Die Hegerkinder im Gamsgebirge
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Buchvorschau
Die Hegerkinder im Gamsgebirge - Alois Theodor Sonnleitner
1927.
Der Vormund.
Verklungen ist das hohe Getön der Glocke, die dem Heger Gschaider zuliebe die Asperner zur Trauerandacht gemahnt hat. Verhallt ist das dumpfe Aufprallen der Erdschollen, unter denen der Sargdeckel gedröhnt hat. Verlaufen haben sich die Befreundeten und Bekannten des Hingeschiedenen.
Aber nicht versiegt sind die Tränen der vier Hegerkinder. Noch können sie es nicht fassen, dass sie nun ganz verwaist sind.
Im vorigen Winter ist ihnen die Mutter gestorben. Im Herbste hatte sie an Sumpffieber gelitten. Da war es dem Arzte gelungen, sie durch reichliche Chinin-Gaben vom Fieber zu befreien. Aber als Nachkrankheit hatte sich eine Erkrankung der Milz eingestellt, die er nicht zu heilen vermochte. Damals war die Bestrahlung mit Röntgenlicht noch nicht bekannt.
Und jetzt stehen die Kinder am Grabe des Vaters, der als Opfer seiner Pflichttreue gefallen ist. Ein Milderer hatte eine Rehgeiss in der Drahtschlinge gefangen. Beim Aufnehmen der zu Tode gequälten Beute war er vom Heger ertappt worden. Er hatte sich mit dem Messer gegen die Festnahme gewehrt und den Heger tödlich verwundet.
Abseits vom offenen Grabe steht Herr Dressler, der Student, im Schatten einer Hängebuche, ein dankbarer Freund des Verstorbenen, den Waisen ein Freund in der Not. Er wartet, bis die Kinder sich ausgeweint haben.
Er hat es übernommen, sie zum Moasen-Thomerl zu geleiten, dem braven Flickschuster, der sich das Recht gesichert hat, als Vormund für die Waisen zu sorgen. Der ist mit seinem Töchterl, der Regerl, längst voraus heimzu, den Hegerkindern eine Mahlzeit zu bereiten. Sommerlich warm brennt die Sonne auf den Friedhof nieder. Sie entlockt den Zypressen und Segenbäumen herben Harzduft. Schmetterlinge umgaukeln die Rosen und Ringelblumen auf den Gräbern, Eidechsen sonnen sich auf bemoosten Grabsteinen; leises Bienengesumm macht die Luft klingen. Das Schluchzen der Liesel und Sepperls wimmerndes Weinen ist aufdringlich hörbar. Bertel und Franzel haben wohl feuchte Augen, aber ihre Lippen sind fest geschlossen.
Der Student wartet und wartet.
Die Liesel ist unbewusst dem Grabesrande zu nahe gekommen; sie sieht alles trüb. Die Tränen haben ihr die Augen verschleiert. Unter ihren Füssen rollt die gehäufte Erde hinunter auf den Sarg.
Franzel reisst sie zurück: „Gehen wir!"
Und sie lässt sich hinwegführen.
Der Student tritt an die Kinder heran.
„Kommt, gehen wir zum Moasen-Thomerl."
Unterwegs liess Dressler wohl eine Weile die Kinder ihr Leid ausweinen, dann aber versuchte er, sie mit schonenden Worten auf andere Gedanken zu bringen. — Er zeigte ihnen mancherlei Käfer und Falter, die der Betrachtung wert waren. Aber heute waren die Kinder nicht geneigt, mit ihm das Wunderbare in der Natur zu bestaunen und den schulmeisterlichen Belehrungen des jungen Mannes zu lauschen, der es doch so gut mit ihnen meinte.
Dass die Sonne so grell schien, dass die Lerchen so laut jubelten, dass die Grillen so schrill zirpten, alles tat ihnen weh. Aber sie weinten nicht mehr. Still näherten sie sich dem Hause des Flickschusters. Sein Töchterlein erwartete sie schon auf der Schwelle und lief ihnen ein gut Stück Weges entgegen. Sie empfing die Ankömmlinge mit der Frage: „Wo bleibt ihr so lange? Der Kaffee wartet und ich hab’ einen Gugelhupf gebacken."
Da folgten sie ihr in den Hausgarten, wo im Schatten der Obstbäume der Tisch weiss gedeckt war wie an einem Feiertag.
Regerl fühlte sich gar wichtig als Hausmütterchen und sie war stolz darauf, dass ihr der Gugelhupf geraten war. Das sollte ihr eine nachmachen, die noch drei Jahre in die Schule gehen musste wie sie. Sie schenkte ein und legte vor. Da begannen sie zu essen.
Der Moasen-Thomerl aber war nicht da: „Der Vater ist ins Hegerhaus hinüber, das Vieh tränken und füttern," erklärte Regerl. So handelte der Vormund¹ für seine Mündel. Das Vieh, welches sie geerbt hatten, sollte nicht Durst und Hunger leiden am Begräbnistag.
Erst beim Abendläuten kam der Schuster zurück. Als Liesel ihm dankte, dass er der Vormund wollte sein, wehrte er ab:
„Schaut, Kinder, wenn einem jungen Spatzerl, das noch nicht fliegen kann, die Katz die Eltern wegfrisst, da nimmt sich irgendein anderer Spatz um das verlassene Vogerl an und lässt es nicht verkommen. Wär eine Schand, wann’s bei uns Menschen anders wär."
Nach dem Moasen-Thomerl kam der Turnowsky-Hiasel, der grosse Bub des Buschenwirtes. Er wollte die Kinder heimgeleiten und in der Nacht bei ihnen bleiben, wie er es als guter Nachbar in den letzten zwei Nächten getan hatte.
Verwaist waren die Hegerkinder, aber verlassen waren sie nicht.
Aufgeteilt.
Am liebsten hätte der gute Moasen-Thomerl seine vier Mündel bei sich behalten im Haus; aber er war zu arm. Sein Handwerk nährte ihn und sein Töchterlein nur so, dass sie gerade noch satt wurden. Seitdem eine Menge Händler schöne und billige Schuhe verkauften, wie sie in den Fabriken hergestellt werden, liess selten jemand bei dem Dorfschuster ein Paar nach Mass machen. Zu flicken hatte er genug, aber das trug nicht viel ein.
Da war es für ihn die erste Sorge, die drei Knaben anderwärts unterzubringen; sie mussten aufgeteilt werden. Aber zu guten Menschen sollten sie kommen, dass sie nicht verdürben. Die beiden schulmündigen Ziehbrüder, Franzel und Bertel, mussten sich jetzt entscheiden, was sie werden sollten. Der Vormund befragte die Knaben darum und suchte Rat beim alten Oberlehrer Leitel und beim neuen Oberlehrer Wagner, aber auch bei den Forstleuten. Franzel wäre am liebsten Jäger geworden, aber er hatte auch Lust zum Schlosserhandwerk. Bertel, der ein sehr gutes Entlassungszeugnis hatte und der seinen Oberlehrer Wagner als Vorbild verehrte, bat, der Vormund möchte ihn Lehrer werden lassen.
Gern hätte dieser ihm willfahrt, aber er hatte Angst, die Mittel für das lange Studium nicht aufbringen zu können. Hiezu kam, dass der Forstmeister, der ihm für Liesel einen Erziehungsbeitrag zu erwirken versprach, sich bereit erklärte, den Bertel sofort als Forstpraktikanten anzunehmen und für dessen spätere kostenlose Unterbringung in der Aggsbacher² Forstschule zu sorgen.
In seiner Armut unfrei, ergab sich Bertel in das von dem wohlwollenden Herrn bereitete Schicksal. Der Gedanke, dass sein Vater in treuer Pflichterfüllung dem Messerstich eines Strolches erlegen war, erfüllte ihn mit einem Ernste, der ihn älter erscheinen liess, als er war. Als Forstpraktikant wurde er dem Oberförster in Wolfsgrund³ zugeteilt und tat schon am dritten Tage nach dem Begräbnis als Aufseher Dienst beim Holzschlagen. In den Augen der Taglöhner war der junge Forstpraktikant eine Amtsperson wie jede andere. Sein Dienstkleid gab ihm das Ansehen; der graue Lodenrock mit grünen Tuchaufschlägen kleidete ihn gut; das vergoldete Eichenlaub am Kragen, der schwertartige Hirschfänger an der Seite und die alte Büchsflinte, welche er als Erbstück vom Vater übernommen hatte, sie waren Abzeichen seiner Pflichten und Rechte. Und bei seinen Dienstgängen war Treff, der Hund, den der Vater aufgezogen hatte, sein lieber Begleiter.
Der kleine Biberhaufen, in dem des Vaters verlassene Hegerei stand, gehörte in Bertels Revier; da wollte er öfter nachsehen und in der Nähe des Hauses einen blinden Schuss abgeben, damit sich kein ungebetener Besucher herantraue. Die Forstverwaltung besetzte den Asperner Hegerposten nicht wieder und beabsichtigte, das alte Haus abtragen zu lassen, weil dessen Mauerwerk gelegentlich der Überschwemmungen durch aufgesaugtes Grundwasser arg gelitten hatte. Das Gebäude war ja nicht unterkellert.
Liesel, die noch ein Jahr in die Schule zu gehen hatte, blieb beim Vormund im Haus.
Regerl war glücklich, dass die nur um zwei Jahre ältere Freundin von nun an mit ihr hausen sollte. Freilich, wenn die Liesel schulmündig wurde, dann musste sie irgendwohin in die Lehre, sie wollte ja Schneiderin werden.
Franzel und Sepperl, die zwei Pflegekinder des verstorbenen Hegers, machten dem Moasen-Thomerl mehr Sorge. Für die war vom Forstamte keine Hilfe zu erbitten; sie waren ja nicht leibliche Kinder des Forstbediensteten. Und an die Gemeinde Gaming, wohin die Kinder zuständig waren, wollte der Schuster die Kinder nicht abgeben. Dort war ja der Vater der Waisen als Wilddieb und Schnapstrinker ins Unglück gekommen. — Und der gewissenhafte Fürsorger fürchtete, die Knaben könnten auch missraten. Wusste er denn, zu wem man sie in Pflege geben würde?
Weil für Franzel im Lobauer Revier keine Praktikantenstelle zu haben war, fügte er sich darein, das Schlosserhandwerk zu erlernen; er bastelte ja von jeher gerne. Wo aber nur geschwind eine Lehrstelle für ihn finden, nicht zu weit weg, dass der Vormund nachschauen könnte?
Sepperl, der hochaufgeschossene Jüngere, der noch ein Jahr in die Schule zu gehen hatte, erklärte einfach: „I bleib bei der Liesel. Da musste der Moasen-Thomerl lachen: „Mein lieber Sepperl, ich kenn dich als Friessniggel, bei mir tät’st du wohl nit satt werden!
Der Bub tröstete sich: „So geh i halt zum Gschaider-Onkel ins Gamsgebirg. — „Der kann di brauchen, wohl, wohl
, versetzte der Schuster und nickte beifällig: „Der hat Küah auf der Fadenwiesen und hat mit fremden Leuten sein’ Plag. Kehren ja die Touristen bei ihm ein, die über’n Fadensteig auf ’n Schneeberg wollen. Mit Küahhalten und Heugna⁴, mit Hilf im Haus und Fremdenführen kannst dir bei ihm den Sterz und die Milchsuppen verdienen ausser der Schulzeit." So schrieb denn Liesel, die am besten mit der Feder umzugehen wusste, einen Brief an den Gschaider-Onkel in Losenheim am Schneeberg, ob er den Sepperl zu sich nehmen wollte.
Nun kamen sorgenvolle Tage für den Flickschuster.
Vom Vormundschaftsgericht, das als Testamentsvollstrecker sich um das Erbe der Waisen bekümmerte, kam eine Schätzungskommission, der auch der Bürgermeister von Aspern zugezogen wurde, und nahm das Verzeichnis der Hinterlassenschaft des verstorbenen Hegers auf. Der Moasen-Thomerl musste aufs Bezirksgericht, um als Vormund der Waisen das Angelobungsformular zu unterschreiben. Er übernahm die Pflicht, das Erbgut der Kinder zu bewahren und zu verwalten. Was er nicht in seinem kleinen Anwesen bergen konnte, musste er verkaufen und das Geld bei der Waisenkasse des Steueramtes hinterlegen.
An den Notar war ein Bericht über den Nachlass zu schicken. Da kam dem Moasen-Thomerl der Student Dressler als freiwilliger Helfer zurecht.
An einem Montag war’s, es ging schon auf Mittag; mit fröhlichem „Grüss Gott!" trat der junge Mann in die Werkstatt des Schusters, warf seinen prall gefüllten Rucksack in einen Winkel, den Lodenhut dazu und setzte sich auf die Ledertruhe neben dem Werktisch.
„Ich muss allweil an die armen Hegerkinder denken und an Euch, lieber Meister, begann er; „Ihr habt Euch ein bisserl zu viel aufgeladen: die Sorg um vier Waisenkinder! Vier! — Allein zwingt Ihr’s nicht.
Der Schuster sah dem Studenten erwartungsvoll in das vom dünnen, dunklen Vollbart umrahmte Gesicht. „Besser schon, als einer, der’s mit der Vormundschaft leicht nimmt; — wann ich nur schon eine Lehr hätt für’n Franzel — aber es müsst in der Näh sein, wo ich auf ihn schauen könnt; er is a Malefiz⁵-Schlankel!, der Franzel; hat dem Heger g’nug zum Auflösen ’geben. Ich mein’ allweil, er kunnt leicht sein’m Vater nachg’raten, der war soviel unbändig. — „Wie meinen Sie das? War er ein Raufer?
— „Dös aa; ’s hat überhaupt ka Z’ruckhalten geben bei dem, wenn ihn was g’razt⁶ hat. — Ob’s ein Glasel Schnaps war oder ein Stück Wild im Gaminger Gebirg, oder ob ihn einer durch ein Wort schiach⁷ g’macht hat, er hat si nit zügeln können."
„Aha, ich verstehe: in ihm waren die Begierden zu stark und die Gewissensstimme war zu schwach. Da hat er sich nicht abhalten lassen, wann er in eine Versuchung gekommen ist. — „Ja, so war er und so is der Franzel. Aber der Bub hat auch einen guten Kern; es wär’ schad um ihn. Drum will ich den Franzel nit aus den Augen verlieren, muss schauen, dass er sich eing’wöhnt in ein ordentlich’s Leben unter die Leut.
— „Sie können doch nicht allweil um den Buben sein; Ihr Handwerk lässt Ihnen dazu nicht die Zeit, wendete der Student ein; „ich weiss aber einen, der die Zeit hat und den guten Willen und das nötige Geld. Der kümmert sich weit und breit um die Waisenkinder. Ein richtiger Vater der Waisen.
— „Wer?" — „Es ist der Professor Hyrtl⁸. — Der Schuster schüttelte den Kopf: „Hyrtl? — kenn i nit.
— „Ein alter Professor der Anatomie. — „Anatomie? Was ist denn das wieder?
— „Das Zerschneiden von Leichnamen zum Zwecke der wissenschaftlichen Erforschung. — „Hm
, machte der Schuster und schüttelte seinen grauen Kopf. „Und so ein Leichenzerschneider sollt ein Herz haben für arme Waserln? I kann’s net glauben."
Da entnahm der Student seiner Brieftasche ein Schreiben und öffnete es. Ein Lichtbild kam zum Vorschein. Das zeigte er dem Schuster: „Da hab ich seine Photographie. Die hab ich von ihm bekommen zum Andenken. Wohl hätt ich ihn auch ohne dieses Bild mein Lebtag nicht vergessen. Hat er doch für mich acht Semester lang die Kollegiengelder⁹ gezahlt und dazu einen Verköstigungsbeitrag zu einer Zeit, wo ich noch nicht genug Nachhilfeunterricht geben konnte, um mich durchzubringen. Schaun Sie sich den Hyrtl einmal an: Die Augen! Die Augen! Da leuchtet Güte und starker Wille heraus! Und die paar Falteln in seinem Gesichte, die kommen vom Lachen her. — Der gute Hyrtl lacht gern und macht oft einen feinen Witz, dass auch andre lachen."
„Bei seinem traurigen G’schäft?" fragte der Schuster. — „Der wär traurig gewesen, wenn er nicht Leichen sezieren¹⁰ hätt’ dürfen. Es hat eine Zeit gegeben, wo es den Ärzten verboten war, an menschlichen Leichnamen zu studieren. Da haben sie keine Ahnung gehabt, wie es im menschlichen Leib ausschaut, wie die Knochen aneinandergefügt sind, wie die Adern und die Nerven verlaufen, wie das Herz und die Nieren, die Lungen und die übrigen Eingeweide gebaut und eingelagert sind. Und wenn sie helfen wollten, haben sie manchen falschen Schnitt getan; in der guten alten Zeit sind Tausende von Menschen nur darum an Wunden und inneren Krankheiten gestorben, weil die Ärzte das Wichtigste nicht gewusst haben, nämlich, wie der wunderbare innere Bau des Menschenleibes beschaffen ist." — Der Schuster nickte; es leuchtete ihm ein. „Hyrtl hat vierzig Jahre seines Lebens damit verbracht, Ärzten und Studenten, die Ärzte werden wollten, genauen Unterricht zu geben über das Innere des menschlichen Leibes. Er hat aber auch einzelne Organe, ich meine damit Lebenswerkzeuge, wie Gehirn, Herz, Nieren, Augen, Ohren, so gut vor dem Verderben bewahrt, dass sie immer wieder von den Studierenden angeschaut werden konnten. Er hat die Organe durch Einlegen in fäulniswidrige Flüssigkeiten