The Great World Game
Von Örjan Persson
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Buchvorschau
The Great World Game - Örjan Persson
Saga
1
Die einzigen Geräusche im Zimmer waren das leise Klicken der Maus und ein Rauschen vom Computer. Foxie lag neben Tobias’ Füßen und seufzte hin und wieder im Schlaf.
Es war ein dunkler Novemberabend, es schneite ununterbrochen und Tobias hätte eigentlich für die Mathearbeit am nächsten Tag lernen sollen. Das erste Halbjahr in der Neunten war für ihn nicht so prima gelaufen. Deshalb saß er mit schlechtem Gewissen vor dem Computer und surfte ein bisschen durchs Netz.
Er hatte gerade beschlossen, den Computer auszumachen und das Mathebuch herauszuholen, als es passierte. Ein paar Worte in riesiger, schwarzer Schrift bedeckten den Bildschirm: The Great World Game.
»Das große Weltspiel«, übersetzte Tobias. Ein Gratis-online-Spiel. Das war spannend. Er klickte sich ein. Aus den Lautsprechern kam ein leises Rauschen, wie wenn der Wind an einem dunklen Herbstabend durch die Bäume fährt, dann wurde der Bildschirm pechschwarz.
Plötzlich blitzte ihn ein weißer Text an: Danger!
Gefährlich. Aha. Was war denn gefährlich?
This is a Virtual Reality Game, stand als nächste Textzeile da.
Prima, dachte Tobias, da kann ich endlich die 3D-Maus einsetzen. Foxie war aufgestanden und knurrte den Bildschirm drohend an. Tobias spürte, wie es ihm kalt den Rücken hinunterlief und die Härchen an den Unterarmen sich aufstellten. Er befahl Foxie, still zu sein, und klickte mit gespannter Erregung auf das yes am unteren Rand. Ja, er war bereit. Es war richtig spannend!
Es dauerte eine Weile, bis etwas geschah. Tobias saß da und starrte konzentriert auf den leeren Bildschirm.
Allmählich baute sich ein Bild auf. Er befand sich in einem großen Raum mit Steinwänden. Tobias drehte sich um, und da das Spiel dreidimensional war, konnte er in alle Richtungen gehen. Kahle Wände. Worum es bei dem Spiel wohl ging?
Ammo 100%, Health 100%, Armor 100%.
Dann hielt er plötzlich eine Waffe in der Hand und hatte einen Helm auf und eine schusssichere Weste an. Ach so, diese Art von Szenario war ihm nur zu bekannt! Ein kleiner Lichtpunkt am Boden erregte sein Interesse, er ging hin und drückte auf die grüne Lampe. Eine schwere Steintür öffnete sich und vor ihm stand ein dunkelhaariger Soldat, der mit einem Maschinengewehr auf ihn zielte. Tobias gab rasch ein paar Schüsse ab und der Soldat sank stöhnend auf den Steinboden.
Ein typisches Shoot ‘em up-Game. Solche Spiele hatte Tobias schon unzählige Male gespielt, und er wusste genau, was er tun musste, um zu gewinnen. Man musste sich nur schnell und exakt durch das Fort schießen. Danach würde er Mathe lernen.
Die Grafik war erstaunlich gut gemacht und deutlich, das Blut, das dem toten Soldaten aus der Brust pumpte, war eklig lebensecht. Tobias ging weiter in den nächsten Raum. Aus einer Ecke stürzte sich ein großes, schwarzes Monstertier auf ihn. Er zielte und feuerte eine Salve ab. Scheiße! Er hatte daneben getroffen und das Tier warf ihn um. Auf dem Boden liegend, konnte er schließlich den Angreifer mit Blei abfüllen. Aber Tobias hatte 20% seines Health verloren und sehr viel Ammo, der Helm war ihm vom Kopf gefallen und rollte irgendwo in eine dunkle Ecke davon. Tobias stieg über das gefallene Untier. Er war überrascht, wie realistisch das Spiel war, er hatte das Gefühl, als würde er wirklich mit einer Waffe in der Hand dastehen.
Dann schaute er sich in dem neuen Raum um. Er sah genauso aus wie der erste. Vorsichtig suchte Tobias die Wände ab. Wo war die nächste Tür? Ja, da war ein Knopf. Er drückte ihn und stellte sich auf, bereit, alles zu töten, was sich bewegte. Ein Tor öffnete sich. Zwei Soldaten in den gleichen Uniformen wie der erste tauchten hinter einer Steinmauer auf und schossen auf ihn. Er erwiderte das Feuer und machte sie beide unschädlich.
Aber war es denn kein Internetspiel? Die Soldaten, denen er begegnet war, schienen zum Fort zu gehören. Irgendetwas an diesem Spiel war merkwürdig.
»Machst du einen Lärm«, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihm. »Kannst du bitte die Lautstärke ein bisschen runterdrehen?«
Sune, Tobias’ Vater, war ins Zimmer gekommen.
»No problem, Daddy«, sagte Tobias und drehte leiser.
»Hast du deine Hausaufgaben gemacht?«
»Alles unter Kontrolle. Ich habe ein saugutes Spiel aus dem Netz eingefangen. Es heißt ›The Great World Game‹. Ich spiele es nur noch zu Ende, dann lerne ich.«
»Ist gut. Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Sune ging zurück ins Wohnzimmer und sagte zu seiner Frau, dass er sich um Tobias ein wenig Sorgen mache. »Dieser Apparat schluckt ihn förmlich auf. Ich bereue fast, dass wir ihn gekauft haben.«
»Ich auch«, sagte Katarina. »Es scheint das Einzige zu sein, was ihn zurzeit interessiert. Aber ich denke, wir müssen einfach abwarten, irgendwann hat er auch wieder genug davon.«
Tobias war inzwischen im fünften Raum, hatte aber nur noch 60% Health. Wie viele Zimmer waren es wohl noch? Er musste sehr aufpassen, wenn er das Spiel gewinnen wollte.
Er öffnete die nächste Tür und stellte fest, dass er schon auf der anderen Seite des Forts war. Dort gab es viele Menschen. Sie hatten Feuer angezündet, um die Dunkelheit zu erhellen. Manche kamen mit verletzten, blutenden Menschen auf Bahren, manche schrien und heulten laut. Tobias erkannte den ersten Soldaten, den er getötet hatte, er lag auf einer Bahre und hatte einen blutigen Stofffetzen über der offenen Wunde in der Brust. Mausetot. Aber andere waren noch am Leben und jammerten laut. Die Sanitäter liefen barfuß zu den improvisierten Operationstischen.
Plötzlich schrie eine Frau und zeigte aufgeregt auf ihn. Sie redete in einer Sprache, die Tobias nicht verstand.
Dann brachen die Aktivitäten auf dem trockenen Sandplatz vor der Festung unvermittelt ab und die Menschen starrten ihn mit hasserfüllten Augen an.
Tobias drehte sich um und schaute in die Richtung, aus der er gekommen war. Es war wohl das Beste, den Rückzug anzutreten. Aber die Pforte hatte sich geschlossen, er stand auf einem schmalen Absatz vor der Wand, drei Meter über der Erde.
Die Leute unten näherten sich bedrohlich. Er zielte und schoss. Aber das Magazin war leer. Um der allergrößten Gefahr zu entgehen, warf er die Waffe gegen den ihm am nächsten Stehenden, einen kräftigen Mann in Uniform, der sich duckte und deshalb nicht getroffen wurde.
0% Ammo.
Tobias griff mit den Fingern in die steinerne Mauer über sich, fand jedoch keinen Halt. Er musste hinauf, weg von der Menschenmenge, sie würden ihn nicht entkommen lassen. Er zwängte sich aus der schweren, unbequemen Bleiweste. Mit der würde er niemals klettern können. Endlich fanden seine Finger Halt in den Ritzen zwischen den großen Steinblöcken der Mauer. Mit einer Kraft, die weit über den mageren 60% lag, die er gerade noch gehabt hatte, zog er sich nach oben, stieß mit seinem Fuß auf einen kleinen Vorsprung und war außer Reichweite der Menschen unter ihm. Aber warum trugen sie keine Waffen? Es wäre ein Leichtes gewesen, ihm eine Kugel zu verpassen, wie er da wehrlos an der Wand hing, er hatte ja überhaupt kein Armor mehr.
Als ob jemand seine Gedanken gelesen hätte, sauste ein Pfeil an seinem rechten Ohr vorbei und blieb in einer Ritze zwischen den Steinen neben seinem Kopf stecken. Die Soldaten in der Festung hatten doch Gewehre gehabt? Wenn er nur den kleinen Absatz einen Meter weiter rechts erreichen würde, wäre er vielleicht gerettet. Jedenfalls für den Moment. Ein weiterer Pfeil traf einen Stein und zersplitterte. Tobias packte den Schaft des ersten Pfeils, der sich tief in die Ritze gebohrt hatte, und für den Bruchteil einer Sekunde dachte er darüber nach, was passiert wäre, hätte er sein Ziel getroffen.
Tobias klammerte sich krampfhaft an den Pfeil. Hoffentlich hielt er! Tobias zog sich hoch, und es gelang ihm, auf den Vorsprung zu kommen. Gerade als er sich über den Rand rollte, hörte er eine Gewehrsalve und spürte ein Brennen im rechten Bein. Die Soldaten hatten offenbar ihre Maschinengewehre in Stellung gebracht. Er rollte sich noch weiter nach innen und bemerkte erleichtert, dass der Vorsprung so breit war, dass er nun außer Schussweite der Angreifer war.
Blut lief ihm die Wade herunter, und als Tobias das Hosenbein hochzog, stellte er fest, dass die Kugel auf einer Seite eingedrungen und auf der anderen wieder ausgetreten war. Aber zum Glück schien es nur eine Fleischwunde zu sein, der Knochen war offenbar unverletzt. Das Blut floss in Strömen. Tobias zog sein Hemd aus und versuchte, es in Streifen zu reißen, was gar nicht so einfach war. Aber schließlich gelang es ihm, einen halbwegs ordentlichen Verband anzulegen, den er so fest wie möglich zuzog. Dann erhob er sich auf die Knie und wollte vorsichtig über den Rand schauen. In dem Moment tauchte ein Gesicht hinter der Mauer auf, die Leute hatten offenbar eine Leiter angestellt. Blitzschnell war Tobias auf den Beinen. Er lief, so schnell er konnte, humpelte mit seinem verletzten Bein auf der Mauer entlang, bis zur Ecke der Festung. Er hörte die Leute schreien. Hatte er überhaupt noch eine Chance? Schnell drehte er den Kopf, um zu sehen, ob sein Verfolger bewaffnet war. Ein Sekundenbruchteil an Unaufmerksamkeit genügte, er stolperte über einen losen Stein und fiel über den Rand.
Er fiel und fiel, fiel immer tiefer.
2
Ammo 0%, Health 29%, Armor 0%. Keine Waffen, keine Munition und keinen Schutz mehr. Und mit der Gesundheit sah es sehr schlecht aus. Aber er lebte noch. Tobias spuckte den Sand aus, den er beim Aufprall in den Mund bekommen hatte. Er musste sehr tief gefallen sein, denn von der Stelle aus, an der er sich jetzt befand, konnte er das Fort nicht mehr sehen.
Es war immer noch ziemlich dunkel, aber sternenklar. In der Ferne war ein heller Lichtstreif zu sehen.
Als Tobias aufzustehen versuchte, spürte er ein Klopfen im rechten Bein. Schnell tastete er nach dem provisorischen Verband. Er war feucht, und Tobias schloss daraus, dass er blutdurchtränkt war. Die Wunde musste ordentlich verbunden werden, und dann würde Tobias versuchen, wieder nach Hause zu kommen. Verflucht, er hätte nicht so viele Schüsse auf das Monster im zweiten Raum vergeuden sollen. Zu Beginn hatte Tobias fünfzig Schuss Munition gehabt. Wenn er etwas sparsamer gewesen wäre, dann hätte er vielleicht noch die Maschinenpistole und die Munition. Was musste man tun, um noch mal von vorn anzufangen?
Er setzte sich wieder hin, der Schmerz im Bein ließ etwas nach. Direkt neben ihm war ein Rascheln zu hören, dann huschte etwas über sein Bein. Eine Maus. Wenn er sie nur erwischen und sich wieder an den Start klicken könnte! Tobias grapschte mit den Händen nach der Maus, bekam aber nur trockenen Sand zu fassen. Und überhaupt: Wie blöd war er eigentlich? Mit einer lebendigen Maus konnte man sich wohl nirgendwohin klicken! Er musste sich beim Fallen den Kopf gestoßen haben, dass er auf eine so bescheuerte Idee kam, und er war froh, dass niemand in der Nähe war und seine Hirnblockade beobachtet hatte.
Tobias fror. Es war nur wenige Grad über null und er hatte nur seine Jeans an. Aus dem Hemd hatte er ja den Verband gemacht. Er war barfuß, denn zu Hause trug er nie Schuhe.
Es wurde langsam hell. Nun konnte er schon sehen, dass der Verband ganz rot vom Blut war.
Tobias klapperte mit den Zähnen vor Kälte, aber als die Sonne endlich aufging, breitete sich ein befreiendes Wärmegefühl in seinem geschundenen Körper aus.
Tobias hatte schon viele Computerspiele gemacht, bei denen man schwierige Probleme lösen musste, und er konnte das ziemlich gut. Man musste nur logisch denken. Wenn seine Eltern meckerten, dass er so viel spielte, dann verteidigte er sich immer damit, dass man sehr viel dabei lernte.
Er analysierte also ganz ruhig die Situation.
Wie kommt man zum Start zurück? Dazu musste er wissen:
Wo war er? Und:
Wie bekam er Hilfe für sein verletztes Bein?
Um wieder mehr Health zu bekommen, mindestens 50%, brauchte er ärztliche Hilfe. Das war das Wichtigste. Der nächste Schritt war, sich wieder Ammo und Armor zu beschaffen. Um versorgt zu werden, musste Tobias freundlich gesinnte Menschen finden. Wenn es die nicht gab, war er verloren.
Er legte sich in der Sonne auf den Boden und versuchte, sich zu entspannen. Er vermisste Foxie.
Eigentlich war der kleine Terrier der Hund der ganzen Familie. Aber weil Tobias am meisten Spaß daran hatte, Foxie zu erziehen und ihm Kunststückchen beizubringen, war er faktisch sein Herrchen geworden. Foxie hieß ursprünglich anders, aber niemand wusste mehr wie; es stand bestimmt in seinem Papieren. Tobias hatte ihn so getauft, obwohl der Hund gar kein Foxterrier war, wie man vielleicht vermuten könnte, sondern ein Cairn Terrier. Foxie war graubraun, hatte eine kohlschwarze Schnauze und muntere braune Augen, die immer unter einem dicken Pony versteckt waren.
Wenn Tobias ganz ruhig lag, spürte er das verletzte Bein fast nicht. Die Sonne wärmte und taute seine durchfrorenen Glieder wieder auf. Nur noch ein Weilchen so liegen ...
Von einem plötzlichen Geräusch aufgeschreckt, zuckte Tobias zusammen, und er hielt die Hand über die Augen, um zu sehen, woher es kam.
»Du musst aufwachen«, sagte eine Stimme auf Englisch.
Tobias