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Der Pfad des Yoga: 365 meditative Betrachtungen
Der Pfad des Yoga: 365 meditative Betrachtungen
Der Pfad des Yoga: 365 meditative Betrachtungen
eBook681 Seiten6 Stunden

Der Pfad des Yoga: 365 meditative Betrachtungen

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Über dieses E-Book

Yogaphilosophie für jeden Tag

Yoga ist viel mehr als ein Workout, es ist eine ganzheitliche Erfahrung für Körper und Geist, ein Weg, um intensiver und bewusster zu leben.

In 365 meditativen Betrachtungen erklärt Yogaguru Rolf Gates den achtgliedrigen Pfad des Patanjali und führt damit in die Grundlagen der Yogaphilosophie ein. Jeden Tag können Sie so einen kleinen Schritt machen, um diese Lehre in Ihren Alltag zu integrieren – ob am Morgen, um den Tag zu beginnen, während der Yogapraxis oder am Abend, wenn Sie Ihre Erlebnisse Revue passieren lassen.

Die Reflexionen dienen sowohl als Anleitung als auch als Inspiration und helfen Ihnen, Yoga als Weg zu einem sinnerfüllten Leben zu begreifen und die Achtsamkeit für Ihre Bedürfnisse und Ziele zu steigern.

»Lassen Sie die Gedanken in diesem Buch in Ihrem Leben Dynamik entfalten, lassen Sie sie einfließen in Ihre Yogapraxis, Ihre Arbeit, Ihre Beziehungen und Ihre Erfahrung, lebendig zu sein.«
SpracheDeutsch
HerausgeberRiva
Erscheinungsdatum14. Mai 2018
ISBN9783959719490
Der Pfad des Yoga: 365 meditative Betrachtungen

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    Buchvorschau

    Der Pfad des Yoga - Rolf Gates

    [ Einführung ]

    Future generations, riding on the highways that we built, I hope they have a better understanding.

    John Cougar Mellencamp

    Wir haben alle den Wunsch nach einem besseren Weg, hegen die Hoffnung, dass wir die Welt in einem besseren Zustand hinterlassen, als wir sie vorgefunden haben. Ob wir nun Yoga oder Meditation praktizieren, die eine oder die andere Partei wählen, Songs oder Maschinenbefehle schreiben, wir haben die Vision, dass die Dinge besser werden können und unser eigenes gutes Leben irgendwie zu einem guten Leben derer beiträgt, die nach uns kommen. Darüber hinaus erleben wir Männer und Frauen, die die Welt tatsächlich zu einem besseren Ort gemacht haben und dabei ein gewisses Maß an innerem Frieden erlangt zu haben scheinen. In der Geschichte der Menschheit gab es unzählige Leben, die trotz – oder vielleicht gerade wegen – überwältigender Widrigkeiten gut gelebt wurden.

    Nichtdestotrotz liegt der großen Mehrheit von uns der richtige Weg nicht immer klar vor Augen. John Cougar Mellencamp spricht in seinem Lied von seiner Hoffnung für die Zukunft, nicht von seiner Gewissheit, dass die nächste Generation ihr Leben besser gestalten wird als wir. Wie leicht es sich doch von Tag zu Tag leben lässt, als wäre dies eine Art Generalprobe für das wirkliche Leben. Und trotzdem nagt in uns der Verdacht, dass es das hier ist; dass das wirkliche Leben hier und jetzt stattfindet. Wie also bringen wir es dahin, dass unser Leben uns zufriedenstellt? Wie finden wir unseren Weg?

    Diese Ungewissheit ist und war schon immer Bestandteil des Menschseins. In Reaktion auf diese uralte Frage, auf diese Sehnsucht nach Klarheit und Richtungsweisung, haben wir Menschen im Laufe der Jahrhunderte unzählige Wege und Pfade entworfen und sie mit vielen Begriffen und Namen belegt – Religionen, Philosophien, politische Ideologien.

    Yoga ist ein Pfad, der aus der spirituellen Wüstenei herausführt, eine Schnellstraße, errichtet von jenen, die vor uns kamen, und ein Weg, der seit Jahrtausenden von Millionen beschritten wird. Dieses Buch ist für all jene, die sich diesen Millionen anschließen und Yoga als Weg zu einem sinnerfüllten Leben erkunden möchten.

    Ich kam auf ganz gewöhnliche Weise zum Yoga: Meine Freundin (jetzt meine Frau) schleppte mich zu einem Wochenend-Retreat. Ich hatte mit ihr schon zuvor an ein paar Unterrichtsstunden teilgenommen, von Yoga wirklich gepackt wurde ich aber in einer Unterrichtsstunde um sechs Uhr morgens im Kripalu Center in Western Massachusetts. An den Unterricht selbst erinnere ich mich kaum noch, nur, dass ich aufgefordert wurde, etwas Merkwürdiges mit meiner Nase zu veranstalten. Später erfuhr ich, dass es sich um Pranayama oder Atemregelung handelte. Mir fiel damals das Gefühl auf, mit dem ich anschließend durch den Flur zum Frühstücksraum ging; es war zweifellos der beste Gang zum Frühstück, den ich je erlebt hatte. In meinem Körper war eine Freude, wie sie Jahrzehnte des Sports und des hingebungsvollen Körpertrainings nie zu bewirken vermocht hatten.

    Der Same war gepflanzt. In den folgenden Jahren praktizierte ich täglich Yoga, einfach weil ich mich danach besser fühlte. Ich arbeitete mit jungen Menschen, die sehr unter Schmerzen litten, und stellte fest, dass ich durch Yoga Tag für Tag physisch und emotional bei ihnen sein konnte. Yoga, das war zutiefst wirkungsvolle Selbstfürsorge.

    Schließlich schrieb ich mich zu einer Ausbildung zum Yogalehrer ein, um meine eigene Praxis zu vertiefen. Ich wollte imstande sein, mein Yoga überallhin mitzunehmen. Ein Jahr später wurde mir aus heiterem Himmel ein Job angeboten – ich sollte Yogaunterricht geben. Eine innere Stimme schien mir zu sagen, dass es wichtig war, dass ich Yoga unterrichtete. Diese Stimme hatte bisher nur einmal zu mir gesprochen. Damals hatte sie mir versichert, dass alles in Ordnung sein würde, als in meinem Leben absolut gar nichts in Ordnung war. Diese Stimme hatte sich beim ersten Mal als richtig erwiesen, daher hörte ich auch jetzt auf sie. Obwohl ich bereits mit einem Aufbaustudium und einem Job gut beschäftigt war, unterrichtete ich irrwitzig viel. Ich gab in Fitnessstudios Unterricht, in Karatestudios, Gesundheitsclubs, Sitzungssälen und Wohnzimmern. Irgendetwas sagte mir, dass ich so viel wie möglich unterrichten musste. Es gab auch einige schöne Momente der Bestätigung – Verbindungen zu Schülern, die Stille beim Shavasana, die tiefe Ruhe am Ende des Unterrichts, das Gefühl, etwas Uraltes und Gutes zu tun. Aber es fehlte auch etwas.

    Etwa um die Zeit, als mir allmählich die Puste ausging, kam ein passionierter Lehrer namens Baron Baptiste nach Cambridge und eröffnete ein Studio. Er begeisterte mich sofort. Nachdem ich an einer seiner Unterrichtsstunden teilgenommen hatte, fragte er mich sofort: »Bist du Lehrer?« Das sei ich, sagte ich. Aber es klang nicht so, als ob es wahr sei. Ich gab Unterricht, aber Lehrer war ich nicht. Ich begann für Baron zu arbeiten und ich wurde zum Lehrer.

    Das englische Wort educator (Erzieher) leitet sich vom lateinischen Verb educere her, das unter anderem »herausführen« und »herausziehen« bedeutet. Dieser lateinische Begriff wurde von Hebammen gebraucht, wo er »bei der Geburt zugegen sein« bedeutete. Von Baron lernte ich, dass es beim Yogaunterrichten in erster Linie und vor allem darum geht, aus einem Schüler das herauszuziehen, was schon in ihm steckt. Ausrichtung, Atem, eine Abfolge von Stellungen – das alles sind einfach Werkzeuge, mit deren Hilfe der Lehrer die Aufmerksamkeit seines Schülers kapert. Wenn Erziehung wirklich die Kunst ist, einem Individuum beim Entwickeln der ihm oder ihr innewohnenden Fähigkeiten zu helfen, dann wird der Yogaunterricht zu sehr viel mehr als einem bloßen routinemäßigen Abspulen von Stellungen und Erklärungen.

    Als ich mein Unterrichten als von Gott gegebene Gelegenheit begriff, bei der Geburt des authentischen Selbst eines Individuums präsent zu sein, wurde ich zum Lehrer im wahren Sinn. Wie ich entdeckte, besteht der wahre Lohn der Yogapraxis nicht im perfekten Handstand oder einer tieferen Vorbeuge – er besteht darin, das Selbst zu erwecken, das jeden Tag neu geboren von der Yogamatte herunter zurück ins Leben tritt.

    Bald darauf stieg ich aus meinem Aufbaustudium in Sozialarbeit aus und wurde Vollzeit-Yogalehrer. Ich hatte meinen Weg zu dienen gefunden. In Ein Kurs in Wundern heißt es: »Lehren ist Aufzeigen.« Soweit ich es zu sagen vermag, ist Liebe das Einzige, das es wert ist, aufgezeigt zu werden. Nun verbringe ich meine Tage damit, den außergewöhnlichen Individuen, die in mein Studio kommen, Liebe aufzuzeigen. Dies war und ist eine tiefgründige Erfahrung und fortwährende Erziehung.

    Wahrscheinlich sind Sie wie die meisten mir bekannten Yogaschüler ohne jedes Hintergrundwissen über Yogaphilosophie oder auch nur Interesse daran in Ihrer ersten Yogastunde gelandet. Doch nach einigen Monaten begannen Sie, die positiven Auswirkungen einer regelmäßigen Yogapraxis zu spüren. Sie fingen an, das Bisschen Yogaphilosophie, das Sie im Unterricht mitbekamen, zu verinnerlichen. Sie begannen sich besser zu fühlen, das Leben wirkte greifbarer, Sie waren glücklicher. Wehwehchen oder Schmerzen, unter denen Sie vielleicht schon Jahrzehnte gelitten hatten, verflüchtigten sich auf rätselhafte Weise. Einschränkende Glaubensvorstellungen bezüglich Ihrer körperlichen Form und unzureichender Fähigkeiten begannen zu bröckeln und verschwanden, ebenso wie Ihre Rückenschmerzen und Hüftsteifigkeit, allmählich ganz.

    Mit der Zeit kommt eine Art Hunger auf. Der Yogaunterricht vermittelt uns den Geschmack von einer neuen Daseinsweise, einer neuen Art, sich zu bewegen, einer neuen Art, mit den täglichen Ereignissen und Herausforderungen umzugehen. Nach und nach wollen wir mehr von dem, was Yoga uns bietet, ins Alltagsleben einbringen.

    Leider stehen mir nicht genügend Stunden in der Woche zur Verfügung, um all die Privatstunden und Extrasitzungen zu halten, um die ich von Schülern gebeten werde. Im Großen und Ganzen sind dies Menschen, die einfach ein bisschen mehr Yoga in ihr Leben einbringen möchten. Das Training des Körpers findet bereits im Unterricht statt; nun geht es um die spirituelle Entwicklung. Diese Schüler würden gerne in eigener Sache etwas Zeit mit einem Lehrer verbringen, wünschen sich eine Möglichkeit, ihre Fragen zu stellen, möchten von ihm auf ihrer neuen Reise begleitet werden, und sei es nur für eine oder zwei Stunden. Und das wünschen wir uns alle.

    Dieses Buch ist eine Antwort auf dieses Bedürfnis nach Begleitung und Gemeinschaft. Yoga ist im Wesentlichen eine Reise ins Innere. Ob wir uns nun in eine Unterrichtsstunde mit siebzig Schülern quetschen oder Yoga allein vor einem Video oder mit einem Partner am Strand praktizieren – alle erleben wir im Verlauf unserer Praxis Phasen der Einsamkeit. Oft sind wir beim Yoga weit weg von der Unterstützung unseres Lehrer; noch ferner sind wir seiner Führung, wenn wir danach streben, unser Yoga in aller Wahrhaftigkeit im Jetzt zu leben.

    Als Orientierungsläufer in der Armee lernte ich, gewohnheitsmäßig etwa alle dreihundert Meter meine Position zu bestimmen, ob es mir notwendig schien oder nicht. Immer war jedoch die erste Positionsbestimmung die wichtigste, weil sich alle nachfolgenden Berechnungen aus ihr ergaben. Wenn Sie Ihren Weg durch die Wildnis finden wollen, müssen Sie Ihren Ausgangspunkt kennen. Ich hege die Hoffnung, dass dieses Buch zu Ihrem täglichen Ausgangspunkt wird. Ich möchte Sie einladen, den Augenblick zu nutzen, wenn Sie die jedem Tag zugeordnete Betrachtung lesen, und innerlich still werden, Ihre Position bestimmen und Ihre Reise für den Tag planen.

    Die folgenden Texte sind das natürliche Resultat der Arbeit, die in jedem Yogastudio stattfindet. Wenn wir unsere Glieder erwecken, tief in unsere Muskeln hineinatmen und unser Herz öffnen, werden wir dazu angeregt, tiefer in unsere Seele zu schauen. Ich bringe hier meine eigene Praxis ein, meine eigene Reise sowie meine Aufgabe, Sie zu unterrichten, um zutage zu fördern, was schon in Ihnen existiert. Ich werde alle Ihre Fragen beantworten und Ihnen auch nicht erklären, wie Sie die Dreiecksstellung einnehmen oder die Zehen beim Schulterstand ausrichten sollen. Stattdessen werden wir Seite an Seite und Tag für Tag eine Reise durch das Jahr unternehmen, die verschiedenen Stadien unserer Praxis und die Entdeckungen beobachten, die wir auf der Matte sowie auch abseits davon machen. Es ist also ein bisschen wie eine Einzelsitzung bei einem Lehrer, ein Ausgangspunkt für den Tag und ein Aufbruch auf diesen fünftausend Jahre alten Pfad namens Yoga.

    Wenn Sie die Essays der Reihenfolge nach lesen, werden Sie feststellen, dass sie aufeinander aufbauen, und das Ganze wird für Sie einen Sinn ergeben. Ich lade Sie ein, dieses Buch über ein ganzes Jahr hinweg zu lesen, einen Essay pro Tag. Oder lesen Sie immer dann mehrere Seiten, wenn Sie sich Anleitung und Inspiration wünschen. Machen Sie es so, wie es Ihnen am besten passt, aber lesen Sie langsam und nehmen Sie sich Zeit, die Gedanken innerlich reifen zu lassen. Lassen Sie die Gedanken in diesem Buch in Ihrem Leben Dynamik entfalten, lassen Sie sie einfließen in Ihre Yogapraxis, Ihre Arbeit, Ihre mitmenschlichen Beziehungen und Ihre Erfahrung, lebendig zu sein.

    [ Die Yamas ]

    Teil 1

    Der Anfang

    [ Tag 1 ]

    Wer sich nicht auf neue Heilmittel einlässt, muss immer wieder mit den alten Unzulänglichkeiten rechnen. Zeit ist nämlich die große Erneuerin.

    Sir Francis Bacon

    Jetzt, da wir uns am Beginn des 21. Jahrhunderts befinden, scheint Yoga das neue Heilmittel des Westens zu sein. Tatsächlich aber ist dieses Heilmittel über fünftausend Jahre alt – weitaus älter als der Islam und, ja, auch älter als das Christentum. Sanskrit, eine der ältesten Schriftsprachen, findet nunmehr in den Yogastudios des Westens als gängige Unterrichtsterminologie überall Verwendung. Wir könnten also fragen: Warum Yoga? Und warum jetzt?

    Meiner Überzeugung nach sind der Hunger nach Yoga und die große Bereitschaft, es sich als spirituelle Praxis anzueignen, ein Beleg für unsere Weiterentwicklung und unser Verlangen nach Veränderung. Angesichts der Schatten, die die Blutbäder des 20. Jahrhunderts werfen, und der Bedrohungen durch jüngere Ereignisse existiert das dringende Bedürfnis nach etwas, das der buddhistische Wissenschaftler Robert Thurman als »kalte Revolution« bezeichnet. Wir brauchen ein neues Paradigma, das an die Stelle unseres gegenwärtigen Festhaltens am Ungleichgewicht tritt. Yoga beinhaltet das Studium des Gleichgewichts. Gleichgewicht und Ausgewogenheit sind das Ziel aller lebenden Geschöpfe, ist der Zustand, in dem wir uns am wohlsten fühlen.

    Der Aufbau dieses Buches folgt den Yoga-Sutras von Patanjali. Zwischen 500 und 200 vor Christus verfasst, wurde in ihnen ein zu jener Zeit bereits viele Jahrhunderte alter spiritueller Weg festgeschrieben. Patanjali präsentiert mit diesen Sutras 196 prägnante, knapp gefasste Lektionen über die Natur des menschlichen Daseins, das menschliche Potenzial und den Weg zur Verwirklichung dieses Potenzials.

    Umfassend, systematisch und bemerkenswert präzise ordnen die Yoga-Sutras die Essenz aller spirituellen Praktiken zu einem grundlegenden Lebensplan. Sie werden in diesem uralten Text nichts entdecken, das den Grundsätzen irgendeiner Religion widerspricht. Vielmehr finden Sie dort Schritt für Schritt eine Anleitung zum rechten Leben, einen Leitfaden, eine Ergänzung zu den Zielen jedweder spirituellen Tradition.

    Spirituelle Praxis bringt uns dorthin, wo der Kreis sich wieder schließt – nicht zu einem neuen Selbst, sondern vielmehr zurück zur Essenz unseres wahren Selbst. Yoga ist die Praxis zu feiern, was ist. Und am Ende der Heldenreise steht die Entdeckung, dass es nicht erforderlich war, irgendwohin zu gehen, dass alles, wonach er suchte, die ganze Zeit in seinem Innern vorhanden war. Dorothy, die durch Zeit und Raum ins Land Oz reiste und sich verzweifelt bemühte, den Weg zurück nach Kansas zu finden, entdeckt, dass sie jederzeit hätte nach Hause zurückkehren können. Am Ende erfährt sie, dass ihre Abenteuer sie lediglich an den Punkt gebracht haben, wo sie daran glauben kann. Das Ziel jeder spirituellen Suche besteht darin, uns nach Hause zu bringen, an den Punkt, an dem wir sehen und erkennen, dass wir bereits alles haben, was wir brauchen.

    Jetzt sind wir weit weg von zu Hause und müde von unseren Reisen. Die Sonne geht unter und ein Ziel ist nicht in Sicht. Yoga ist das Licht, das unser Zuhause erleuchtet, kaum auszumachen aus der Ferne der spirituellen Ödnis, in der wir umherirren. In einer Zeit, in der wir uns kaum weiter weg von zu Hause fühlen können, erinnert Yoga uns daran, dass wir schon am Ziel sind, dass wir nur aus dem Schlaf erwachen müssen, in dem wir isoliert und unvollkommen sind. Lassen Sie sich von diesem Buch aufwecken, lassen Sie es Ihr Licht sein, das Ihnen in der Dunkelheit leuchtet, Sie durch Ihre Tage führt und Ihnen den Weg nach Hause weist.

    [ Tag 2 ]

    Brennender Eifer bei der Übung, Erforschung des Selbst und Studium der Schriften und Hingabe an Gott sind die Elemente des Yoga der Tat.

    B. K. S. Iyengar

    Die Yoga-Sutras entwerfen einen Lebensplan, der vom Handeln über das Wissen zur Befreiung verläuft. Dieser Plan oder Pfad weist acht Glieder auf, die eher wie den Speichen eines Rades als den Stufen oder Sprossen einer Leiter entsprechen. Die ersten vier Glieder sind die Glieder von Tapas oder Spiritualität im Tun. Darin enthalten sind die Yamas und Niyamas oder die fünf ethischen Prinzipien der Enthaltung und die fünf ethischen Disziplinen der Selbstreinigung des Yoga. Die Yamas und Niyamas ähneln den Zehn Geboten des Christentums und bilden die wahre Grundlage des Lebens eines Yogaschülers.

    Die nächsten beiden Glieder von Tapas sind Asana und Pranayama, die Körperhaltungen oder Stellungen und die yogische Atmung. Wenn wir unsere Praxis vertiefen, bilden die Yamas und Niyamas, Asana und Pranayama zusammengenommen unseren Weg des Handelns. Sie sind mit unserem Körper unternommene oder nicht unternommene Handlungen.

    Die Yamas und Niyamas lassen uns zur richtigen Beziehung zu uns selbst, zu anderen und zum Geist des Universums gelangen. Asana läutert unseren Körper, vertieft die Wahrnehmung unserer Sinne und steigert unsere Konzentrationskräfte. Im Pranayama entwickeln wir die Kontrolle über unseren Atemfluss und schwingen uns in den Rhythmus unserer Lebensenergie ein. Diese vier Praktiken erfrischen den Körper, läutern und verfeinern den Geist, bringen dem Herzen Frieden und versetzen uns in die Lage, den Belastungen und dem Druck des Lebens mit Gleichmut zu begegnen.

    Die nächsten beiden Glieder des achtgliedrigen Pfades, Pratyahara und Dharana, werden als Svadhyaya oder Selbststudium bezeichnet. Pratyahara bedeutet wortwörtlich sich nach innen zu wenden – der Geist zieht sich von den Wahrnehmungen der Sinne zurück. In der inneren Stille von Pratyahara kann Dharana – Konzentration – entwickelt werden. Nun kann das Licht unseres Bewusstseins allmählich auf unsere Seele scheinen. Jetzt ist die tiefste Form von Verbundenheit möglich.

    Dhyana und Samadhi sind die letzten Speichen des Rades und bilden die Glieder von Isvara, der letzten Grenze – dann fügt sich das individuelle in das universelle Selbst ein. Dhyana ist Meditation und Samadhi ist die Vereinigung mit dem Gegenstand der Meditation – der Zustand, in dem Meditation nicht länger erforderlich ist, in dem wir wieder unser ursprüngliches Einssein erfahren; wir kehren heim.

    Die acht Glieder lassen sich als Landkarte verstehen, doch ist im Yoga, wie im Leben, die Reise wichtiger als das Ziel. Bei den Anonymen Alkoholikern sagen sie: »Wir müssen bereit sein, anhand spiritueller Grundsätze zu wachsen.« Und das ist tatsächlich alles, was wir brauchen, wenn wir uns einer Yogapraxis widmen. Wir müssen einfach für unser eigenes spirituelles Potenzial offenbleiben und willens sein, in unserem eigenen Interesse zur Tat zu schreiten. Wir werden im Laufe der Tage alle Aspekte des achtgliedrigen Pfades im Wechsel erkunden. Gemeinsam werden wir das große Abenteuer erleben, das einzige Abenteuer, der Reise von der Dunkelheit ins Licht.

    [ Tag 3 ]

    Everything all the time …

    The Eagles

    Auf den ersten Blick scheint sich eine lineare Herangehensweise an den achtgliedrigen Pfad anzubieten; das erscheint zunächst sinnvoll: Erst widmest du dich dem ersten Glied, dann gehst du zum zweiten über und so weiter. Tatsächlich beschäftigen wir uns aber mit allen Gliedern gleichzeitig. Wie es im Song der Eagles heißt, tun wir »everything all the time«. Die ersten beiden Glieder, die Yamas und Niyamas, lassen sich unmöglich ohne die Unterstützung der in den anderen Gliedern dargestellten Übungspraktiken ausführen. Wenn wir Asana und Pranayama, das dritte und vierte Glied, praktizieren, läutern und verfeinern die Haltungen und die Arbeit mit dem Atem unser Verhältnis zum Körper und schaffen damit die notwendigen Gegebenheiten für Brahmacarya oder Enthaltsamkeit, das vierte Yama-Prinzip. Um uns darin üben zu können, in der Wahrheit oder Satya zu leben, dem zweiten Yama-Prinzip, brauchen wir einen Geist, der die Gewohnheit des Abgelenktseins aufgegeben und die Gewohnheit der Konzentration entwickelt hat. Konzentration wird im sechsten Glied, Dharana, bewusst fortentwickelt. Wir müssen tatsächlich immer alles tun.

    Unsere Yogapraxis macht das möglich. Jedes Mal, wenn wir uns auf die Matte begeben, haben wir Gelegenheit, den ganzen Pfad, Augenblick um Augenblick, durchzuarbeiten. Beim Ausführen der Haltungen oder Stellungen aktivieren wir in jedem Moment jeden Aspekt des Pfades. Unsere Matte ist ein Labor, in dem unser Körper, Atem, Geist sowie unsere Entscheidungen verfeinert werden. Wenn diese Symphonie auf unserer Matte allmählich Gestalt annimmt, wird sie auch in unserem Leben Gestalt annehmen. Zur Arbeit fahren, einen Brief abschicken, eine Freundin zum Mittagessen treffen, all das wird zu einem Teil des ununterbrochenen Flusses unserer Yogapraxis. Die ganze Zeit praktizieren wir Yoga.

    [ Tag 4 ]

    Wir sind die, auf die wir gewartet haben.

    Hopi-Ältester

    Jetzt, da Sie ein Gespür für den Fluss dieses Buches bekommen haben, gehen Sie mit, lassen Sie sich von ihm tragen. Die Yoga-Sutras geben den Kurs vor, wenn wir nun beginnen, auf unserer Reise jeden Zufluss des achtgliedrigen Pfades zu erforschen. Die folgenden Texte, einer für jeden Tag, laden Sie ein, sich ins Kanu zu setzen und auf dem Fluss des Yoga dahinzugleiten. Vielleicht geraten Sie in tiefe, unkartierte Gewässer; mit Sicherheit begegnen Sie auf Ihrem Weg Herausforderungen und Beglückendem. Aber zuerst müssen Sie in dieses Kanu steigen und loslassen. Im Unterricht sage ich gerne: Erlaubt euch während eurer Yogapraxis, euer Kontrollbedürfnis loszulassen. Genau das schlage ich auch Ihnen vor: Verlassen Sie eine Weile den Fahrersitz und genießen Sie die Landschaft. Lassen Sie sich vom Fluss des Yoga führen. Stoßen Sie auf Stromschnellen, bleiben Sie im Kanu und paddeln weiter. Gelangen Sie in ruhige Gewässer, machen Sie dasselbe.

    Bei einer Zusammenkunft von Indianern in Arizona anlässlich der Sommersonnenwende von 1999 sagte ein Hopi-Ältester: »Es fließt jetzt ein Fluss, sehr schnell. Er ist so groß und breit und seine Strömung ist so rasant, dass sich einige fürchten werden. Sie werden versuchen, sich am Ufer festzuhalten. Sie werden das Gefühl haben, zerrissen zu werden, und außerordentlich leiden. Wisst, dass der Fluss seine Bestimmung hat. Die Ältesten sagen, dass wir uns in die Mitte des Flusses begeben, die Augen offen und unseren Kopf über Wasser halten sollen. Schaut, wer bei euch ist, und feiert. Zu diesem historischen Zeitpunkt sollen wir nichts persönlich nehmen, am wenigstens uns selbst, denn in dem Augenblick, in dem wir das tun, kommt unser spirituelles Wachstum zum Stillstand. Die Zeiten des einsamen Wolfs sind vorbei. Versammelt euch; verbannt das Wort ›Kampf‹ aus eurer Haltung und eurem Wortschatz. Alles, was wir tun, muss nun auf heilige Weise und zelebrierend getan werden. Wir sind die, auf die wir gewartet haben.«

    Und jetzt gehen Sie zu Ihrer Matte und stoßen sich vom Ufer ab.

    [ Tag 5 ]

    Zweifelhaften Angelegenheiten, die Yama und Niyama zuwiderlaufen, muss man mit der Kontemplation des Gegenteils begegnen.

    Yoga-Sutras

    Über den Pragmatismus nachdenkend, der sich im Kern aller Yogabelehrungen findet, nimmt sich Patanjali einen Augenblick Zeit, bevor er mit der Darlegung der notwendigen Beschränkungen des Yoga beginnt. Er nimmt sich Zeit, uns zu sagen, was wir tun sollen, wenn wir unterwegs vor Schwierigkeiten stehen. Wenn wir uns in negativem Verhalten verfangen haben, sollten wir, so rät er, vermehrt Zeit, Gedanken und Energie auf positives Verhalten verwenden. Diesen einfachen und eleganten Gedanken formuliert Marianne Williamson in ihrem spirituellen Ratgeber Rückkehr zur Liebe folgendermaßen: »Mit einem Baseballschläger lässt sich die Dunkelheit nicht vertreiben, denn da ist nichts, wogegen wir schlagen könnten. Wollen wir die Dunkelheit vertreiben, dann müssen wir Licht machen.« Wir müssen uns nicht auf einen Showdown mit unserem selbstzerstörerischen Verhalten einlassen, wir können aber auch nicht seine Existenz leugnen. Wir müssen einfach dahin kommen, dieses Verhalten zu kennen, und dann weitergehen. Wir lernen, uns rückhaltlos auf ein positives Verhalten zu konzentrieren.

    Als ich Deepak Chopras Buch Die sieben geistigen Gesetze des Erfolgs las, begann ich zu begreifen, dass meine Einstellung des »Was ist für mich drin?« – so subtil oder gut verborgen sie auch sein mochte – mich auf beruflicher Ebene blockierte. Chopra zufolge besteht eine der einfachsten Methoden, um in jedweder Situation Zugang zur Gnade zu finden, in der Frage: »Wie kann ich helfen?« Als ich erkannte, dass ich mich üblicherweise fragte: »Was ist für mich drin?«, ließ ich mich auf keinen langwierigen Kampf ein, um diese Frage aus meinem Geist zu löschen. Stattdessen trat ich die große Reise an, an deren Anfang die Frage steht: »Wie kann ich helfen?« Sobald ich meine Energie und Aufmerksamkeit auf diese neue Frage gerichtet hatte, fiel die alte von mir ab. Die Yoga-Sutras empfehlen, dass wir uns bewusst von der Entscheidung für den Tod abwenden und uns die Entscheidung für das Leben zu eigen machen.

    [ Tag 6 ]

    Wenn du tust, was du schon immer getan hast, bekommst du, was du schon immer bekommen hast.

    Unbekannt

    Die Yoga-Sutras zeigen zwei Aspekte der spirituellen Praxis auf: Abhyasa, Praxis, Übung, Wiederholung, und Vairagya, Nicht-Anhaften, Loslösung oder Entsagung, Verzicht, Leidenschaftslosigkeit. Über zweitausend Jahre später findet sich dieser Gedanke von Praxis und Entsagung in einem Spruch widergespiegelt, der auch im Rahmen des Zwölf-Schritte-Programms bekannt ist: »Wenn du tust, was du schon immer getan hast, bekommst du, was du schon immer bekommen hast.« Entsagung ist für sich genommen nicht von Dauer. Du kannst den Bananen so viel entsagen wie du willst, wenn du weiterhin in deinem Bananenhaus in der Bananenstraße lebst, deinen Bananenjob im Bananenlager machst und mit deinen Bananen essenden Freunden abhängst, wirst du flugs selbst wieder Bananen essen. Praxis heißt, Arbeit zu leisten; es bedeutet, deiner Absicht Taten folgen zu lassen.

    Viele nehmen an ein paar Yogakursen teil und stellen fest, dass ihnen dieser Ausblick auf eine andere Lebensweise, die Yoga zu bieten hat, gefällt. Das Gefühl, das wir nach dem Unterricht haben, entzückt uns; und wir sind angenehm überrascht, wenn bestimmte Verhaltensweisen allmählich verschwinden. Vielleicht brauchen wir morgens keinen Kaffee mehr oder bis spät in die Nacht auszugehen wird weniger attraktiv; wir werden ruhiger und mitfühlender. Plötzlich sind wir davon überzeugt, schmerzlos alle unsere Probleme lösen zu können. Doch leider ist das nicht der Fall. Die Yogapraxis ist kein Ersatz für die schwierige Arbeit der Entsagung. Die Stellungen und die Atemarbeit, die in einem typischen Yogakurs praktiziert werden, werden Ihr Leben verändern. Diese Praktiken – Asana und Pranayama – durchfluten uns mit der Energie, die wir brauchen, um uns schwierigen Entscheidungen zu stellen und die unausweichlichen Hochs und Tiefs auszuhalten. Aber die Yogapraxis ersetzt nicht die harten Lektionen, die wir alle lernen müssen, um spirituelle Reife zu erlangen. Verzicht und Entsagung sind die Feuerprobe; sie bedeuten, dass wir den Weg beschreiten.

    Eine ganze Reihe meiner Schüler kommt mit Problemen zum Yoga, die mit Essen und Körperwahrnehmung zu tun haben. Manche essen exzessiv, manche hungern, manche übergeben sich, manche machen alle drei Dinge, manche sind dermaßen besessen von diesem Thema, dass es ihre persönliche Weiterentwicklung blockiert. In jedem dieser Fälle bedarf es eines Schlussstrichs und Neuanfangs. Sie alle müssen sich ihrem alten Verhalten stellen und ihm entsagen. Die Yogapraxis ist kein Ersatz für diesen überaus wichtigen Prozess, aber sie unterstützt uns bei unserer Selbstverpflichtung zu Veränderung. Wenn wir den ersten Schritt der Entsagung tun, nährt und trägt uns unsere Praxis, während wir neu geboren werden. Praxis ohne Entsagung bedeutet Ausweichen. Entsagung ohne Praxis hält nicht lange vor. Praxis und Entsagung ermöglichen uns gemeinsam, alle unsere Träume zu erreichen.

    [ Tag 7 ]

    Jeder Grashalm hat seinen Engel, der sich über ihn beugt und ihm zuflüstert: »Wachse, wachse.«

    Talmud

    Viele haben sich jahrelang bemüht, das Leiden in der Welt zu lindern, ohne sich zuvor mit dem eigenen Leiden auseinanderzusetzen. Der

    Glaube, dass es möglich sei, die Welt zu heilen, ohne erst sich selbst zu heilen, wird in den Yoga-Sutras als Mangel an echtem Wissen bezeichnet. Die Wahrheit ist: Wenn wir glücklich sind, strahlen wir Glück aus, und wenn wir unglücklich sind, strahlen wir Unglück aus. Wollen wir das Leid in der Welt verringern, müssen wir bei unserem eigenen Geist und Körper anfangen. Wir müssen Yoga machen. Jede Handlung, in Übereinstimmung mit dem achtgliedrigen Pfad ausgeführt wird, steigert unseren inneren Frieden und unser Glück – und unser Glück wird vom Universum willkommen geheißen. Wir brauchen uns vor den nächsten Schritten nicht zu fürchten. Tatsächlich werden wir jede rechte Handlung, ganz gleich, wie klein oder unbedeutend sie ist, als Vergnügen und Erleichterung erleben. Mit jedem Schritt, den wir zum Licht hintun, jubiliert das Universum. Wenn wir unser Leiden loslassen, haben wir Teil an der Erlösung aller Lebewesen.

    [ Tag 8 ]

    Vairagya ist die Auslöschung all dessen, was dem Fortschritt und der Vervollkommnung im Wege steht.

    B. K. S. Iyengar

    In einer vom Grundsatz des »Immer mehr« geprägten Kultur lässt sich das Konzept des »Weniger« nur schwer vermitteln. David Henry Thoreau schrieb: »Der Mensch ist umso reicher, je mehr Dinge er liegen lassen kann.« Er wusste intuitiv, dass wir durch Nicht-Handeln die Macht bekommen, nach der wir streben. Zum Glück ist Yoga eine auf der Realität gründenden Philosophie. Wohin wir auch blicken, sehen wir Beispiele für Yoga in Aktion. Die yogische Forderung, auf unserem Weg durchs Leben selbstzerstörerisches Verhalten abzulegen, bedarf weder der Erklärung noch der Rechtfertigung. Wenn Sie dieses Buch lesen, haben Sie vermutlich Vairagya oder Loslassen bereits eine gewisse Zeitlang bewusst oder unbewusst praktiziert. Im Laufe der Jahre erfuhr dieses einfache Konzept eine ausführliche Behandlung in Yogatexten, weil wir allem Anschein nach von Geburt aus zu Unschlüssigkeit neigen. Wenn wir die Wahl haben, halten wir eher fest.

    Verschleiern, Rationalisieren, Verzögern, Überanalysieren, Verallgemeinern und Bagatellisieren liegt in der Natur des Menschen. Aber wenn wir uns zu unserer Praxis verpflichten, geraten die Hindernisse, die unserem Fortschritt im Wege stehen, plötzlich klar und deutlich in unseren Blick. Dann sind wir aufgerufen, Vairagya zu praktizieren. Im Tao Te King lesen wir: »Wer das Lernen übt, vermehrt täglich. Wer den SINN übt, vermindert täglich.« Wenn wir unser Yoga zu leben beginnen und allem, was uns zurückhielt, entsagen, entsteht ein Gefühl von Befreiung und Leichtigkeit.

    [ Tag 9 ]

    We are beaten and blown by the wind, blown by the wind, oh when I go there, I go there with you, it’s all I can do.

    U2

    Etwa sechs Monate, nachdem ich ernsthaft mit meiner spirituellen Praxis begonnen hatte, beging meine ältere Schwester Selbstmord. Sie war einunddreißig Jahre alt und ich liebte sie mehr als irgendjemanden sonst auf Erden. Ich war eben erst vom Militärdienst nach Hause gekommen und wohnte bei ihr und ihrem neuen Ehemann. Sie war jung, gesund und erfolgreich und ich betete sie an. Nach ihrem Tod kamen ihr Mann Peter und ich uns näher. Wie schon in der Vergangenheit spielten wir zusammen Racquetball und stützten uns gegenseitig, so gut wir konnten. Wenige Wochen nach dem Tod meiner Schwester zeigte Peter mir eines Abends, bevor wir zu spielen begannen, einen Knoten auf seiner Brust. Wie sich herausstellte, hatte er Krebs. Als er mir das mitteilte, sahen wir einander nur wortlos an. Es gab nichts zu sagen. Vor zwei Monaten noch waren wir talentierte junge Männer gewesen, denen die Welt zu Füßen gelegen hatte. Jetzt, so schien es, lebten wir in unserem schlimmsten Alptraum.

    Einige Wochen später verstand ich plötzlich auf unserem Weg zur Sporthalle die wahre Bedeutung von Abhyasa oder Praxis. Abhyasa bezieht sich nicht nur auf die yogische Praxis, sondern auch auf die Einstellung, die Haltung, mit der wir an die Praxis herangehen. Abhyasa ist vorbehaltlos. Es ist die hingebungsvolle, unbeirrbare Anwendung dessen, woran du glaubst. Ich fuhr in einem Auto hinter Peter her, das ich ein paar Jahre zuvor in Europa gekauft hatte – Spuren eines anderen Lebens. Und mein Autoradio spielte einen Song von U2. Ich sah Peter vor mir herfahren und hörte die Worte: »We are beaten and blown by the wind, blown by the wind, oh and when I go there, I go there with you, it’s all I can do.«

    Ich erkannte, dass wir uns beide dem Gott, so wie wir ihn verstanden, völlig ergeben hatten. Trotz der schrecklichen Schicksalsschläge, die wir erlitten, lebte jeder von uns nach wie vor seinen Glauben aus. Auch im größten Schmerz taten wir das Rechte, widmeten wir uns unserer Praxis, jeder auf seine Weise. Als ich dem Text des Songs lauschte, wurde mir klar, wie tiefgehend meine Verpflichtung war, meinem eigenen spirituellen Weg zu folgen. Der Tod meiner Schwester war ganz sicher nicht Teil eines Handels gewesen, den ich mit Blick auf mein spirituelles Leben eingegangen war. Jegliche Hoffnung, dass Spiritualität ein rosiger Blümchenweg sein würde, war zunichte gemacht worden. In diesem Augenblick verstand ich, dass mein Schwager und ich auf einer tiefen Ebene eine Entscheidung getroffen hatten – wir hatten uns bedingungslos unserer Praxis verpflichtet. Bei dieser Verpflichtung ging es nicht um Ergebnisse und sie würde auch den größten Herausforderungen standhalten. Ich weiß nicht genau, wann ich diese Entscheidung traf, oder ob die Entscheidung nicht überhaupt mich traf. Ich glaube, Abhyasa ist nicht etwas, das wir mit Willenskraft erwerben oder erlangen; vielmehr handelt es sich um eine angeborene menschliche Fähigkeit, die wir durch Praxis erwecken, durch unsere Bereitschaft. Es ist eine Energie, die in unserem Leben wächst, wenn wir sie benutzen. Und wenn wir sie in guten Zeiten kultivieren, wird sie in schweren Zeiten für uns da sein.

    [ Tag 10 ]

    Ich hatte Geburt gesehen und Tod und geglaubt, es gäbe einen Unterschied zwischen beiden; diese Geburt war schwer und schmerzhaft für uns, wie der Tod, unser Tod. Wir kehrten zurück in unsere Heimat, diese Königreiche, Aber fühlten uns nicht mehr wohl in der alten Umgebung …

    T. S. Eliot

    In dieser schönen Passage aus Die Reise der Weisen erinnert sich einer der drei Weisen an seine Erfahrung von der Geburt Christi. Seine Offenbarung fängt einen machtvollen Aspekt von Vairagya beziehungsweise Entsagung ein. Solange wir nicht wirklich bereit sind, einer Sache zu entsagen, erscheint uns der Verzicht als sinnloses Opfer. »Klar«, sagen wir uns, »ich würde schon gerne jeden Morgen joggen, aber ich schlafe doch lieber aus.«

    Doch dann verändert sich die Perspektive. Das Mobiliar unseres Lebens wird umgestellt und wir sind gezwungen, achtzugeben. In der Erfahrungswelt der Weisen signalisiert eine Geburt den Tod ihrer alten Lebensweise. Weitaus häufiger aber ist ein Perspektivwechsel mit irgendeiner Art von Verlust verbunden – einem buchstäblichen Tod oder dem Tod eines Aspekts unseres falschen Ich oder Selbst. Vielleicht entgeht uns eine begehrte Gelegenheit; oder eine Tür, von der wir glaubten, dass sie uns immer offen stünde, wird unerwartet zugeschlagen. Plötzlich sehen wir die Welt mit anderen Augen. Als Folge dieses Todes werden wir in ein neues Verstehen hineingeboren. Wir fühlen uns in den alten Glaubenssystemen nicht mehr wohl. Wir blicken auf unsere Freunde, unsere Gewohnheiten, unsere Entscheidungen, und sehen sie nun alle, da unsere alten Grundannahmen weggefallen sind, in einem neuen Licht.

    Der Boden für Vairagya ist nun vorbereitet. Jetzt, da ich Ihnen gesagt habe, dass Entsagung ein Aspekt des Yoga-Pfades ist, denken Sie möglicherweise, dass ich tief in meinem Schrank ein härenes Gewand hängen habe und von Ihnen verlange, auch eines zu tragen. Wichtig ist jedoch zu verstehen, dass alle dauerhafte Veränderung weniger radikal ist. Der Weg zu einem neuen Verhalten ist schon bereitet worden, lange bevor das alte Verhalten in uns tatsächlich gestorben ist. Wenn wir dann tatsächlich bei der Entscheidung ankommen, etwas loszulassen, sind wir schließlich »erfreut über einen weiteren Tod«. Wenn wir bereit sind, etwas loszulassen, werden wir es mit Erleichterung tun. Wir werden die Entsagung nicht als Tod, sondern als Geburt erfahren.

    [ Tag 11 ]

    Die Meister haben Tao aufgenommen und halten an ihm fest.

    Laotse

    Laotse fing die Essenz von Abhyasa oder Praxis ein. Wir bekommen den Job, wir bekommen ihn nicht; wir heiraten, wir heiraten nicht; unserer Familie geht es gut, unsere Familie hat Probleme; unsere Freunde steigen auf, unsere Freunde straucheln; unsere Dämonen verschwinden, unsere Dämonen klopfen an unsere Tür; wir wachen mit Liebe zum Leben auf; wir wachen voller Ängste auf; wir glauben, die Liebe in unserem Leben wert zu sein, wir glauben, die Liebe in unserem Leben nicht wert zu sein … Bei allen diesen Fragen kehren wir stets auf die Matte, zum Meditationskissen zurück und tun die nächste richtige Sache.

    Oft fühle ich mich meiner Praxis nicht würdig. Ich denke an die erhabenen, virtuosen Momente in meiner Praxis und vergleiche sie mit meiner gegenwärtigen lahmen Verfassung. Und bald schon habe ich das Gefühl, es nicht einmal zu verdienen, Yoga zu praktizieren. An anderen Tagen bin ich obenauf; ich verstehe es, ich verstehe es wirklich – die Welt braucht mich und meine Bestimmung zu erfüllen ist sogar noch wichtiger als meine Praxis. Und dann gibt es die Fälle, in denen ich mich auf dem mittleren Weg befinde; ich habe zum richtigen Maß gefunden und meine Praxis hat das richtige Maß. Aber ich kann nicht auf die Zeiten warten, in denen sich dieser mittlere Weg ergibt. Wenn ich nicht durchwegs praktiziere, durch all die Hochs und Tiefs hindurch, werde ich nie auf

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