« fragte in einem Artikel aus dem Jahre 1923 seine Leser voller Stolz: »Und warum kommt Carl Laemmle jedes Jahr zur Sommerzeit nach Laupheim? Weil er es liebt! Er liebt seine Bewohner, jede Straße, jede Gasse, jedes Winkelchen. Das Band, das ihn mit dem Leben verknüpft, kann nicht stärker sein als das, welches ihn mit der Heimat verbindet.«

    Dieser kleine Auszug beschreibt vielleicht am treffendsten die Verbindung, die Carl Laemmle zu seiner Heimatstadt hatte. Er wurde nicht nur in Laupheim geboren und lebte dort gern, er war von ganzem Herzen ein »Laupheimer«. Obwohl er sich entschlossen hatte auszuwandern und er die meiste Zeit seines Lebens auf der anderen Seite des Ozeans weit entfernt von Laupheim verbrachte und später auch die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm, änderte sich seine Verbundenheit zu seiner Heimatstadt nie. Carl Laemmles Lebensgeschichte kann man daher nur erklären, wenn man die Bedeutung von Laupheim für sein Leben versteht: Laupheim verkörperte für Laemmle nicht nur seine Vergangenheit, Kindheit und Jugend, sondern bildete auch die Grundlage für seine Identifikation mit der deutsch-jüdischen Gemeinschaft.

    Die Tatsache, dass er so häufig wie nur möglich nach Laupheim zurückkehrte, zeigt auch, dass die Verbindung zwischen ihm und seinem Geburtsort mit den Jahren sogar noch stärker wurde. Beinahe jedes Jahr besuchte er Laupheim, denn die Stadt war für ihn emotional genauso bedeutsam wie Universal City, die Studiostadt, die er selbst in den Hollywoodhügeln Kaliforniens erbauen ließ.

    Seine jährlichen Besuche in Deutschland waren ein besonderes Ereignis sowohl für seine Familie als auch für die Bewohner Laupheims. Immer wieder wurde er als alter Freund wie auch als internationaler Geschäftsmann willkommen geheißen. Während seiner Besuche weilte er zumeist im Gasthaus »Zum Roten Ochsen«, das in der Nähe seines Elternhauses stand. Dort traf er sich mit alten Bekannten und Fremden, die ihn zu begrüßen eilten, und nicht selten Gesuche an den berühmten Sohn Laupheims richteten. Carl Laemmle spielte dabei gern den »reichen Onkel aus Amerika«, dem es im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten gelang, seinen American Dream Wirklichkeit werden zu lassen. Sein Reichtum, sein Einfluss und seine Position in der amerikanischen Gesellschaft erregten die Bewunderung der Bewohner seines Geburtsortes.

    Laemmles Unterstützung für die Menschen in Laupheim verschaffte ihm hohes Ansehen unter seinen ehemaligen Nachbarn. Mit seinem Geld konnten Schulen, Parks, öffentliche Bäder und sogar Häuser für die Armen der Stadt gebaut oder wieder errichtet werden. Sein größter Beitrag war jedoch seine Unterstützung der Laupheimer Gemeinde nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Er stellte Essen, Kleidung und Geld für die Einwohner der Stadt zur Verfügung und half ihnen, die Stadt, die zwar nicht vom Krieg zerstört wurde, dennoch aber in den Kriegsjahren gelitten hatte, wieder aufzubauen. Der »Laupheimer Verkündiger« schrieb: »Wir vergessen nicht, wie es war nach dem Krieg: Nur Not, kein Brot, Krankheit und Elend. Carl Laemmle aber hatte immer ein offenes Herz für seine Vaterstadt. Wir vergessen es nicht!« Angesichts seiner Philanthropie wurde er von der Stadt Laupheim im Jahr 1919 zum Ehrenbürger ernannt. Schließlich wurde eine der großen Straßen zu seinen Ehren »Carl-Laemmle-Straße« genannt.

    Aber auch er geriet mit den Nationalsozialisten in Konflikt und war in seinen letzten Lebensjahren nicht imstande, nach Laupheim zurückzukehren, da er ab 1933 nicht mehr nach Deutschland einreisen durfte. Doch Laemmle kannte den Schuldigen. Für das Einreiseverbot machte er niemals Laupheim, sondern lediglich die NSDAP verantwortlich. Das zeigt sich auch darin, dass er in seinen letzten Lebensjahren eine Stiftung in Höhe von 100000 Dollar für Laupheim ins Leben rief. In seinem Testament forderte Laemmle zudem seine Kinder auf, seine Tätigkeit fortzuführen und die deutschen, besonders die Laupheimer Juden, die ihre Hilfe benötigten, zu unterstützen und ihnen zu helfen.

    Auch auf seinem Sterbebett richtete Carl Laemmle seine letzten Gedanken an Laupheim. Laemmles Sohn, Carl Laemmle Jr., erinnerte sich: »Er hat Laupheim geliebt und sich an so viele Leute, an so viele Plätze erinnert ...« Seine Verbundenheit mit der Heimat wurde weder durch die Zeit noch durch die politischen Umstände jemals geschwächt. Er war mit ganzem Herzen bis zum Ende seines Lebens ein wahrer »Laupheimer«.

    Die deutsch-jüdische Gemeinde in Laupheim

    Carl Laemmles Geburtsstadt Laupheim war um 1860 ein kleines Städtchen, wie es viele in Württemberg gab. Die Bevölkerung der Stadt bestand wie in dieser Zeit üblich aus Katholiken, Protestanten und Juden. Das einzig Beachtenswerte an Laupheim war die hohe Anzahl an jüdischen Einwohnern. Darin unterschied sich die Stadt deutlich von ihren Nachbargemeinden. Aufgrund des hohen Anteils jüdischer Bürger war Laupheim eine der wichtigsten und größten jüdischen Gemeinden im Süden Deutschlands.

    Die jüdischen Einwohner waren in vielerlei Geschäfte involviert. Sie handelten mit Gewürzen, Pferden und Rindern. Einige von ihnen waren Pelzhändler. Am 25. April 1828 erließ das Königreich Württemberg das »Gesetz in Betreff der öffentlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen«, auch Gleichstellungsgesetz genannt. Damit wurden alte Verbote, die den Juden bezüglich ihrer Arbeit auferlegt worden waren, zurückgenommen. Bis zu diesem Gesetz war den Juden in Württemberg die Ausübung von akademischen und handwerklichen Berufen verboten. Danach wurde zwar ein Berufsfindungsprogramm aufgelegt, das Juden vorzugsweise in handwerkliche Berufe bringen sollte, doch lebten die Laupheimer Juden noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts vorwiegend vom Handel. Teilweise blieb ihnen auch nichts weiter übrig, weil sie auch weiterhin nicht in die Handelsgilden und Zünfte aufgenommen werden durften.

    Trotz dieser Restriktionen war Laupheim zu jener Zeit ein Paradebeispiel an jüdischer Integration. Durch das Gleichstellungsgesetz war es den Juden in Laupheim erlaubt, eigenes Land zu besitzen, in der Landwirtschaft zu arbeiten und zum Militärdienst eingezogen zu werden. Bis 1824 hatte die jüdische Gemeinschaft in Laupheim eine Schule gebaut und mehrfach die alte Synagoge erweitert, die 1771 ursprünglich am Marktplatz auf dem »Judenberg« errichtet worden war. Im Jahr 1864 erhielten die Juden das Wahlrecht, und sie durften ihre eigenen Repräsentanten in den Gemeinderat wählen. Dies führte sowohl zu einigen Spannungen zwischen den Juden und den anderen Einwohnern Laupheims, als auch zu Berührungspunkten. Beides waren zwei geschlossene und separierte Gesellschaften, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zwar nebeneinander existierten, allerdings wenig Austausch hatten. Seit Jahrhunderten waren die jüdischen Gemeinden aufgrund ihres Äußeren als solche zu erkennen. Ihr Erscheinungsbild bestimmte die Art und Weise, wie sie behandelt wurden, beziehungsweise ob sie akzeptiert oder ausgeschlossen wurden. Ihre Kleidung, Tradition, Häuser, Sprache, Gebete und Erscheinung machten sie – rein äußerlich – zu einer eigenständigen Gruppe innerhalb einer Dorfgemeinschaft. Nun, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, änderte sich das. Beide Seiten machten einen Schritt aufeinander zu. Dies hatte eine positive Auswirkung auf die Gesellschaft, Politik und nicht zuletzt auch auf die Wirtschaft beider Seiten. Die neue Politik führte zu einer höheren Integration und Toleranz in Laupheim:

    »Darum konstatieren wir ... mit allem Nachdruck, dass in unserem Laupheim die ächte, wahre und wirkliche Toleranz im besten Sinne des Wortes allseitig zur Geltung gekommen ist. Eine jede Konfession übt unbehindert und unangefochten ihre Rechte und Pflichten, so dass niemals ein Zwiespalt zu Tage getreten ist. Daher kommt es auch, dass der Verkehr zwischen allen Konfessionen ein reger und ungetrübter ist, ohne dass je an dem Konfessionellen gerührt würde. Selbst bei der äußerlichen Feier der konfessionellen Festtage und Festgebräuche wird immer die gegenseitige Achtung und Harmonie gewahrt, so dass andere Städte hier das schönste Beispiel wirklicher Toleranz nachzuahmen finden könnten.«

    Die soziale und wirtschaftliche Emanzipation führte zu einem Prozess der Säkularisierung. In Laupheim gingen die Spannungen und antisemitischen Reaktionen mit der Zeit zurück, verschwanden letztlich aber nicht. Trotz der Toleranz und Offenheit gegenüber den Laupheimer Juden waren die Ereignisse um die Reichspogromnacht im November 1938 von zerstörerischem Ausmaß wie andernorts auch.

    Carl Laemmles Kindheit

    Mitten im Ersten Weltkrieg und unmittelbar vor dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten im Jahr 1917 feierte ganz Laupheim Carl Laemmles 50. Geburtstag. Der 17. Januar, der Tag, an dem Laemmle geboren worden war, wurde in seiner Heimat zum Carl-Laemmle-Tag. Beinahe jeder, der ihn auch nur entfernt kannte, wurde zum feierlichen Festessen eingeladen, denn Carl Laemmle liebte große Festgesellschaften. Wenn er an seine Nachbarn und Bekannte aus Laupheim dachte, so bezeichnete er sie vielmehr als seine erweiterte Familie.

    Fünfzig Jahre zuvor, am 17. Januar 1867, konnte sich jedoch niemand vorstellen, dass das Kind armer jüdischer Eltern, das an diesem Tag geboren worden war, einmal einen derartigen Bekanntheitsgrad erlangen würde. Carl war das zehnte Kind des jüdischen Kaufmannes Julius Baruch Laemmle und seiner Frau Rebekka. Ihm war es beschieden, berühmter zu werden als die ganze Stadt und als die jüdische Synagoge. Obwohl Carl in einer Zeit geboren wurde, in der die jüdische Wirtschaft aufblühte und die Integration der Juden in Laupheim weit vorangeschritten war, verbrachte er seine Kindheit in Armut. Sein Vater Julius Laemmle handelte zwar mit Vieh und war auch an einigen Grundstücksgeschäften beteiligt, doch reich waren die Laemmles nicht. Als Carl zur Welt kam, war sein Vater bereits 47 Jahre alt und kämpfte stetig mit dem harten Alltag, um seine Familie über die Runden bringen zu können. Carls Mutter Rebekka Laemmle wurde 1831 geboren und war elf Jahre jünger als ihr Gatte. Alle nannten sie nur bei ihrem Spitznamen »Babette«. Ihr Lebensinhalt konzentrierte sich auf die Erziehung ihrer zahlreichen Kinder.

    Carl wurde wie seine Geschwister zu Hause geboren. Er kam am 17. Januar 1867 gegen neun Uhr am Morgen auf die Welt. Eine Woche später, am 25. Januar, wurde er nach jüdischer Tradition von Aron Wolf Straus in Gegenwart der Familie beschnitten.

    Der junge Laemmle wuchs in einer Großfamilie aus vielen Geschwistern, Onkeln und Tanten auf. Doch unglücklicherweise überlebten nur vier der zwölf Laemmle-Geschwister die Kindheit. Die Geschwister, mit denen Carl aufwuchs, waren sein ältester Bruder Joseph, der 1854 geboren worden war, der vier Jahre ältere Siegfried, die 1864 geborene Karoline und sein jüngerer Bruder Louis, der im Jahr 1870 das Licht der Welt erblickte. Während sechs seiner Geschwister vor seiner Geburt bereits verstorben waren, verschieden zwei weitere Geschwister zu Laemmles Lebzeiten.

    Die Familie besaß ein Haus in der Radstraße 9 auf dem sogenannten Laupheimer »Judenberg« nahe dem Gasthaus »Zum Ochsen«, dem traditionellen jüdischen Gasthaus. Das Haus der Laemmles war nicht sonderlich beeindruckend, doch erfüllte es seinen Zweck und gab der Familie ein Dach über dem Kopf. Später, als Carl Laemmle bereits zu einer Berühmtheit aufgestiegen war, wurde das Haus mit seinem kleinen Garten auch als »Villa Laemmle« bezeichnet. Hier verbrachte Carl die meiste Zeit, wenn er Laupheim besuchte.

    Als er sieben Jahre alt war, wurde Carl in die jüdische Schule geschickt, die er vier Jahre lang, von 1874 bis 1878, besuchte. Danach ging er auf die Lateinschule, die in Laupheim die weiterführende Schule darstellte. Um an dieser Schule angenommen zu werden, musste Carl zwei Voraussetzungen erfüllen. Zunächst musste er das Zulassungsexamen bestehen, das aus einem Leseverständnistest auf Deutsch und Latein, einem Diktat auf Deutsch und Latein sowie aus einer Prüfung in Arithmetik bestand. Die zweite Voraussetzung bestand darin, dass seine Eltern Schulgebühren entrichten mussten, die nicht unbeträchtlich waren.

    Das Lehrprogramm der Lateinschule beinhaltete vor allem eine Erziehung im Sinne der klassischen Bildung. Neben dem Erlernen von Latein, das 14 Wochenstunden einnahm, wurde Carl Laemmle drei Wochenstunden in Deutsch und vier in Arithmetik unterrichtet. Zu diesen drei Hauptfächern kamen jeweils ein oder zwei Stunden Geschichte, Erdkunde, Rechtschreibung und Religion hinzu. Der Unterricht in Religion wurde dabei bald von den christlichen Kirchengemeinden oder von der Synagoge übernommen, so dass Laemmle weitere Wochenstunden in Deutsch und Arithmetik besuchen konnte.

    Obwohl Laemmle immerhin 32 Wochenstunden Unterricht absolvieren und sich darauf auch noch vorbereiten musste, erinnerte er sich immer gern an seine Schulzeit. In einem Film, den er Jahre später über seine Heimatstadt produzieren sollte, baute er ein kleines Gedicht voller Melancholie und schöner Erinnerungen ein: »Als ich ein kleiner Junge war / Mit kurzen Hosen und langem Haar / Ging ich in’s Schulgebäude hin / Mit frohem Mut und heiterm Sinn / Ach, lang ist’s her – der Weg war weit, / Den ich gegangen in der Zwischenzeit / Ich arbeitete schwer, rastete nie / Jungens von Laupheim / Ich sag’s Euch wie!«

    Laemmle war kein außergewöhnliches Kind. Wie alle anderen auch spielte er auf der Straße oder ging mit Freunden im nahen Bach schwimmen oder fischen. Als man sie später befragte, konnten seine Schulkameraden sich mit dem besten Willen nicht daran erinnern, dass Carl Laemmle in irgendeiner Weise aufgefallen wäre. Wie es bei ärmeren Familien dieser Zeit üblich war, musste Carl die Schule schon früher verlassen. Eine Ausbildung seines Sohnes von der Grundschule bis zum Gymnasium konnte sich Julius Laemmle schlicht und ergreifend nicht leisten. Statt der üblichen drei oder vier Jahre durfte er nur zwei Jahre die Lateinschule besuchen. Danach sollte er sich etwas Praktischerem zuwenden. Für Carl Laemmle begann somit 1880 der Ernst des Lebens.

    Die finanzielle Situation der Familie zwang den 13 Jahre alten Carl, sich nach einer Anstellung umzuschauen. Dabei spielte seine Mutter Rebekka eine entscheidende Rolle. Sie widmete sich zwar fast ausschließlich den häuslichen Pflichten sowie der Kindererziehung, dennoch hatte sie einen ausgeprägten Sinn für die Realität und galt als kluge und verantwortungsbewusste Frau. Über einen Cousin gelang es ihr, eine dreijährige Ausbildung für Carl zu arrangieren. Hierzu musste der Junge nach Ichenhausen, das etwa 50 Kilometer entfernt in Bayern lag. Für Rebekka war es normal, dass sie solche Entscheidungen für ihre Kinder traf. Sie war es auch, die am 26. April 1880 gemeinsam mit dem jungen Carl in Richtung Ichenhausen aufbrach, um seinen künftigen Arbeitgeber, die Familie Heller, zu treffen. Die Hellers besaßen dort einen Gemischt- und Handelswarenladen. Dort sollte Carl eine Kaufmannslehre absolvieren. Es fiel dem jungen Laemmle schwer, Abschied von der Mutter, seiner Familie, den Freunden und der Laupheimer Gemeinschaft zu nehmen. War er doch 1880 noch ein halbes Kind, wenngleich er der jüdischen Tradition zufolge nun dem Erwachsenenalter angehörte. Doch Rebekka Laemmle war sehr bestimmend, und Carl fügte sich in sein Schicksal.

    Laemmle blieb keine andere Wahl. Er musste sich mit seinem neuen Leben anfreunden und an den Alltag in der fremden Familie gewöhnen, die ihn als Lehrling aufgenommen hatte. Dabei waren die Hellers sehr freundlich zu Carl und beobachteten mit großem Wohlwollen seine Fortschritte. Sie brachten ihm einen großen Vertrauensvorschuss entgegen, bis Carl schließlich vom Laufburschen zu einem ausgezeichneten Buchhalter herangewachsen war. Die Hellers vertrauten ihm so sehr, dass sie ihn schließlich auch auf Geschäftsreisen mitnahmen. Betrachtet man Laemmles Leben insgesamt, so war seine Ausbildung in Ichenhausen in dem kleinen Handelsgeschäft der Hellers von großer Bedeutung für alles, was er später als Filmproduzent und Leiter eines großen Studios tat. An eine solche Karriere war jedoch damals noch nicht zu denken. Für den Moment sah es so aus, als würde sich der Wunschtraum seiner Mutter erfüllen. Nach dem Ende seiner Ausbildung im Jahr 1883 hatte Carl Laemmle ein gutes und inniges Verhältnis zur Heller-Familie und dachte darüber nach, auch weiterhin dort – dann aber als fester Angestellter – zu arbeiten. Auch seine Mutter riet ihm dazu, seiner Karriere bei den Hellers nachzukommen. Sie wünschte sich, dass er einmal bis zum Geschäftspartner aufsteigen und sich fest in Ichenhausen niederlassen würde.

    Im Alter von 16 Jahren sah Laemmles Welt gar nicht so schlecht aus. Er hatte bereits einige Berufserfahrung – und vor allem einen großen Ehrgeiz. Ihm gefiel es, als Buchhalter bei den Hellers zu arbeiten und in seiner Freizeit besuchte er die nahe gelegene Stadt Ulm – die größte Stadt im ganzen Umkreis. Vor allem aber nutzte er jede Möglichkeit, um nach Laupheim zurückzukehren.

    Doch Ende des Jahres 1883 nahm Carls Leben, das bereits vorbestimmt und durchgeplant erschien, eine scharfe Wendung. Im September wurde seine Mutter sehr krank. Sie starb nach einer misslungenen Operation am 3. Oktober 1883 im Alter von 52 Jahren. Rebekka Laemmle wurde auf dem jüdischen Friedhof in Laupheim begraben. Ihr plötzlicher Tod war für die Familie ein schwerer Schlag. War sie doch sowohl das Herz als auch der planende Verstand der Familie, der sie bislang zusammengehalten und durch alle Krisen geführt hatte. Für Carl, der seiner Mutter sehr nahe stand, war ihr Tod eine Tragödie. Er hatte zwar immer auch ein gutes Verhältnis zu seinem Vater gehabt, aber aufgrund des großen Altersunterschiedes war ihm die Mutter immer näher gewesen. Dass sie so plötzlich aus dem Leben gerissen wurde, traf den jungen Laemmle hart. In Laupheim erinnerte ihn alles an seine Mutter, hier wollte und konnte er nicht mehr bleiben.

    2. Kapitel

    Der Einwanderer

    1884–1906

    Der Tod von Rebekka Laemmle bedeutete einen Wendepunkt in seinem Leben. Ihr hatte er immer versprochen, in der Heimat zu bleiben. Nun war sie gegangen, und Carl fühlte tief in seinem Inneren, dass er zu einem neuen Leben aufbrechen musste. Seine Trauer zog ihn in die Ferne, und er beendete seine in Ichenhausen begonnene Laufbahn, die im Grunde nur der Plan seiner Mutter gewesen war, nie sein eigener. Nun wollte seinem Instinkt folgen, weggehen und sein Glück woanders versuchen.

    Nur wenige Wochen nach der Beerdigung seiner Mutter stellte Carl Laemmle daher den Antrag, aus der deutschen Staatsbürgerschaft entlassen zu werden. Nun war er fest entschlossen: Er wollte auswandern und den vielen Millionen Deutschen folgen, die ihr Glück in Nordamerika versuchten!

    Am 19. Dezember 1883 erhielt er schließlich die ersehnten Papiere, die bestätigten, dass er das Deutsche Reich verlassen und auswandern durfte. Ihm stand es nun frei, es seinem Bruder Joseph gleich zu tun und in die Vereinigten Staaten zu gehen.

    Obwohl die Entscheidung zur Auswanderung nach dem Tod der Mutter nachträglich wie übers Knie gebrochen wirkt, hegte Laemmle bereits zuvor Gedanken an ein Leben in der Neuen Welt. Ausgelöst wurden diese Überlegungen von seinem älteren Bruder Joseph. Er hatte Deutschland schon vor über 10 Jahren, im Jahre 1872, in Richtung Amerika verlassen. Damals war Carl noch ein Kind, kaum fünf Jahre alt, und er erinnerte sich nur dunkel an seinen Bruder. Was er aber mitbekam, waren die vielen Briefe, die Joseph regelmäßig an seine Familie schickte. Darin beschrieb er die Wunder und Besonderheiten des amerikanischen Alltags, die er in der Neuen Welt erlebte. Besonders beeindruckt war der in Chicago lebende Joseph Laemmle von der Schönheit der Natur, den weiten Prärien, der Möglichkeit, eigenes Land zu besitzen, und den schnell wachsenden, gewaltigen Städten. Josephs Briefe wiederum imponierten dem jungen Carl sehr. Sie spielten eine große Rolle dabei, den Entschluss zur Auswanderung in Carl Laemmle reifen zu lassen.

    Die sogenannten »Amerikabriefe« der deutschen Überseeauswanderer waren weit verbreitet in Deutschland. Von Beginn des 19. Jahrhunderts an bis zum Ersten Weltkrieg wanderten insgesamt über 5,5 Millionen Deutsche nach Nordamerika aus. Die meisten von ihnen schrieben zurück in die alte Heimat. Teilweise übertrieben die Auswanderer in ihren Schilderungen, um ihren Entschluss vor der Familie zu rechtfertigen, in Deutschland aber galten die Informationen über die Vereinigten Staaten, die man von einem Familienmitglied erhielt, als wahrheitsgemäße Beschreibung aus erster Hand. Die Briefe lieferten in den Augen der Daheimgebliebenen exakte Details, was einen Auswanderer in Nordamerika erwarten würde, auch wenn die Wirklichkeit der Einwanderer in den Ghettos und Quartieren der großen Städte oft anders aussah.

    Die Tatsache, dass Joseph Laemmle seit seiner Auswanderung nie wieder nach Hause zurückgekehrt war, verlieh ihm innerhalb der Familie Laemmle einen legendären Status. Was er schrieb, kam bei den Laemmles einem Mythos gleich, an den sie fortan glaubten. Nicht selten wurde das Eintreffen seiner Briefe mit viel Trubel gefeiert, und auch der junge Carl erlebte diese »Familienereignisse« seine gesamte Kindheit und Jugend lang stets mit.

    Doch die Laemmles waren damit nicht allein. Mit großer Macht beeindruckten die »Amerikabriefe« nicht nur Carl und seine Familie, sondern alle Auswanderungswilligen. Beinahe jeder kannte einen Auswanderer, hoffte und bangte mit ihm und wartete auf Post. So erhielten auch die Nachbarn der Laemmles Briefe von ihren amerikanischen Verwandten, die das, was Joseph geschrieben hatte, auf ihre Weise bestätigten. Manche Briefe enthielten auch direkte Aufforderungen, die Daheimgebliebenen ebenfalls zur Migration zu ermutigen und ihnen in »das Land der unbegrenzten Möglichkeiten« zu folgen.

    Heute sind sich die Historiker einig: Keine Werbeagentur hätte die auswanderungswilligen Deutschen effektiver zum Verlassen der Heimat bewegen können als die Briefe der Verwandten, Bekannten und Freunde aus Amerika. Sogar kritische Briefe lösten Begeisterung aus und hatten keine negative Auswirkung auf den Auswanderungswilligen.

    Durch Josephs Briefe wuchs Carl gewissermaßen damit auf, sich Amerika als ein magisches Land vorzustellen, das unfassbar weit entfernt lag und geradezu märchenhafte Züge besaß. Hätte es die Briefe nicht gegeben, Laemmle hätte fast an der Existenz von Amerika gezweifelt. Auch wenn Carl stets im Stillen gehofft hatte, die Wunder von Amerika einmal mit eigenen Augen sehen zu können, erstickte seine Mutter solche Erwartungen schon im Keim. Sie wollte auf keinen Fall ein weiteres Kind an Amerika verlieren. Carl sollte zu Hause bleiben und eine anständige Ausbildung erhalten. Deshalb kümmerte sie sich nicht nur darum, dass Carl eine gute Anstellung in der Region fand, sondern rang ihm zusätzlich das Gelübde ab, niemals an Auswanderung zu denken, solange sie noch lebte. Da Carl zu jung war, um zu verstehen, was Amerika war und Auswanderung bedeutete, gab er seiner geliebten Mutter dieses Versprechen.

    Doch damit verschwand keineswegs seine Begeisterung für Amerika. Angeregt durch Josephs Briefe wollte er bald mehr über das ferne Land erfahren. Als er in Ichenhausen bei den Hellers seiner Ausbildung nachging, besorgte er sich Bücher und Groschenhefte über die Vereinigten Staaten, über Cowboys und über Indianer. Wie viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene in seiner und den nachfolgenden Generationen flüchtete er sich in seiner Fantasie in den Wilden Westen und erlebte dort Abenteuer. Je mehr er las, desto mehr wünschte er sich, Amerika einmal mit eigenen Augen zu sehen. Eine zentrale Rolle spielten dabei seine Vorstellungen von den Indianern. Carl Laemmle wollte unbedingt einmal in seinem Leben einem »echten« Indianer begegnen.

    Nach dem Tod seiner Mutter fühlte sich Carl nicht mehr länger an sein Wort gebunden. Er war frei zu gehen. Und er wusste, dass seine Zukunft weder in Laupheim noch in Ichenhausen lag. Brav hatte er seine Ausbildung abgeschlossen, doch nun wollte er sich jenen Träumen hingeben, die er seit Kindheitstagen in sich trug. Er wollte nach Amerika. Er verabschiedete sich von den Hellers und bereitete sich auf die Auswanderung vor. Dabei glaubte Carl fest daran, dass ihn sein älterer Bruder unter die Fittiche nehmen würde. So fiel es ihm leicht, den schwerwiegenden Entschluss zu fassen. Er würde in Amerika nicht allein sein und rechnete damit, dass Joseph ihn in die Gesellschaft der Neuen Welt einführen würde. Von ihm würde er alle notwendigen Auskünfte über Miete, Arbeit und Verkehr erhalten.

    Carl Laemmle war auch in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Viele Auswanderer immigrierten als Familie, Verein oder sogar ganzes Dorf. Oder sie wanderten zu einem Verwandten beziehungsweise Bekannten, der bereits zuvor übergesiedelt war. Dieses Phänomen der Kettenwanderung bestimmte weite Teile der deutschen Überseeauswanderung im 19. Jahrhundert.

    Die weiteren Schritte der Auswanderung dauerten nicht lange, nachdem Laemmle die Entlassung aus der deutschen Staatsbürgerschaft im Dezember 1883 erhalten hatte. Im Prinzip fehlte es ihm nur am nötigen Geld, die Überfahrt zu finanzieren. Die notwendige Hilfe und Unterstützung kam von Laemmles Vater, der die Entscheidung des Jungen verstand und akzeptierte. Er half ihm, die notwendige Summe, die Carl sowohl als Garantie hinterlegen als auch für die Überfahrt bezahlen musste, aufzubringen. So schenkte Julius Laemmle seinem Sohn zu dessen 17. Geburtstag im Januar 1884 einen Fahrschein, mit dem er auf einem Dampfschiff von Bremerhaven nach New York reisen konnte. Obwohl es heute schwierig ist, die Beziehung von Vater und Sohn nachzuzeichnen und Carl sich wohl eher zu seiner Mutter hingezogen fühlte, unterstützte ihn der Vater nach Kräften. Neben dem nötigen Geld für die Passage stand Julius Laemmle seinem Sohn vor allem moralisch bei. Bevor Carl aufbrach, schrieb Julius für seinen Sohn ein Gedicht mit Ratschlägen, dessen Inhalt ihn durch sein weiteres Leben führen sollte:

    Vertrau auf Gott wie auf Lebens Freuden

    Die letzte auch Dich zu verlassen droht.

    Wenn Dir die Gegenwart nur unter Leiden

    Die Zukunft Dir erscheint als Bild der Noth

    Vertrau auf Gott, der unsichtbar Dich schützet.

    Sein Kind verlässt der gute Vater nicht.

    Er weiß am besten was Dir nützet

    Und ewig hält er was er Dir verspricht.

    Mögen Dich, lieber Karl diese Zeilen

    Manchmal erinnern an Deinen Dich

    Liebenden treuen

    Vater Julius.

    Am 28. Januar 1884 war es schließlich soweit. Voller Aufregung, aber entschlossen verabschiedete sich Carl Laemmle gemeinsam mit seinem Schulfreund Leo Hirschfeld, der ebenfalls auswanderte, von seinem Vater am Laupheimer Bahnhof. Dann bestieg er den Zug in Richtung Stuttgart und begann das Abenteuer seines Lebens. Carls Bruder Siegfried begleitete die beiden bis in die württembergische Hauptstadt. Von dort mussten Carl und Leo allein ihren Weg nach Bremerhaven finden. Drei Tage später, am 31. Januar 1884, befanden sich die beiden Schulfreunde an Bord des Dampfers S.S. Neckar, der sie nach New York bringen sollte. In diesen Tagen waren sie weiter gereist als jemals zuvor in ihrem Leben.

    Bremerhaven war ein belebter Ort. Er quoll von Auswanderern nahezu über. Menschen aus allen Ecken und Enden Deutschlands und Europas waren aus den unterschiedlichsten Gründen in die Hafenstadt gekommen, um nach Nordamerika auszuwandern, alle aber hofften, dort ein besseres Leben zu finden. Viele hatten noch keinen Fahrschein für die Überfahrt oder mussten auf ihre Schiffe warten und schliefen solange in Baracken und Hallen, die für die Auswanderer im Hafengebiet errichtet worden waren.

    Carl und Leo besaßen jedoch schon ein Ticket, und so blieb es ihnen erspart, länger in Bremerhaven verweilen zu müssen. Das Schiff, das sie nach Amerika bringen sollte, gehörte dem Norddeutschen Lloyd, der in den Jahren von 1874 bis 1886 regelmäßig zwischen Bremerhaven und New York verkehrte. Der Dampfer war über 106 Meter lang, knapp 13 Meter breit und konnte 144 Passagiere in der ersten Klasse, 68 in der zweiten Klasse und 502 in der dritten Klasse im Zwischendeck befördern, wo die meisten Amerikaauswanderer ihren Platz hatten und in gemeinsamen Schlafräumen die Überfahrt

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