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Japan-Trilogie: Alltagsgeschehen in Japan belletristisch dargeboten
Japan-Trilogie: Alltagsgeschehen in Japan belletristisch dargeboten
Japan-Trilogie: Alltagsgeschehen in Japan belletristisch dargeboten
eBook473 Seiten6 Stunden

Japan-Trilogie: Alltagsgeschehen in Japan belletristisch dargeboten

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Über dieses E-Book

Der Anruf einer Freundin bringt die Japan-Analystin Anette mit der Japan-frustrierten Bettina in Kontakt. Ein paar Sitzungen, und Bettina ist wieder zurück in Japan bei ihrem japanischen Ehemann. Mit frisch geöffneten Augen entdeckt sie Japan neu und beschließt, ihren Job in der Firma gegen einen Job an der Uni und eine Japan-Beratung zu tauschen. Das Geheimnis ihrer Blickrichtung ist das nonverbale Verhalten, ein Thema, von dem ihre Kundinnen bislang noch nie etwas gehört haben. Aller Anfang ist schwer, der nonverbale noch viel schwerer ...

Japan, so wie es nicht in der Zeitung steht. Im Zeitalter der Migration und der Anforderung an die Gesellschaft zu gegenseitigem Verstehen ein Versuch, Individuen unterschiedlicher Gesellschaften einander näher zu bringen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum27. Nov. 2020
ISBN9783752698442
Japan-Trilogie: Alltagsgeschehen in Japan belletristisch dargeboten
Autor

Rosina Iida

Die deutsche Einheit erlebte Rosina Iida bereits im Land der aufgehenden Sonne. Dort hat sie nicht nur über ihre Hobbys, japanische Kalligraphie, Fremdsprache und Gesang, in Nachbarschaft und Familie private Kontakte zu Japanern gepflegt, sondern auch im Arbeitsleben jahrelange interkulturelle Erfahrungen gesammelt und ihren Blick für Andersartigkeit geschärft. 2009 promovierte sie unter bürgerlichem Namen zum nonverbalen Verhalten in Japan. Bereits bei BoD erschienen: Japan-Trilogie. Alltagsgeschehen in Japan belletristisch dargeboten.

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    Buchvorschau

    Japan-Trilogie - Rosina Iida

    Japan-Trilogie

    Sitten a la Japon

    Grüne Wäsche und weiße Suppe

    Japan-Expertin

    Teil I

    Shūkan

    Sitten a la Japon

    1 Bekanntschaft mit Amélie-san

    Hallo Silke, Peter! Ihr seid schon da. Das ist ja schön. Die Kleinen sind schon ganz kribbelig, weil ich doch wieder Stefanies Lieblingskuchen gebacken habe. Und den mögen unsere doch auch so gerne«, begrüßt Anette ihre Gäste.

    »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Wie fühlt man sich denn so, wenn man 44 ist?«, fragt Silke etwas provokativ.

    »Kannst froh sein, dass du jetzt nicht mehr in Japan bist. Da gilt die Vier doch als Todeszahl, oder?«, versucht Peter sein Weltwissen anzuwenden.

    »Manchmal schon, aber für das Alter gilt das, glaube ich, nicht. Hab ich jedenfalls noch nie gehört, dass man jemanden damit aufzieht.«

    »Na, nun kommt aber erst einmal herein. Wir wollen heute doch unsere tollen Gartenstühle ausprobieren, die wir zur Einweihung bekommen haben«, meint Carlo, der seiner Frau auf das Klingeln hin gefolgt ist.

    »Aber zunächst müssen wir noch diese Kleinigkeit loswerden. Und das ist gegen möglicherweise trockene Kehlen.« Und schon hievt Peter zwei Kästen Malzbier hoch.

    »Nein! Das ist die schönste Geburtstagsüberraschung, die ihr euch habt ausdenken können! Ihr wisst noch, dass ich Malzbier über alles liebe?«

    »Klar, und du hast ja auch gesagt, dass es das in Japan nicht gibt. Das hat uns einiges an Kopfzerbrechen zu deinem Ehrentag erspart. Hoch lebe Japan! – Neben dir, meine ich natürlich«, grinst Peter das Geburtstagskind verschmitzt an.

    »Danke! Das finde ich wirklich rührend. Und was mag hier wohl drin sein? Fühlt sich an wie ein Buch«, bedankt sich Anette.

    »Was? Ihr habt auch schon die Gartenbeleuchtung installiert? Dein Vater ist ja wirklich der perfekte Handwerker«, bewundert Silke die neue Illumination.

    »Ja, das sagen ihm alle, dass er eigentlich seinen Beruf verfehlt hat. Aber nun kann’s ihm egal sein. Seit letztem Jahr ist er frei von allen beruflichen Zwängen und kann seinem Elektriker-Hobby nach Lust und Laune frönen«, klärt Anette ihre Freundin auf.

    Anette packt das Buch aus. »Mensch, Silke, was du aber auch immer für Ideen hast. Schau mal, Carlo, diese Verpackung, mal wieder ein Meisterwerk!«

    »Tja, ihr wart halt in Japan. Da mussten wir doch zeigen, dass man auch in Deutschland eine gewisse Verpackungskunst pflegt. Wie lange wart ihr eigentlich dort? 10 Jahre? 15 Jahre? Wir haben irgendwann aufgehört zu zählen. Und ich habe hier in deutschen Landen Ikebana und Origami gemacht und kann darüber hinaus immer noch kein Wort Japanisch sprechen.«

    Alle lachen. Ja, Japangeschichten, die sorgten immer für Stimmung.

    »Wir waren 14 Jahre in Japan, um deine Frage zu beantworten«, klärt Carlo die Gäste auf.

    »14 Jahre. Ist ja ’ne irre lange Zeit. – Und wieder eine Vier!«

    »Na ja, irgendwie vergeht sie wie im Fluge. Die Zeit, auch die mit der Vier! Und mit meiner Analytikerin zur Seite ist es jeden Tag so spannend wie am ersten«, grinst Carlo vielsagend.

    »Wieso Analytikerin?«, will Stefanie sofort wissen. Sie ging erst in die achte Klasse auf das neusprachliche Gymnasium und hatte sich bisher nicht für den Beruf ihrer Tante, wie sie die Freundin ihrer Mutter nannte, interessiert.

    »Nein, Steffi, ich bin keine Analytikerin. Das sagt der Carlo nur so im Spaß. Ich bin Wissenschaftlerin und beschäftige mich mit den Unterschieden zwischen verschiedenen Kulturen, speziell mit Deutschland, also der westlichen Kultur, und Japan. Und weil ich kulturvergleichende Analysen liebe, … na, nun weißt du’s.«

    »Analysierst du mich heute Abend auch?«

    Alle lachen. »Nein, Steffi, auf Partys ist mir das dann doch zu anstrengend. Außerdem bist du ja nur ein winziges Teilchen der deutschen und damit der westlichen Kultur, so dass ich da vermutlich kein ausreichendes Analysematerial erhalten würde«, versucht Anette halbwegs ernst zu bleiben.

    Anette wendet sich wieder ihrem Geschenk zu: »Amélie Nothomb – ›Mit Staunen und Zittern‹, Diogenes, 2000«, liest sie laut vor.

    »Wer erzittert vor mir?« Carlo kommt gerade mit neuer Holzkohle aus dem Keller.

    »Amélie Nothomb: ›Mit Staunen und Zittern‹«, liest auch er. »Klingt ja echt spannend. Wer zittert denn da vor wem? Ist das womöglich ein Ehedrama?«, erkundigt er sich scheinheilig, ohne jedoch zu vergessen, schnell den Kopf einzuziehen.

    »Diese Kopfnüsse, die hat sie sich in Japan angewöhnt. Da soll das so’ne Art von Zärtlichkeit sein«, klärt er schnell die überraschten Gäste auf.

    »Kopfnüsse und Zärtlichkeit? Bist du sicher, dass dein Japanisch noch O.K. ist? Könnt ja sein, dass ein halbes Jahr reicht, um alles zu vergessen. Wer will das schon sagen.« Peter macht amüsiert ein gespielt bedenkliches Gesicht.

    »Nein, das stimmt wirklich, da am anderen Ende der Welt ist alles verdreht«, beteiligt sich auch die Tochter des Hauses mit ironischem Unterton am Gespräch. Elisa ist ein paar Jahre älter als Stefanie und quasi in Japan aufgewachsen. Solche Frotzeleien gingen ihr schon nach der kurzen Zeit der Rückkehr auf die Nerven. Für sie war Japan wie Deutschland praktisch Jacke wie Hose, gehopst wie gesprungen; auch wenn ihre Mutter immer meinte, sie müsse ihre Tochter vorsorglich auf den möglicherweise eintretenden Kulturschock einstimmen, weil nach ihrer Analyse keine größeren interkulturellen Gegensätze existieren könnten als zwischen Japan und Ländern wie Deutschland, die sie immer als westlich bezeichnete.

    Natürlich kann so ein Kulturschock auftreten, aber Elisa wäre es lieber, ihre Mutter würde sich anderen Menschen zuwenden, zum Beispiel Emigranten. Die erzählten immer wieder von interkulturellen Aha-Erlebnissen. Vielleicht, weil ihr die Verpackung, die auf der Fete bewundert worden war, wieder einfiel, erinnerte sie sich an eine Stelle in ›Septembertee oder das geliehene Leben‹ von Renan Demirkan. Welcher Verlag war das noch? Ach ja, Aufbau Verlag, 2000. Die Autorin schreibt auf Seite 98: Ich habe zwar ein paar Unterschiede sehr bewusst wahrgenommen, wessen Schulbrot zum Beispiel immer mit glattem, neuem Papier verpackt war, während ich meins öfter benutzten musste, und auch welche Mitschülerin immer eine glatte, gecremte Haut hatte. Aber ich wusste nicht, was ein sozialer Unterschied ist.

    In Deutschland recycelte man ja auch Geschenkpapier. Jedenfalls machte das Elisas Großmutter immer so. Und die war Deutsche. In Japan wäre das vollkommen undenkbar. Der Beschenkte würde das überaus persönlich nehmen und möglicherweise nichts mehr von dem Schenkenden wissen wollen.

    Elisas Mutter hatte einmal erzählt, dass auch sie früher ein Butterbrotpapier so oft benutzt hatte, bis es auseinanderfiel. So ganz allein stand Demirkan mit dieser Sitte also nicht. Elisas Mutter war aber auch nicht die einzige in der Klasse, deren Eltern auf dem Standpunkt standen, dass man auch mit solchen Dingen wie Butterbrotpapier sparsam umgehen sollte.

    »Na, dann sind wir natürlich ganz besonders gespannt auf das Expertenurteil über Amélie-san. Ich fand es einerseits zum Schreien komisch, andererseits spricht sie sicherlich nicht nur Klischees an«, kommt nun Silkes Kommentar.

    »Ich werd’s euch dann später verraten. Sollte ich es zum Schreiben komisch finden, dürft ihr meine geistigen Ergüsse in absehbarer Zeit lesen. Ich geb’ euch dann Bescheid.« Damit beginnt Anette den Kuchen anzuschneiden.

    Ja, Migration. Migranten. In gewisser Weise waren auch sie Migranten gewesen, wenn auch nur für eine überschaubare Zeit. Und natürlich stammten sie selbst aus einer Heimat, Deutschland, die ihnen nicht die Last aufbürdete, für eine Familie in der Ferne sorgen zu müssen, auch nicht, wenn jemand aus der Familie arbeitslos würde. Sie erinnerte sich daran, dass sie einmal ihrem Bruder, als es bei ihm finanziell knapp war, finanzielle Unterstützung angeboten hatte. Er hatte ausgesprochen zurückhaltend reagiert. Zum Glück hatte er kurz darauf wieder Arbeit gefunden, so dass sie ihr Angebot nie mehr wiederholen musste. Seither fragte Anette sich ab und zu, ob er es wohl im Endeffekt überhaupt angenommen hätte.

    »Du, Mama, Karola will sich mit Max in der Tanzschule anmelden. Standardtänze und Rock’n Roll. Meinst du, ich kann da mitgehen? Soll für unsere Penne sogar Ermäßigung geben. Und die Kurse fangen exakt eine Woche nach meinem Geburtstag an.«

    »Was, du hast das Tanzen entdeckt? In Japan warst du doch immer strikt dagegen. Standardtänze – igitt! Worüber ich übrigens durchaus froh war. Welche Mutter sieht ihre Tochter schon gerne in Diskos wie der Juliana, oder wie diese Stripperdisko hieß. Mädchen haben freien Eintritt, wenn sie nur am Rand der Bühne tanzen, damit Mann auch ja von unten den Durchblick hat, dass die Unterwäsche fehlt.«

    Das waren Momente, wo Eltern sich überhaupt nicht mehr wünschten, ihre Kinder würden sich in der Zielkultur integrieren. Das waren just die Momente, in denen Anette auch an ihre Migrationskolleginnen in Deutschland hatte denken müssen. Andererseits taten sich viele auch unnötig schwer mit der Übernahme gegenseitiger Feste. Japaner hatten damit überhaupt keine Probleme. Sie blendeten den religiösen Hintergrund aus, ließen den Kommerz übrig und der Rest ergab sich von selbst. Und auf diese Weise hatten Geburtstags- und Weihnachtsfest schon in Japan Einzug gehalten und sogar das Osterfest war im Kommen und Halloween war mit einer der großen Verkaufsschlager des Jahres.

    Im Gegensatz zu Japan, wo der Kommerz die Übernahme von Kulturgütern bestimmte, waren es bei den Migranten in Deutschland einzelne Individuen, allen voran die Kinder, die ihre Eltern so lange bearbeiteten, bis diese schließlich den Tannenbaum im Wohnzimmer erlaubten. Demirkan beschreibt einen solchen Moment für ihre Familie in ›Septembertee‹ ab Seite 157 ganz ausführlich. Zugleich erklärt sie: Dieses Mitfeiern bedeutete keineswegs, dass wir nun zum Christentum übergetreten waren. […] Es ging auch niemals um eine Deutungshoheit der islamischen Feste gegenüber den christlichen. Diese neuen Feste gehörten eben zu den neuen Menschen, mit denen wir lebten. Es war ein Gebot der Höflichkeit und des Anstands, daran teilzunehmen.

    Ihre Eltern unterstützten im Grunde sogar, dass sie und ihre Schwester sich der neuen Kultur öffneten. Wer sich nicht anpasst, versündigt sich an seinen Kindern. Die bleiben zurück und lernen nichts. Oder sie sagten: Wer sich neuen Anforderungen verschließt und nur aus der Konserve der Herkunft löffelt, ist unterernährt und bleibt dumm.

    »Jetzt reg’ dich nicht noch im Nachhinein auf«, fordert Elisa wieder die volle Konzentration ihrer Mutter. Das war doch längst vor meiner Zeit. Ich will in ’nen ganz normalen Tanzkurs. Jetzt sag’ ja nicht, dass iss’ nur was für Opis und Omis, wie in Japan, dann krieg ich die Krise.«

    »Nun mach mal halb lang. Standardtänze werden in Japan, da gebe ich dir Recht, meist nicht von den ganz jungen Leuten getanzt. Aber meine Generation als Opi und Omi zu betiteln, das würde ich als ernstzunehmende Gefahr für deinen Geburtstagswunsch ansehen«, droht Anette im Spaß. »Apropos, hattest du nicht eigentlich schon eine ganze Latte Geschenkewünsche, oder irre ich mich da?«

    »Ach was, nur den Pulli aus der Boutique am Bahnhof und die tolle Jeans aus dem Jeansshop daneben.«

    Schnell fügt sie mit einem Blick auf ihre Mutter, deren Augen verrieten, dass das nun doch etwas viel sei, hinzu: »Na ja, den neuen Pulli aus der Boutique, den kann ich mir ja notfalls auch selber nachstricken und die alte Jeans tut es in dem Fall auch noch ein Jahr.«

    »Aha, also kein anderer Wunsch außer einem Tanzkurs? Das ließe sich überlegen.«

    »Ja, wie soll ich das sagen? Das wäre natürlich bombastisch, aber Karola und Max gehen parallel dazu auch noch in den Rock’n Roll-Kurs.«

    »Hm, beides zu einem Geburtstag? Hast du denn kein Geld mehr in der Spardose?«

    »Doch, schon.«

    »Dann würde ich sagen, einen Kurs zum Geburtstag und den anderen …«, bleibt Anette hart.

    »Und da waren wir so lange in Japan, wo die Eltern ihren Kindern alles Nötige und Unnötige finanzieren, wenn sie nur die richtige Kyōiku-mama haben«, nimmt Elisa einen neuen Anlauf.

    »Dann hättest du dir halt die richtige Kyōiku-mama aus Japan mitbringen müssen, die mit der außerschulischen Erziehung schon fast im Säuglingsalter beginnt«, kontert Anette und zwinkert ihrer Tochter zu. »In Japan sind ja auch Adoptionen unter Erwachsenen kein Thema. Also flieg zurück und such dir halt eine Goldesel-kyōiku-mama nach Maß.« Anette pufft ihre Tochter freundschaftlich in die Seite.

    Elisa gibt sich geschlagen. Sie wechselt das Thema. »Sag mal, hast du das Erdbebenbuch schon durchgelesen?«

    »Was für ein Erdbebenbuch?«

    »Na, das von Silke und Peter.«

    »Das ist ein Roman mit dem Titel ›Mit Staunen und Zittern‹. Das hat mit Erderschütterungen nichts zu tun. Hast du mich abends im Bett wiehern hören? Das Buch ist zum Schreien komisch. Na gut, ich gestehe, aus meiner Sicht stellt die Romanheldin etwas zweifelhafte Japanunkenntnis zur Schau, was aber der westliche Leser nicht erklärt bekommt, aber das macht den Roman ja gerade so witzig. Kannst du gerne auch mal lesen.«

    2 Amélie-san und Sisyphos

    »Das Buch ist ja echt die Härte«, begeistert sich Elisa.

    »Und, ist dir was aufgefallen? Ich meine in Bezug auf die Unterschiedlichkeit der Sitten in Japan und Belgien? Amélie-san ist zwar eine Belgierin, wie die Autorin gleichen Vornamens auch, aber für das Romangeschehen könnte sie ja genauso gut eine Deutsche, Österreicherin oder Schweizerin sein, findest du nicht?«, beginnt Anette.

    »Und warum nicht Luxemburgerin oder Liechtensteinerin?«, will Elisa wissen. »Du sagst doch immer, dass du es vermeidest, die deutsche Sprache und Kultur auf ein Land zu beschränken.«

    »Du hast natürlich Recht. Aber unter uns im Gespräch erzählt es sich so halt einfacher. Ich unterstelle jetzt mal ganz einfach, dass der Rest des deutschsprachigen Kulturraums es mir nachsehen wird, wenn ich mich, hier in unserem Wohnzimmer mit meiner Tochter, auf die Umgangssprache beschränke.« Anette setzt eine gespielt strenge Miene auf. »Also, was ist dir aufgefallen?«

    »Ich verstehe nicht, wieso Amélie-san so ironisch wird, wenn sie beschreibt, dass sie am ersten Tag in der Firma warten muss. Und ich verstehe auch nicht, warum man sie hat warten lassen. Japaner sind doch immer pünktlich. Die wussten doch, dass an dem Tag eine Neue kommt.«

    »O.K. Dann rekapituliere ich noch einmal kurz das Romangeschehen. Das macht die Sache einfacher:

    Der 8. Januar 1990 war der Tag in Amélie-sans Leben, denn selbiger war ihr erster Arbeitstag in einem japanischen Unternehmen mit dem Roman-Namen Yumimoto. Nein, ich sollte besser sagen: Am Morgen ging Amélie-san noch davon aus, dass es ihr erster Arbeitstag werden würde. Doch auch wenn sie den ganzen Tag bei Yumimoto verbracht hatte, das Gefühl »gearbeitet« zu haben, wollte einfach nicht aufkommen. Kommt es natürlich auch nicht beim Leser, denn, wie der berühmte König von Korinth, besser bekannt unter dem Namen Sisyphos, – der immer wieder den Stein den Berg hochzurollen versuchte, welcher jedoch im entscheidenden Moment immer wieder die Gegenrichtung einschlug –, musste die arme Amélie-san immer wieder den gleichen Brief an ein und denselben Golfpartner des Vorgesetzten ihrer direkten Vorgesetzten schreiben.«

    »Genau«, fällt Elisa ihrer Mutter ins Wort. »Und nur, um zuzusehen, wie er nach Beendigung ungelesen im Papierkorb verschwindet.«

    »Ja, und darüber hätte sich Amélie-san sehr wundern müssen, denn schließlich musste dieser Vorgesetzte wissen, dass eine solche Sisyphos-Arbeit das Unternehmen Geld kostet, nämlich das Arbeitsentgelt, das Amélie-san am Monatsende erhalten würde. Aber statt sich zu wundern, reizt das für sie ungewöhnliche und unerklärliche Verhalten ihren Humor.«

    »Ja, ja, sie schreibt ja, es sei eine Herausforderung, die eigenen Englischkenntnisse testen zu dürfen, indem sie ihrem nach Arbeit lechzenden Hirn immer weitere Formulierungsvarianten entlockt«, spinnt Elisa den Faden weiter. »Aber ein bisschen verwundert ist sie doch, oder?«

    »Ja, das ist sie in der Tat. Denn Amélie-san ist Europäerin und in Europa pflegt man Mitarbeiter so einzusetzen, dass sie Arbeiten verrichten, die dem Unternehmen nützen. Schließlich zahlt der Arbeitgeber seinen Mitarbeitern ein entsprechendes Entgelt. Für Nichtstun pflegt man niemanden zu bezahlen. – In der Regel, meine ich!«

    »Ja, sogar Praktikanten wollen schon halbwegs sinnvoll eingesetzt werden.«

    »Genau. Darum käme ein Vorgesetzter weder in Belgien noch in Deutschland oder einem anderen gleichdenkenden Land auf die Idee, eine vergleichbare Sisyphos-Briefaktion in Auftrag zu geben. Und weil Amélie-san derart sozialisiert ist, meldet sich bei ihr auch der Humor, als sich die Prozedur zum zigsten Male wiederholt.«

    »Ah, das heißt, dass sie diesen Vorgesetzten bereits am ersten Tag insgeheim als ›abgehakt‹ betrachtet. Das meinst du doch, oder? In ihren Augen stellt sich die Situation so dar: Warum kann in diesem Unternehmen ein offenbar unfähiger Mensch in eine derart hohe Position aufsteigen? Hab ich Recht?«

    »Genau. Du hast das schon sehr gut verstanden. Weil Amélie-san die Handlungen ihrer Umgebung nicht einordnen kann, sie nicht versteht, geht sie darüber mit Humor hinweg. Das ist sehr gefährlich, doch eine Reaktion, wie sie immer wieder anzutreffen ist. Aber warte erst mal ab.«

    Anette lässt sich etwas Zeit, dann fährt sie fort: »Was Amélie-san mit Sicherheit nicht gemacht hat, ist, über die einleitenden Worte, mit denen der Vorgesetzte ihrer Vorgesetzten ihr den Auftrag erteilt hatte, nachzudenken. Nachdem er zuvor Amélie-san als Neue den Kollegen in der Firma vorgestellt hatte, fragt er sie, ob sie Herausforderungen liebe. Ist dir der Satz nicht quer runtergegangen?«

    »Hm, stimmt. So etwas fragt man in Japan doch gar nicht«, pflichtet Elisa ihrer Mutter bei.

    »Richtig. Tut man es dennoch, hat es eine festgelegte Bedeutung. Und zwar eine äußerst negative. Es deutet darauf hin, dass zuvor der betreffende Ausländer in den Augen dieses Japaners etwas falsch gemacht hat, oder dass dieser betreffende Japaner früher schlechte Erfahrungen mit Ausländern gemacht hat, die diese Redewendung mehrfach verwendet haben. Da eine direkte verbale Klärung in Japan nicht üblich ist, wählt man eine andere Art, diesem Menschen seine Abneigung zu zeigen, man beginnt, ihm nach dem Mund zu reden. In Japan herrscht nämlich gesellschaftliche Übereinkunft dahingehend, dass es sehr dumm ist, sich aufzulehnen, und dass man Menschen, die diese Dummheit begehen, besser Recht gibt.«

    »Ja, das hab’ ich in der Schule gemerkt, das war immer ein krasser Gegensatz, wenn ich wieder nach Hause kam und ihr euch so ganz anders verhalten habt, mit euren ständigen Diskussionen und so. Weiter Gedanken darüber gemacht hab’ ich mir aber nie. – Hm. Und weil Amélie-san diese Zusammenhänge nicht erkennt, sagt sie auch noch ›Ja‹, obwohl sie hätte schweigen müssen. Das heißt, sie fühlt sich zu dieser Antwort wahrscheinlich regelrecht verpflichtet! Der Vorgesetzte stellt ihr eine Frage, die muss sie irgendwie beantworten«, überlegt Elisa.

    »Und weil diese Antwort in Japan anders interpretiert wird, hat sie sich damit in den Augen dieses Vorgesetzten auf eine Stufe begeben, die ihr im Folgenden schaden muss. Sie jedoch findet diese Antwort überaus normal, weshalb ihr Kommentar auf Seite 7 dazu eher ironisch ausfällt: Das war das erste Wort, das ich in der Firma geäußert hatte. Bis dahin hatte ich mich darauf beschränkt, den Kopf zu neigen.

    Nach diesem ›Ja‹ ob ihrer Liebe zu Herausforderungen wird sie nun also aufgefordert, einen Brief an einen europäischen Geschäftspartner auf Englisch zu schreiben. Der Inhalt wird ihr vorgesagt. Da begeht sie ihren nächsten Fehler. Statt schweigend zu schreiben, fragt sie auch noch, wer dieser Herr sei. Antwort: Ein genervtes Grunzen. Das Wissen, was für eine Arbeit man konkret verrichtet, und das Ausführen derselben scheinen also verschiedenen Welten anzugehören.«

    »Nein! Bei wichtigen Arbeiten erklären auch japanische Vorgesetzte sehr wohl und sogar ausgesprochen ausführlich!«, protestiert Elisa.

    »Bei wichtigen schon! In diesem speziellen Fall hatte die arme Amélie-san schlichtweg nicht erkannt, dass es gar keine Arbeit im eigentlichen Sinne sein sollte, sondern dass dieser Vorgesetzte sie einfach einer Beschäftigungstherapie unterzog, solange ihre direkte Vorgesetzte, die ihr eigentlich hätte ihre Aufgaben zuteilen sollen, in einer Besprechung war.

    Amélie-sans Gedankengänge gingen hingegen wohl eher in eine andere Richtung. Vermutlich ist ihr das selbst in keinster Weise bewusst gewesen, doch natürlich ging sie als Europäerin davon aus, dass ein solcher Vorgesetzter, noch dazu einer höheren Grades – also ein Vorgesetzter eines oder einer Vorgesetzten – in einem europäischen Land wie Belgien oder Deutschland mit einer derart unsinnigen Aufgabenstellung den Unmut seiner Kollegen, und insbesondere seiner Vorgesetzten, heraufbeschwören würde. Und wohl deshalb macht sie sich dann auf Seite 9 über ihn lustig: Es fing gerade an Spaß zu machen, […]. Er zerriss den weißichwievielten Brief, ohne ihn auch nur gelesen zu haben, und sagte mir, dass Fräulein Mori nun da sei, […]

    »Und mit dem Erscheinen von Amélie-sans direkter Vorgesetzten war dann ja auch wirklich die Brief-Formulierungsaktion völlig unvermittelt beendet.« Elisa war begeistert von den Ausführungen ihrer Mutter. Sofort fielen ihr mehrere Beispiele ein, wo Eltern ihrer Freundinnen sich über Japaner und deren »Umstandsknubbelei«, wie sie es nannten, völlig entnervt geäußert hatten. Aber sie wollte ihre Mutter jetzt nicht unterbrechen. Sie würde schon noch eine Möglichkeit finden, diese Erlebnisse aus dem Nähkästchen aufzuarbeiten.

    Anette fuhr fort: »Amélie-sans direkte Vorgesetzte war, wie gesagt, noch in einer Besprechung, als Amélie-san ihren ersten Arbeitstag begann – in einer dieser vielen Besprechungen, die Japaner über alles lieben, ohne die keine Arbeitswoche vergeht. Mindestens einmal, doch besser noch zweimal und bei Bedarf auch dreimal oder noch öfter, treffen sich die Beschäftigten der Abteilungen, der Unterabteilungen und der Oberabteilungen und so weiter. Hätte Amélie-san die Hierarchieleiter gekannt und beachtet, hätte allein die Aufgabenstellung der Briefschreibe-Aktion ihr verraten, dass dieser Vorgesetzte nicht wirklich derjenige war, der ihr Aufgaben zuteilen sollte. Und sie hätte erkannt, dass dieser Vorgesetzte ihrer direkten Vorgesetzten komatta war, also in arger Verlegenheit. Was sollte er tun mit dieser neuen Gaijn, dieser neuen Ausländerin, für die er gar nicht wirklich zuständig war, was er ihr aber auf keinen Fall direkt sagen wollte oder vielleicht auch nicht konnte, und für die er natürlich auch keinerlei Arbeit hatte.

    Die Tatsache jedoch, dass es offenbar keinerlei Absprache zwischen ihm und Amélie-sans direkter Vorgesetzter gegeben hatte, was bei Amélie-sans Eintreffen zu tun sei, hätte Letzterer ein wichtiger Hinweis sein müssen, nämlich über die Stellung, die ihr in diesem Unternehmen zugewiesen, oder besser gesagt, zugebilligt worden war.«

    »Ja, ja! So unwichtig, dass es nicht die Mühe lohnt, vorherige Absprachen über Arbeitsinhalte zu treffen oder für ihre Begrüßung die Sitzung auch nur eine halbe Minute zu verlassen! – Das meinst du doch, oder?«, vergewissert sich Elisa.

    »Exakt getroffen. Und das, obwohl Augenzeugen immer wieder berichten, dass in solchen Sitzungen die Mitarbeiter, die die Wichtigkeit ihrer eigenen Person und die der Sitzung richtig einzuschätzen gelernt haben, sich heimlich, still und leise ein zusätzliches Mützchen Schlaf gönnen. Richtig fest einschlafen, als wären sie in der Bahn, der Bibliothek oder säßen in der Uni, also den öffentlich anerkannten Schlafstätten in Japan. Ist aber gar nicht so unverständlich, wenn man weiß, dass viele eineinhalb oder gar zwei Stunden zur Arbeit oder zur Uni pendeln. Ist außerdem aber auch gar nicht weiter tragisch, denn die Ergebnisse der Sitzungen werden, soweit sie von allgemeinem Belang sind, per Kairan-ban, dem internen DIN-A4-Zirkular, das auf eine Schreibunterlage geheftet wird, bekannt gegeben. Hast du mal so ein Teil gesehen?«

    »Ne, aber gehört habe ich davon schon. Auch von den langen Anfahrtszeiten. Die Schwester von der Nozomi, die studiert ja schon, genau wie ihr Bruder. Die musste sogar noch mehr als zwei Stunden täglich fahren, weil sie mit ihrem Bruder zusammen wohnen musste und der in der Nähe seiner Uni ein Zimmer haben wollte. Das hat mich total aufgeregt, als ich das gehört habe. Die arme Nozomi muss schon um 6 Uhr in den Zug steigen, und der Typ, der nur mit Ach und Krach ins zweite Studienjahr, 3. Semester meine ich, gekommen ist, der geht gerade mal ein paar Minuten zu Fuß. Der sollte mal ’n paar Semester in Europa studieren, damit er mitkriegt, dass es auch das ›Ladies-first-Denken‹ gibt.« Elisa beginnt sich aufzuregen.

    »Ja, das ist in von Männern dominierten Gesellschaften halt so. Japan ist in dieser Hinsicht recht ähnlich wie konservativ islamische Länder.«

    »Was? Mensch, Mama, das ist doch wohl nicht dein Ernst? Da würde garantiert niemand auf die Idee kommen, Eisenbahnwaggons mit schuluniformierten Mädchen zu füllen, die sich dann angrapschen lassen, nur weil die geilen Typen in der Gesellschaft nicht mehr wissen, wohin mit ihrem Trieb.«

    »Jetzt bleibe aber bitte auf dem Teppich. Ich meine den Vergleich in Bezug auf anständige Mädchen und die Beschützerrolle, die ihr Bruder ihnen gegenüber einnimmt, beziehungsweise die Erwartungshaltung der Familie, dass er dies tut. Da weisen die beiden Kulturen durchaus diverse Ähnlichkeiten auf, auch wenn man sich in Japan immer mehr dem Westen anpasst. Im Übrigen muss ich mich wundern, wie alt du eigentlich bist. Ich glaube, Vati und mir ist da etwas entgangen. Kann das sein?«

    »Ich kann schließlich Japanisch lesen«, kontert Elisa.

    »Was meinst du denn damit?« Ihrer Mutter schwant etwas.

    »Nun ja, Vati hatte auf seinem Tisch doch immer die Nikkei Gendai liegen. Und in den Bahnnetzen lagen sie auch immer herum, wenn die braven Ehemänner sie nach der Lektüre in der Bahnöffentlichkeit doch lieber nicht mit nach Hause nehmen wollten. Warum eigentlich nicht? Genieren sie sich etwa vor ihren Ehefrauen? Egal, aber da kriegt man schon das ein oder andere Foto oder den einen oder anderen Artikel mit.« Elisa grinst beim Anblick des entgeisterten Gesichts ihrer Mutter.

    Die fängt sich aber schneller als erwartet und meint nur trocken: »Na, dann können wir dich ja jetzt als aufgeklärt betrachten. – Also zurück zum Kairanban. Das ist so ähnlich wie das Teil, das bei uns immer in der Nachbarschaft rumgegangen ist, wo jeder seinen Stempel drunter gesetzt hat, bevor er es weitergereicht hat.«

    »Ja, ja, weiß ich noch«, erinnert Elisa sich voller Begeisterung. »Einmal ist doch die Frau Hanapuchi so sauer geworden, als ihr Vetter von der Chōnaikai Spendengelder einheimsen und Frau Hanapuchi dafür benutzen wollte.«

    »Ja, sie hat für ihn per Kairanban, dem Informationszirkular der Nachbarschaft, die Umschläge verteilt, um auf diese Weise zum Spenden aufzufordern. Und damit sie auch ja mitbekam, wer ihre Message gelesen hat – also wer den Stempel aufgedrückt hat, um zu bekunden, dass er den Inhalt zur Kenntnis genommen hat – hat sie sogar die Umschläge mit dem Handzettel handschriftlich mit Namen versehen.«

    »Und dabei kam heraus, dass außer uns keiner den Umschlag überhaupt angenommen hat, geschweige denn etwas gespendet. Das war echt irre!«, freut sich Elisa und beginnt mit ihrer Mutter in Erinnerungen zu schwelgen.

    »Wobei wir natürlich auch nicht gespendet haben«, lacht Anette.

    Die Chōnaikai, die erweiterte Nachbarschaft, hält regelmäßig Versammlungen ab, wählt einen Vorsitzenden und hält die Kommunikation mit den Behörden auf Stadtebene aufrecht. »Damals habe ich unverdient einen guten Eindruck gemacht. Ich weiß noch, in dem Moment, als ich das Kairanban nebenan in den Briefkasten stecken wollte, fiel mein Blick auf die handgeschriebenen Namen. Da bin ich schnell noch mal ins Haus und habe den uns zugedachten Umschlag rausgesucht. Mann, was hat die Frau sich geärgert, dass keiner was von ihrer Vettern-Aktion wissen wollte. Das war sozusagen ein persönlicher Affront. Dabei haben die anderen nur das gemacht, was sie immer machen. Kaum einen Blick auf die ach-so-wichtigen Informationen werfen, Namensstempel drauf und ab damit in den nächsten nachbarlichen Briefkasten«, erinnert sich auch Anette.

    »O.K. Lassen wir die Vergangenheit ruhen.« Anette nimmt jedoch sogleich den Faden wieder auf. »In Amélie-sans Firma werden also wichtige Mitteilungen auf diese Weise verbreitet und jeder einzelne Mitarbeiter nimmt den Inhalt, da aber wirklich (!), zur Kenntnis und setzt seinen Namensstempel als Bestätigung darunter. Wenn etwas per Kairanban in der Firma herumgegangen ist, wird es echt peinlich, wenn ein Mitarbeiter davon nichts weiß.

    Von all diesen Firmengewohnheiten hatte Amélie-san offensichtlich nichts begriffen, weshalb sie auch in den folgenden Tagen und Wochen nicht nur die Hoffnung auf ›echte‹ Arbeit nie aufgibt, sondern sogar versucht, sie zu erzwingen. Dies hat sie natürlich nicht bewusst gemacht, sondern durch bestimmte Handlungen, die zum Teil impulsiv ausgeführt wurden. Und diese Handlungen wiederum mussten bei ihren japanischen Kollegen den Eindruck entstehen lassen, sie sei als Europäerin in die Firma gekommen, um ihnen zu zeigen, wo es langgeht. In einer Gesellschaft wie der japanischen, in der der Wunsch oder die Anweisung eines Gruppenobersten so gut wie nie in Frage gestellt wird, assoziiert man mit selbstständigem Handeln auch zu Beginn des dritten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung noch keineswegs selbstbewusstes Verhalten, sondern interpretiert es als herrisch und in manchen Fällen sogar als aufrührerisch, beziehungsweise als Sabotage gegenüber dem Unternehmen. Das wiederum bedeutet: Derartiges Verhalten muss gestoppt werden!«

    »Ich ahne, worauf deine Ausführungen hinauslaufen«, freut sich Elisa. »Dafür gibt es dann für Japan typische Methoden, von denen hier keiner ’was ahnt.«

    »Ja. Und wie sehr Amélie-san in ihrem europäischen Denken verhaftet ist und das japanische Denken nicht erkennt beziehungsweise überhaupt kennt und deshalb auch nicht nachvollziehen kann, wird darüber hinaus an ihren Äußerungen deutlich, als sie beispielsweise beschreibt, wie der Vorgesetzte des Vorgesetzten ihrer direkten Vorgesetzten diese vor allen Anwesenden niedermacht. Sie selbst grämt sich noch Jahre später, dass sie nicht aufgestanden und für ihre Kollegin eingetreten ist. Sie fasst ihre Gedanken schließlich in der rhetorischen Frage: War das Schlimmste nicht unsere absolute Fügsamkeit gegen die Autorität? zusammen. So steht es hier auf Seite 103. Pech gehabt, dieses Denken stößt in Japan auf völliges Unverständnis. Dort existiert die Idee von Zivilcourage nicht. Und auch nicht die, dass es eine Instanz über den Machthabern geben könnte, wie sie in europäisch-demokratischen Staaten das Grundgesetz bzw. die Verfassung darstellt.«

    »Ja, bei Zivilcourage, da muss ich sofort wieder an den Koreaner denken, der auf die Gleise gesprungen ist, um einem betrunkenen Japaner, der vom Bahnsteig gefallen war, das Leben zu retten und dabei seins verlor. Als diese Heldentat durch die Presse ging, fanden die Japaner das so peinlich, dass es kurz darauf Japaner nachgemacht haben und dabei dann auch ums Leben gekommen sind!« Elisa überlegt etwas. »Da war doch aber noch so ein Fall, ein Bergsteiger. Ein junger Bergsteiger aus, woher kam der noch gleich? – Egal, war auf jeden Fall kein Japaner. Der hatte sich unglücklich mit dem Arm in einer Felsspalte verklemmt, und sich nur dadurch das Leben retten können, dass er sich den Arm abgeschnitten hat. Kaum ging dieses Ereignis durch die Presse, kam die Meldung, dass ein junger Japaner es ihm gleichgetan hätte, nur der hätte sich auch anders aus seiner misslichen Lage befreien können.«

    »Ja, der Drang, dieselben Sensationsmeldungen hervorzurufen wie Menschen anderer Länder ist unvorstellbar groß. Aber zurück zu Amélie-san und dem Rechtsdenken der Japaner. Selbstverständlich hat auch Japan eine Verfassung und ein ausgefeiltes Rechtssystem. Das Problem ist nur, dass geschriebene Gesetze im Alltagsleben offenbar nur eine untergeordnete Rolle spielen.«

    »Ist doch klar. Die schriftlichen Gesetze fußen ja gar nicht auf japanischem Gedankengut, sondern auf europäisch-amerikanischem. Das sagen die Japaner doch selbst immer. Ich fand immer, das klang wie eine unterschwellige Drohung«, pflichtet Elisa ihrer Mutter bei. »Zumindest kam es mir schon öfter mal spanisch vor. – Wo kommt eigentlich dieser Ausdruck her? Spanien ist doch in Europa und damit in den Augen der anderen Europäer gar nicht so seltsam, oder?«

    Anette lacht. »Na, du kannst Fragen stellen. Der Spruch soll auf die Spanier in Wien zurückgehen. Als im 18. Jahrhundert Karl V oder VI die Spanische Hofreitschule in Wien etablierte, holte er natürlich auch spanische Bereiter mit ins Land. Die Pferde, die Lipizzaner, stammten ebenfalls ursprünglich aus Spanien. Und da die zweibeinigen Spanier in den Augen der Bewohner der damaligen Habsburger Monarchie in ihrem Verhalten von dem gängigen abwichen, sagte man sehr schnell: ›Das kommt mir aber spanisch vor‹, wenn man etwas als anders empfand.«

    »Das ist ja unglaublich, dass keiner mehr weiß warum, aber alle noch diesen Spruch auf den Lippen haben.«

    »Ja, Sprache vergisst so schnell nicht. Egal ob es die Redewendung sich etwas durch die Lappen gehen lassen ist, die aus der Jägersprache stammt, oder Wörter wie Kneipe, was ursprünglich eine Diebesherberge bezeichnete, alles hat einen Ursprung, und vielfach einen, über den wir uns heutzutage wundern. Aber zurück zu unserem Thema. Vielleicht einigen wir uns besser darauf, es als Warnung zu bezeichnen. Unser Rechtsdenken ist in der japanischen Tradition logischerweise nicht verhaftet. Man hat also schriftliche Gesetze fixiert, deren Grundgedanken der Bevölkerung fremd waren und, aufgrund unzureichender Aufklärung durch die Obrigkeit, immer noch sind. Und was der Mensch nicht versteht, meidet er.«

    »Das ist bestimmt auch der Grund, warum das Saiban’in-System mit seinen Laienrichtern, die nicht im juristischen Bereich zu Hause sind, und das 2009 eingeführt wurde, zu so gravierend unterschiedlichen Urteilen kommt wie die Berufsrichter«, sinniert Elisa. »Und das ist sicher auch der Grund, warum es so viele Europäer und Amerikaner in Japan nicht aushalten. Sie verstehen die Handlungen der Japaner nicht, und, um das Land und seine Bewohner zu meiden, gehen sie wieder zurück oder zumindest in ein anderes Land?«

    »Ja, doch, so kann man das, glaube ich, durchaus sagen. Denn im Alltagsleben legt man bis in die Gegenwart das japanische, historisch tradierte, Rechtsdenken zugrunde, das bislang kaum ein westlicher Ausländer, womöglich auch kein fernöstlicher, wirklich verstanden hat.«

    »Ach, das hat Professor Kunada gemeint, als er dir sagte, du seiest die erste Westlerin, von der er glaubt, sie hätte die japanische Seele verstanden.«

    »Ja, richtig. Um es etwas klarer auszudrücken: Es haben sich in der japanischen Enkulturation, also der Erziehung zum Zusammenleben in der Gesellschaft, Mechanismen herausgebildet, die die Inanspruchnahme des modernen geschriebenen Rechts verhindern. Die Obrigkeit scheint ihr Übriges zu tun, um die Inanspruchnahme möglichst gering zu halten.«

    »Wie meinst du das?«

    »Dazu gehört mangelnde Rechtsaufklärung, Aufbürdung hoher Gerichtskosten auch im Falle eines Sieges vor Gericht. Da zudem Länge und Ausgang eines Prozesses nicht vorher abzusehen sind, gebietet es die Logik, dass Aufwand-Nutzen-Erwägungen in den Vordergrund rücken. Zu welchen Exzessen derartige kollektive Ängste aufgrund von Rechtsunsicherheit führen, erkennt man daran, dass, wie mittlerweile mehrfach von ausländischer Seite schriftlich formuliert wurde, im Land der aufgehenden Sonne die Unterwelt sich auf vom Gesetz nicht vorgesehene Richterstühle gesetzt hat. Ob Benjamin Fulford in ›The Yakuza Recession: Another Lost Decade‹ oder Wolfgang Herbert in ›Japan nach Sonnenuntergang – Unter Gangstern, Illegalen und Tagelöhnern‹ oder Christoph Neumann in ›Darum nerven Japaner. Der ungeschminkte Wahnsinn des japanischen Alltags‹. Sie alle kommen zu demselben Ergebnis. »Gütliche Einigungen«, ob mit oder ohne Zutun aus der Unterwelt, sind an der Tagesordnung.

    Andererseits ist zum Beispiel Unfallflucht auch bei bloßer Sachbeschädigung extrem häufig. Und weil die Autoritäten wissen, dass sich keiner gegen sie auflehnt, erübrigt es sich, klare Anweisungen zu geben. Man lässt alles im Wischiwaschi-Bereich und bewirkt damit eine allseitige Vorsicht.«

    »… entschuldige ich mich schon einmal auf Verdacht,

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