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Die Willinger Codes
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eBook392 Seiten6 Stunden

Die Willinger Codes

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Über dieses E-Book

Zwei zerstrittene Brüder, zwei Freunde mit einem gemeinsamen Ziel, dazu ein hartnäckiger Ermittler und eine gefährliche Software. Aus dieser Mixtur entsteht ein Kriminalfall, der sich rund um den Globus erstreckt und letztlich in Japan seinen Höhepunkt findet.
Was für Christopher Willinger als lukratives Geschäft seinen Anfang nimmt, das entwickelt sich für ihn und die übrigen Protagonisten schnell zu einem gefährlichen Spiel um Macht und Einfluss. Immer mit dabei ist der Wunsch nach Gerechtigkeit für lange zurückliegendes Leid. Was wird am Ende siegen, die unmenschliche Gier nach immer mehr oder die Erkenntnis, das kein Unrecht ungesühnt bleibt?
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum26. Nov. 2020
ISBN9783740703271
Die Willinger Codes
Autor

Christian Schultze

Christian Schultze wurde 1967 in Berlin geboren und verbrachte seine gesamte Kindheit und Jugend im damals freien Teil der Stadt. Nach dem Realschulabschluss absolvierte er eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann. Während dieser Zeit erhielt er Kontakt zum Glauben, konvertierte von der evangelischen zur römisch-katholischen Kirche und entschied sich, nach der Ausbildung Berlin zu verlassen, in Bayern das Abitur nachzuholen und katholische Theologie zu studieren, um Priester werden zu können. Nach dem erfolgreichen Abitur 1992 folgte der Eintritt ins Priesterseminar sowie das Studium der katholischen Theologie, das 1998 mit dem Diplom endete. Die Diakonenweihe erfolgte im Dezember 1998 und die Priesterweihe im Juni 1999. Bis zu seinem Coming-out im Jahre 2007 und der Entlassung aus dem priesterlichen und kirchlichen Dienst war er in verschiedenen Pfarreien als Kaplan beziehungsweise als Pfarradministrator tätig. Die Jahre 2005 und 2006 waren geprägt von dem Wunsch, sich einer Ordensgemeinschaft anzuschließen. Nach der Entlassung durch seinen Bischof folgten zwei Jahre Aufenthalt in der Heimat, bevor Christian Schultze zurück nach Bayern ging, Zugang zur LGBT-Community fand und beruflich für sie tätig war. Seit 2017 ist er mit seinem Partner glücklich verheiratet, freiberuflich als Texter, Autor und Ghostwriter tätig und hat bis jetzt fünf Werke veröffentlicht.

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    Buchvorschau

    Die Willinger Codes - Christian Schultze

    Die Klimaanlage surrte laut. Das Jahr 1998 war wieder mal eines der für Tokio so typischen heißen Jahre. Die riesige, in die Außenwand eingelassene Anlage schaffte es kaum, die Räume im Haus wenigstens auf eine einigermaßen erträgliche Temperatur herunterzukühlen. Dabei war es bereits kurz nach 21 Uhr, trotzdem herrschten draußen noch tropische Temperaturen. »Haruki, Takashi, macht ihr euch bitte fürs Bett fertig, es ist schon spät. Vergesst das Zähneputzen nicht.« Die beiden Jungen spielten in ihrem Zimmer, als sie die Aufforderung von Misses Takada von unten vernahmen. »Ja, Mum, wir gehen gleich ins Bad, lass uns noch diese Runde fertig spielen, bitte!«, versuchte Haruki noch ein paar zusätzliche Minuten vor der Spielkonsole herauszuschlagen. »Also gut, aber sobald ihr mit der Runde durch seid, ab ins Bett, ihr habt morgen wieder Schule und müsst ausgeschlafen sein.« Haruki und Takashi lachten und klatschten sich ab, jetzt konnten sie noch ein bisschen weiterspielen und vergaßen dabei vollkommen die Zeit. Kinder halt, wenn sie tun, was ihnen Spaß macht!

    Eine Viertelstunde später stand plötzlich Harukis Mutter mit einem nicht mehr ganz so freundlichen Gesichtsausdruck in der Tür. »Ihr hattet doch versprochen, euch bettfertig zu machen und jetzt sitzt ihr immer noch vor dem Fernseher, ihr Rabauken. Ich glaube, ich muss euch die Konsole mal eine Zeit lang wegnehmen.« Haruki und seinem Kumpel stand der Schreck ins Gesicht geschrieben. »Entschuldige Mum, das Spiel war so spannend und ich war drauf und dran, gegen Takashi zu verlieren. Aber wir gehen sofort ins Bad und putzen uns auch gaaanz gründlich die Zähne, Ehrenwort.« Die beiden legten ihre Joysticks weg, schalteten die Flimmerkiste aus und rasten zusammen ins Bad. »Euch zwei kann man einfach nicht trennen, sogar ins Badezimmer geht ihr gemeinsam.« Haruki und Takashi lachten. »Wir sind halt die allerbesten Freunde Mum, da macht man das so, stimmt’s?«, meinte er in Richtung seines Freundes und stieß diesem den Ellbogen in die Seite. Die beiden waren 12 Jahre alt und von ihrem Wesen her ähnlich gestrickt. Man konnte sie getrost als absolute Frohnaturen bezeichnen. Die Tage im Jahr, in denen im Haus der Takadas nicht gelacht und rumgealbert wurde, ließen sich an einer Hand abzählen. Bei Geschwistern wäre das keine Überraschung, aber Takashi war nicht Harukis leiblicher Bruder. Seine Eltern waren vor nicht mal einem halben Jahr bei einem schrecklichen Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Herr Yamamoto war mit seiner Frau auf dem Heimweg von einem Geschäftsessen, als er die Kontrolle über den Wagen verlor und frontal in einen entgegenkommenden Lkw raste. Beide waren laut der Autopsie aufgrund schwerster, innerer Verletzungen sofort tot und bekamen gar nicht mehr mit, wie ihr Auto Feuer fing und vollständig ausbrannte. Takashi hatte damals bei einer Tante übernachtet und erfuhr am nächsten Tag durch eine Mitarbeiterin des Jugendamtes, dass etwas schlimmes passiert war. Trotz seines jungen Alters verstand er damals sofort, dass die Eltern nicht mehr zurückkamen. Obwohl es ihm schwerfiel, so versuchte er, sich von der Situation nicht unterkriegen zu lassen.

    Dabei war ihm sein bester Kumpel Haruki eine große Stütze. Dieser versuchte, ihn abzulenken und so manches Mal, wenn Takashi den Tränen nahe war, legte sein Freund den Arm um Takashis Schultern und munterte ihn mit einem seiner Sprüche auf. Durch den Unfalltod der Eltern wurde die Freundschaft zwischen ihnen noch viel stärker und tiefer, als sie es vor dem Unfall ohnehin schon war. Harukis Familie lebte ganz in der Nähe und erfuhr vom Schicksal des Jungen. Da er ein so guter Freund ihres Sohnes war, boten sie den Behörden an, ihn bei sich aufzunehmen. Seitdem lebte Takashi bei ihnen und sie hatten sogar vor, ihn zu adoptieren. Die benötigten Papiere lagen schon im Arbeitszimmer von Harukis Dad bereit. Hayato Takada war Buchhalter, arbeitete für unterschiedliche Konzerne und verdiente sehr gut. Seine Frau war als Lehrerin tätig. Deshalb würde ein weiteres Kind in der Familie kein Problem darstellen und sie wünschten sich ohnehin wenigstens drei Sprösslinge. Die Takadas hatten mit ihrer 14-jährigen Tochter Yui und ihrem Sohn Haruki bereits zwei Kinder und Takashi passte einfach sehr gut zu ihnen. So planten sie also eine Erweiterung der Familie. In den nächsten Tagen wollten sie Takashi von ihrem Vorhaben erzählen, ihn zu einem echten Takada zu machen. Bis dahin sollte niemand, auch nicht Haruki oder Yui und schon gar nicht Takashi, von ihrem Plan erfahren.

    Nach dem Zähneputzen wollten die beiden in ihrem Zimmer verschwinden, aber Misses Takada hielt sie auf. »Sagt dem Herrn des Hauses noch gute Nacht, Dad ist unten im Wohnzimmer.« Beide nickten, schauten sich an, als hätten sie einen Plan und veranstalteten im selben Moment ein Wettrennen, um zu schauen, wer zuerst ankam. Mit lautem Lachen rasten die Jungs den Gang entlang, sprangen die Treppenstufen hinunter und standen laut schnaufend vor Harukis Dad, der mit Yui auf dem Sofa saß. Dieser schaute auf, schob seine dicke Brille bis an die Nasenspitze vor und meinte: »Na, wer hat gewonnen?« Haruki reckte die Faust in die Luft und rief: »Ich war natürlich schneller, Takashi ist zu lahm, um gegen mich zu gewinnen«, meinte er grinsend und die beiden Freunde mussten laut lachen. »Mum sagt, wir müssen schon ins Bett und wir wollten nur gute Nacht sagen.« Auch Takashi verabschiedete sich und sagte: »Gute Nacht, Mister Takada, schlafen sie gut.« Beide drehten sich um und wollten sich auf den Weg in ihr Zimmer machen, aber Harukis Dad rief seinen Sohn nochmal zu sich. Dieser drehte sich verwundert um, kehrte um und lief zurück ins Wohnzimmer. Dabei meinte er zu Takashi: »Geh schon vor, ich komme gleich nach.« Harukis Dad winkte dem neuen Familienmitglied zu sich und klopfte mit der flachen Hand auf den freien Platz neben sich. »Habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, was für ein toller Junge du bist und dass du mich mächtig stolz machst?« Haruki wurde knallrot. »Daaaad«, presste er hervor und wusste nicht, was er erwidern sollte. »Ich finde, dass ein Vater seinem Sohn und auch seiner Tochter so etwas sehr viel öfter sagen müsste, als ich es bisher getan habe.« Bei diesen Worten schaute er erst Haruki und dann Yui an und legte um beide je einen Arm. »Deshalb habe ich heute ein Geschenk für euch.« Er fasste hinter sich, zog zwei kleine Geschenkpackungen hervor und überreichte sie beiden Kindern. Diese schaute sich etwas verwundert an, dann aber strahlten sie, weil sie gar nicht mit einem Geschenk gerechnet hatten. »Kommt, macht auf«, forderte Mister Takada die beiden auf. Das ließen sich Yui und Haruki nicht zweimal sagen und rissen das Geschenkpapier auf. Zum Vorschein kamen zwei kleine Dosen, in denen man normalerweise Schmuck aufbewahrte. Yui öffnete ihre Box vorsichtig und freute sich, als ihr eine Kette mit einem Anhänger entgegenfunkelte, der wie eine kleine Schatulle aussah. Als Haruki seine Dose öffnete, kam ebenfalls eine Halskette zum Vorschein. An ihr baumelte ein Anhänger in der Form eines Drachen. Kette und Anhänger waren aus Gold gearbeitet. »In jedem Anhänger ist je eine Botschaft enthalten. Ihr müsst mir allerdings euer Ehrenwort geben, dass ihr sie erst an dem Tag öffnet, an dem ihr euren 18. Geburtstag feiert, auf keinen Fall früher. Ich weiß, das ist noch eine sehr lange Zeit, aber das ist die Bedingung. Versprecht ihr mir, dass ihr euch daran haltet?« Yui und Haruki schauten einander an und sagten dann, nahezu zeitgleich: »Versprochen Dad!« Haruki schob hinterher: »Das ist aber ein wirklich spannendes Geschenk. Auch wenn es verdammt schwerfallen wird, wir öffnen es erst an unserem Geburtstag. Hast du auch ein Geschenk für Takashi, er ist bestimmt traurig, wenn er sieht, dass du uns was geschenkt hast und ihm nicht.« Mister Takada staunte und war zugleich noch ein bisschen stolzer auf Haruki, weil dieser nicht nur an sich dachte, sondern auch an seinen besten Freund. »Ja, für Takashi habe ich auch etwas, aber das ist noch ein großes Geheimnis. Aber wenn er sein Geschenk bekommt, freut er sich mit Sicherheit genauso, wie ihr beide, versprochen! So und jetzt geht es ab ins Bett, Haruki.« Sein Sohn wollte sich och nicht zufriedengeben und hakte nach. »Was bekommt denn Takashi von dir, auch eine Kette oder sowas.« Sein Dad schüttelte mit einem breiten Grinsen den Kopf. »Keine Chance, Junior, es wird noch nichts verraten, aber glaub mir, das Geschenk wird ihm auf jeden Fall große Freude machen. So, und jetzt frag nicht weiter, ab ins Bett mit dir.« Haruki gab sich mit den Erklärungen nur widerwillig zufrieden, sah aber ein, dass er nichts mehr rausbekommen würde. Er lief zu seinem Vater, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und lief ins Kinderzimmer. Nachdem sein Gespräch länger gedauert hatte, schlief Takashi bereits, als Haruki das Zimmer betrat. Also legte auch er sich so leise wie möglich hin und schlief schon kurz danach tief und fest. Beide merkten nicht mehr, dass Harukis Mum nochmal nach ihnen sah und dann lautlos die Tür schloss.

    Lautes Gepolter weckte Haruki mitten in der Nacht. Er lauschte und als er das Geräusch erneut hörte, sprang er aus dem Bett, lief zu Takashi und rüttelte ihn wach. »Hör mal, da ist irgendjemand im Haus.« Takashi rieb sich die Augen und erwiderte ziemlich genervt und noch halb schlafend: »Spinnst du, es ist mitten in der Nacht, vielleicht sind deine Eltern noch wach oder Yui braucht was zu trinken«. Kaum hatte Takashi ausgesprochen, da schepperte es schon wieder und diesmal war auch Harukis Freund der Meinung, dass das komisch sei. Plötzlich waren unten laute Stimmen zu hören, irgendwer schien sich zu streiten. »Sollen wir nachschauen, was los ist«, fragte Takashi und Haruki nickte vorsichtig, so als hätte er Angst, dass es jemand hören könnte. Sie schlichen zur Tür und Haruki drückte die Klinke ganz langsam herunter. Die Stimmen klangen immer ärgerlicher und Haruki meinte zu hören, dass es sein Dad war, der sich unterhielt. Als sie die Zimmertür halb geöffnet hatten, erkannten beide tatsächlich die Stimme von Mister Takada und je näher sie der Treppe kamen, desto mehr verstanden sie, was gesprochen wurde. »Was soll das, ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich immer loyal zu meinen Auftraggebern stehe, ich würde nie irgendwelche Dokumente stehlen. Wenn Sie wollen, durchsuchen Sie doch das Haus, meinetwegen vom Dach bis zum Keller, aber Sie werden nichts finden.« Auch Misses Takada war zu hören. »Machen Sie uns los, warum haben Sie uns gefesselt?« Die Stimme von Harukis Mutter klang angsterfüllt und zitterte. »Wenn Sie uns nicht sagen wollen, wo Sie die Unterlagen versteckt haben, dann werden wir uns ein bisschen mit ihren Kindern beschäftigen, vielleicht lockert das Ihre Zunge.« Haruki und Takashi schauten einander mit Angst in den Augen an. »Wir müssen die Polizei rufen«, flüsterte Takashi seinem Freund ins Ohr. Dieser nickte, zog Takashi am Ärmel des Schlafanzugs zurück ins Kinderzimmer und schloss leise die Tür. Dann rannte er zu seinem Bett, wo sein Handy auf dem Nachtkasten lag, griff es und wählte die Nummer der Polizei. Kaum hatte jemand abgenommen, flüsterte Haruki ins Telefon: »Bitte kommen Sie schnell, bei uns sind Einbrecher im Haus, die haben meine Mum und meinen Dad gefesselt und wollen uns was antun. Bitte, schnell.« Die Stimme am anderen Ende der Leitung fragte nach Harukis Namen und seiner Adresse. Beides nannte er dem Beamten. »Weißt du, wie viele Einbrecher es sind und ob sie Waffen haben?« Haruki schüttelte den Kopf und erzählte dem Mann am anderen Ende, dass er im ersten Stock saß und nichts sehen, sondern nur alles hören konnte. »Wer ist noch im Haus?«, wollte der Beamte wissen. »Außer meinen Eltern noch meine Schwester Yui, mein Freund Takashi und ich. Bitte beeilen Sie sich, wir haben Angst, dass die Männer uns was Böses antun.« Der Polizeibeamte versprach, dass bald jemand kommen würde, um zu helfen. Als Haruki das hörte, blieb er nicht in der Leitung, sondern legte einfach auf. Dann schlich er wieder zur Tür und lauschte. Irgendjemand lief über den Flur und bevor sich die beiden verstecken konnten, wurde die Tür aufgerissen und ein maskierter und mit einer Pistole bewaffneter Mann stand vor ihnen. »Ach, da seid ihr ja, los, runter ins Wohnzimmer mit euch und macht keine Dummheiten, sonst knall ich euch einfach ab, verstanden?« Reflexartig nahm Haruki Takashis Hand und zog den wie versteinert dastehenden Kumpel hinter sich her. Hinter ihnen lief der Fremde her und stieß beiden in den Rücken, weil sie ihm zu langsam waren. Unten angekommen, sahen sie, dass auch Yui schon im Wohnzimmer saß und weinte. Sie war nur zwei Jahre älter als Haruki und ihr Gesichtsausdruck ließ erahnen, dass sie Todesangst hatte. »So, jetzt ist die Familie ja vollständig. Ich frage noch ein letztes Mal, wo sind die Unterlagen, die Sie haben mitgehen lassen?«

    Beide Takadas waren gefesselt und Harukis Dad hatte eine Wunde auf der Stirn. Blut lief ihm über das Gesicht. »Ich kann nur noch einmal sagen, dass ich nicht weiß, wovon Sie sprechen.« Einer der beiden maskierten Männer nickte. »Ok, Sie wollten es ja nicht anders«, meinte er, griff in seinen Rucksack und zog eine Flasche hervor. Er öffnete sie und schüttete den Inhalt über Yui aus. Der Geruch von Benzin verbreitete sich im Zimmer. »Ein allerletztes Mal, wo sind die Unterlagen?«, fragte der Unbekannte, der inzwischen ein brennendes Feuerzeug in der Hand hielt, mit wütender Stimme. »Oh bitte, tun Sie das nicht, lassen Sie meine Kinder und meine Frau gehen. Bringen Sie meinetwegen mich um, aber meine Familie lassen Sie bitte in Ruhe. Ich habe doch keine Unterlagen. Ich würde sie Ihnen ja geben, wenn ich welche mitgenommen hätte, das habe ich aber nicht.« Mister Takada schaute den Fremden mit einem flehenden Blick an. »Schade«, meinte der Angesprochene und hielt das Feuerzeug an Yuis Haare, die sofort lichterloh brannten. Yui schrie auf und versuchte, die Flammen durch wilde Kopfbewegungen zu ersticken. Es gelang ihr nicht. Haruki und Takashi waren wie versteinert. Haruki wollte wegschauen, schaffte es aber nicht, seinen Blick nicht von seiner brennenden Schwester abzuwenden. Immer mehr von Yuis kleinem Körper wurde von den Flammen erfasst, sie schrie in Todesangst und in ihre Schreie mischten sich die ihrer Eltern. »Neeeiiin«, schrien beide laut und versuchten verzweifelt, sich loszumachen. Es war sinnlos. Sie mussten mit ansehen, wie Yuis Kleidung lichterloh brannte, die Kleine schrie entsetzlich, bis sie irgendwann ohnmächtig zur Seite fiel und nicht mehr bewusst mitbekam, wie sie bei lebendigem Leibe verbrannte. Der Geruch von Benzin war inzwischen dem Gestank von verbranntem Fleisch gewichen. »Das bringt hier nichts mehr, lass uns die Sache beenden«, meinte der zweite Einbrecher. Ohne Vorwarnung setzte er Misses Takada die Pistole an die Schläfe und drückte ab. Sie kippte zur Seite und der Teppich unter ihr färbte sich rot von ihrem Blut. Wieder war ein lautes »Neeeiiin« aus Mister Takadas Mund zu hören. »Ihr verdammten Mörder«, konnte er den beiden noch mit erstickter Stimme entgegenschleudern, bevor auch ihn der Tod durch eine Kugel aus nächster Nähe niederstreckte. Haruki und Takashi hatten das alles wortlos und mit tränenüberströmten Gesichtern mit angesehen. Die beiden zitterten vor Angst und Haruki blickte in die gebrochenen, toten Augen seines Dads. Der Mörder seiner Eltern kam auf die beiden zu, er würde auch sie eiskalt umbringen. Dazu kam es aber nicht mehr, denn aus der Ferne waren Polizeisirenen zu hören, die rasch näherkamen. »Shit, wir müssen weg, die Bullen sind im Anmarsch«, fluchte der zweite Unbekannte und zog den, der auf die beiden Kinder zulief am Ärmel seiner Jacke zurück. »Lass sie, die machen uns keine Schwierigkeiten. Los komm, wir verschwinden.« Der zweite nickte, nahm sich aber noch die Zeit, sich zu den beiden Jungs vorzubeugen und leise zu flüstern: »So ergeht es Menschen, die jemand bescheißen, der stärker und reicher ist.« Mit einem Grinsen ließ der Fremde von Haruki und Takashi ab und verschwand Richtung der Hintertür.

    Als die Polizei endlich bei den Takadas eintraf, war Yui bereits bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Die Flammen hatten schon die halbe Zimmereinrichtung in Brand gesteckt. Harukis Eltern lagen blutüberströmt auf dem inzwischen rot eingefärbten Teppich im Wohnzimmer. Haruki und Takashi standen unter Schock. Man brachte sie aus dem Haus und die Feuerwehr löschte die Flammen. Die Beamten versuchten zwar noch vor Ort, ihnen Informationen zu den Vorfällen zu entlocken, aber die beiden Jungs waren nicht in der Lage, auch nur ein Wort hervorzubringen. Die Polizei übergab sie schließlich Mitarbeitern des Jugendamtes, die sich um sie kümmerten und sie betreuten, zumindest so lange, bis klar war, was weiter mit ihnen geschehen sollte. In den nächsten Wochen erhielten beide therapeutische Unterstützung und es gelang der Polizei, einige Details zur Tat in Erfahrung zu bringen. Man untersuchte aufgrund der Aussagen der beiden Jungen das berufliche Umfeld des Vaters, aber auch die privaten Verhältnisse. Letztlich fand man keinerlei Hinweise darauf, dass Harukis Dad in irgendwelche krummen Geschäfte verwickelt war oder auf eigene Faust die Konzerne, für die er tätig gewesen war, in irgendeiner Form betrogen hatte. In Befragungen von Kollegen und Bekannten der Takadas wurden beide immer wieder als äußerst höflich und korrekt beschrieben. Es gab viele japanische, aber auch einige ausländische Freunde. Über entsprechende Abteilungen im jeweiligen Land wurden diese befragt, was aber ebenfalls keine neuen Erkenntnisse brachte. Die Polizei fand bei der Durchsuchung des Takada-Hauses heraus, dass die beiden Takashi adoptieren wollten. Diese Information hielten die Ermittler nach Rücksprache mit dem Jugendamt zurück. Sie hätte bei Takashi nur noch mehr Trauer verursacht, als er ohnehin schon empfand. Nachdem sich trotz intensiver Ermittlungen auch Monate nach dieser schrecklichen Tat keine neuen Hinweise ergaben, wurden die Untersuchungen irgendwann vorläufig eingestellt. Es konnte nicht abschließend geklärt werden, wer hinter den Morden steckte. Haruki kam zu einer Tante, Takashi wurde an ein Kinderheim übergeben, da er keinerlei Verwandte mehr hatte. Trotz der so entstandenen Distanz blieben die beiden in den kommenden Jahren in Kontakt miteinander. Erst, als sie ihren Schulabschluss in der Tasche hatten, verloren sie sich aus den Augen, weil sie an unterschiedlichen Orten bzw. sogar in verschiedenen Ländern studierten. Beide aber vergaßen nie, was sie in dieser unheilvollen Nacht erlebt hatten.

    Mike saß in seinem Zimmer und bastelte wie üblich am Computer, den er selbst gebaut hatte. Christopher hockte am großen Tisch in der gemütlichen Küche, schaute seiner Mutter beim Kochen zu und fragte mitten ins Geklapper der Töpfe: »Wann kommt Dad eigentlich heim, Mum? Er ist jetzt schon zwei Wochen weg. Ich will wieder mal was mit ihm unternehmen, vielleicht Radfahren oder zum Angeln gehen.« Misses Willinger drehte sich zu ihm um, lächelte ihn an und erwiderte: »Gestern meinte er, dass er wahrscheinlich heute oder morgen mit seinem Auftrag fertig ist und dann nach Hause kommt. Ich schätze also, dass ihr am nächsten Wochenende etwas unternehmen könnt.« Christopher grinste. »Das wäre super, immer nur mit Mike zusammenzuhängen, ist auf die Dauer langweilig, der ist eh ständig nur mit seinem Computer beschäftigt. Ich bastle ja auch gerne, aber Mike ist jedes Mal wie weggetreten, wenn er sich an dieses Ding setzt. Ich beschäftige mich lieber mit der Software, das Herumbasteln an der Hardware ist nicht so wirklich mein Ding.« Christophers Mum lachte. »Vielleicht solltet ihr euch zusammentun und eine Firma gründen, ihr würdet euch fantastisch ergänzen. Dann könntet ihr gemeinsam an Projekten arbeiten. Du entwickelst die Software und dein kleiner Bruder bastelt den passenden Computer, auf dem sie dann läuft.« Christopher schien zu überlegen. »Cool, dann steht in allen englischen Zeitungen sowas, wie Zwei Zwölfjährige entwickeln Superrechner! Dann wäre Dad sicher megastolz auf uns«, meinte er, hob das Kinn in die Höhe und lachte laut.

    Mike gesellte sich zu ihnen in die Küche. Schlaksig wie es seine Art war, trottete er zum Kühlschrank, nahm sich eine Dose Cola und setzte sich neben Christopher. »Wovon habt ihr gerade gesprochen, ich habe euch lachen hören?«, wollte er von seiner Mum wissen. »Wir haben eure Karriere als große Erfinder geplant. Ihr beide werdet eine Firma gründen. Dein Bruder ist für die Software zuständig und du baust die entsprechende Hardware. Wie wäre das, dann verdient ihr eine Menge Geld, werdet berühmt und braucht euch nie wieder Sorgen machen«, lachte Mikes Mum ihren Söhnen entgegen. »Ich würde euch sogar ein bisschen Startkapital geben und euer Dad wäre sicher, bereit, sich ebenfalls zu beteiligen.« Mike stützte das Kinn in beide Hände, überlegte und meinte dann: »Prinzipiell keine schlechte Idee, Mum, aber unsere Erfindungen müssten den Menschen zugutekommen. Geld zu haben ist zwar schön, aber mir wäre es wichtiger, was zu erfinden, was möglichst vielen Leuten nützt.« Mikes Mum legte einen beeindruckten Gesichtsausdruck auf: »Mike, so kenne ich dich, du wolltest schon immer nur wenig für dich, aber möglichst viel für andere Leute. Das ist ein sehr ehrenwerter Charakterzug, den du da besitzt. Erhalte ihn dir.«

    »Aber Geld für etwas zu bekommen, das man erfindet, ist ja auch nicht soo schlimm«, warf Christopher seine Meinung in die Runde. »Wenn ich gute Arbeit mache, will ich auch ordentlich dafür bezahlt werden. Immerhin investiere ich meine ganze Zeit und Kraft, damit am Ende was Gescheites herauskommt. Das schreit nach einem angemessenen Honorar«, meinte Christopher und zeigte, dass er ganz anders gestrickt war, als sein zwei Jahre jüngerer Bruder. »Lasst uns mit euren Dad über die Idee sprechen, wenn er wieder da ist. Mal schauen, was er dazu sagt. Aber ich glaube, er wäre begeistert, wenn seine beiden Söhne gemeinsam an etwas arbeiten oder sogar eine Firma miteinander gründen.« Sie wandte sich wieder dem Herd zu und rührte in einem der Töpfe, als es an der Haustür klingelte. »Ich geh schon Mum, bleib hier«, meinte Christopher, sprang vom Stuhl auf und lief in Richtung Eingangstür. Als er sie öffnete, stand ein ihm unbekannter Mann vor der Tür und fragte nach Christophers Mum. Er lief in die Küche, erzählte von dem ihm fremden Mann und holte seine Mutter. »Guten Abend, Misses Willinger, dürfte ich Sie ganz kurz alleine sprechen, es geht um Ihren Mann.«

    »Natürlich, bitte kommen Sie herein«, bat sie den Fremden ins Haus und lotste ihn ins Wohnzimmer. »Jungs, geht in eure Zimmer, ich rufe euch, wenn das Essen fertig ist«, schickte sie ihre Söhne nach oben, ahnend, dass etwas passiert sein musste. Als die Jungs den Raum verlassen hatten, schloss sie die Tür. Christopher und Mike wussten nicht, was sie von all dem halten sollten, beschlossen aber, nicht in ihre Zimmer zu gehen, sondern sich oben am Treppenabsatz niederzulassen und dort abzuwarten, was geschah.

    Zwanzig Minuten später öffnete sich die Wohnzimmertür, der Unbekannte und Misses Willinger traten in den Flur. Christophers und Mikes Mum hatte geweint, die Tränen hatten ihr Make-up verwischt und ihre Augen waren rot vom Weinen. »Ich danke Ihnen sehr für die Mitteilung und werde mich natürlich an das halten, was Sie vorgeschlagen haben«, meinte sie und dabei traf ihr Blick ihre beiden Jungs, die immer noch oben auf der Treppe saßen und alles beobachteten. Der Fremde verabschiedete sich freundlich, gab Misses Willinger die Hand und wünschte ihr viel Kraft. Nachdem er gegangen war, lehnte sie sich mit dem Rücken an die Eingangstür und versuchte, sich zu beruhigen. Sie atmete tief durch, richtete sich dann ruckartig auf und ging zurück in Richtung der Treppe. »Christopher und Mike, kommt ihr kurz zu mir ins Wohnzimmer, ich muss mit euch reden.« Die Brüder schauten sich an und bekamen ein mulmiges Gefühl. Ein dicker Kloß bildete sich in ihren Hälsen, sie spürten, dass etwas nicht stimmte. Sie liefen hinunter und betraten das Wohnzimmer. Ihre Mum saß auf der breiten Couch und winkte sie zu sich. »Setzt euch bitte.« Als sich beide gesetzt hatten, nahm ihre Mum sie in den Arm. »Der Mann, der eben da war, ist aus Dads Firma. Er war hier, um mir zu sagen, dass es ein Unglück gegeben hat. Eurem Dad ist etwas zugestoßen.« Noch bevor sie die ganze Wahrheit ausgesprochen hatte, rollten den beiden Brüdern Tränen übers Gesicht. Sie schienen zu ahnen, dass etwas ganz schlimmes passiert war. »Euer Dad hat ja in Japan gearbeitet. Gestern hatte er sich auf den Rückweg nach London gemacht. Am Flughafen in Tokio ist er dann einfach zusammengebrochen. Es waren sofort Ärzte da und man hat ihn ins Krankenhaus gebracht. Aber es war zu spät, man konnte ihm nicht mehr helfen. Euer Dad ist leider gestorben, vermutlich war es ein schwerer Schlaganfall.« Nach diesen Worten konnte Misses Willinger nicht mehr weitersprechen. Die Trauer übermannte sie und auch ihr liefen die Tränen übers Gesicht. Sie zog ihre beiden Jungs zu sich heran und nahm sie fest in den Arm. Lange saßen sie einfach nur so da, hielten sich fest und versuchten, sich gegenseitig zu trösten, obwohl eigentlich kein Trost möglich war.

    In den nächsten Tagen versuchte Misses Willinger, den Alltag so gut wie möglich aufrecht zu erhalten. Nur in die Schule schickte sie ihre beiden Jungs nicht, sie hatte beim Direktor angerufen, ihm die Situation geschildert und sie zunächst für eine Woche entschuldigt. Christopher und Mike hatten sich seit der Todesnachricht in ihren Zimmern vergraben. Nur zum Essen waren sie unten erschienen, sprachen aber nur das Notwendigste und verzogen sich nach den Mahlzeiten gleich wieder in ihre Zimmer. Nachts hörte Misses Willinger ihre Söhne weinen. Dann ging sie zu ihnen, setzte sich einige Zeit aufs Bett und trocknete die nassgeweinten Gesichter. Nach etwa einer Woche erhielt sie eine Nachricht, dass der Leichnam ihres Mannes überführt worden war. Die Staatsanwaltschaft ordnete eine Obduktion an, bei der aber nichts gefunden wurde. Weder ein Schlaganfall, noch irgendeine andere Erkrankung waren als Todesursachen auszumachen. Peter Willinger war zwar letztlich an Multiorganversagen gestorben, was aber zu diesem geführt hatte, blieb ungeklärt. Misses Willinger entschied, dass ihre Söhne ihren Vater nicht noch einmal sehen, sondern so in Erinnerung behalten sollten, wie er zu Lebzeiten war. Sie selbst fuhr zum Bestattungsunternehmen, um ihrem Mann ein letztes Mal nahe zu sein. Sie hatte zwar Angst davor, wollte es sich aber nicht nehmen lassen, sich auf diese Weise zu verabschieden. Peter Willinger war in einem speziellen Raum aufgebahrt. Er lag in einem offenen, weiß ausgeschlagenen Sarg, eine helle Decke war bis zur Brust über ihn gebreitet. Die Hände hatte man ihm gefaltet. »Dabei war er überhaupt nicht religiös«, sagte sie bei diesem Anblick halblaut zu sich selbst und ein trauriges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Man hatte ihn schön zurechtgemacht, die Spuren der Obduktion waren kaum zu erkennen. Ihr Mann hatte einen friedlichen Gesichtsausdruck und man hätte meinen können, er schliefe. Die Realität sah anders aus. Sie beugte sich über ihren Mann, fasste nach seinen Händen und schreckte kurz zurück, als sie die Kälte spürte. Sie löste sie aus der gefalteten Position und legte sie nebeneinander. »Leb wohl, mein Liebster, wir werden dich immer lieben und nie vergessen«, flüsterte sie ihm ins Ohr, gab ihm einen Kuss und verließ tränenüberströmt das Zimmer.

    Am Tag der Beerdigung hielten sich die beiden Jungen sehr tapfer. Sie trugen ohne Murren ihre schwarzen Anzüge und rebellierten nicht mal gegen die sonst so verhassten Krawatten. Misses Willinger war ebenfalls schwarz gekleidet. Ihre rotgeweinten Augen verbarg sie hinter einer großen Sonnenbrille. Am schwersten fiel allen dreien der Gang von der Aussegnungshalle bis zum Grab. Christopher und Mike liefen neben ihrer Mutter, sie hielten sich an den Händen und gaben sich durch die Berührung gegenseitig Kraft, so gut es ging. Es waren viele Leute gekommen, vor allem von der Familie reisten Leute an, um ihrem Enkelsohn, Sohn, Bruder, Schwager, Onkel oder Neffen das letzte Geleit zu geben. Die Trauerfeier war gut gestaltet, Misses Willinger hatte sich für einen freien Trauerredner entschieden, denn sie beide waren überhaupt nicht religiös. Einigen Verwandten war diese Entscheidung zwar nicht recht, aber das war ihr egal, sie hatte die Feier so gestaltet, dass es Peter gefallen hätte. Später beim Zusammensein in ihrem Haus sprachen alle ihr und ihren Söhnen ihre Anteilnahme aus, manche nahmen sie ohne Worte einfach nur in den Arm oder streichelten ihnen die Wange. Christopher und Mike wurde das alles irgendwann zu viel und sie verzogen sich in Christophers Zimmer. »Wenn ich volljährig bin, finde ich raus, was wirklich passiert ist. Unser Dad fällt doch nicht einfach so um und ist tot, das glaub ich nicht«, meinte Christopher. Mike nickte nur, er war noch vollkommen in seiner Trauer gefangen und verstand gar nicht richtig, was sein älterer Bruder sagte.

    In den nächsten Wochen und Monaten gewöhnten sich die Willingers ganz langsam daran, dass sie nur noch zu dritt waren. In den ersten Wochen kam es noch ab und zu vor, dass die Jungs beim Decken des Tisches den Platz ihres Dads versehentlich ebenfalls deckten. Wenn sie es bemerkten, brachen sie in Tränen aus und liefen in ihr Zimmer. Misses Willinger hatte alle Hände voll zu tun, ihre Söhne in solchen Situationen aufzufangen. Es waren vor allem ihre Zuneigung, ihr Verständnis und ihre Liebe, durch die Christopher und Mike mit der Zeit wieder in den Alltag und damit ins Leben zurückfanden. Die Jahre vergingen. Beide absolvierten erfolgreich ihre Schule und studierten. Und auch die Idee, die ihre Mutter am Tag der Todesnachricht hatte, verwirklichten sie. Sie arbeiteten zusammen an einer ganz neuen, geradezu revolutionären Software. Dass diese sie später erst entzweien und dann umso enger miteinander verbinden würde, ahnten sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

    Wenn man an Japan im Jahre 2018 denkt, dann hat man ein Land vor Augen, in dem alles hochtechnisiert ist, man hat Begriffe wie Manga, Godzilla und Kampfsport im Kopf. Das Inselreich ist das Land der Tempel und der zur Vollendung gebrachten Kunst, Gärten bis ins kleinste Detail zu gestalten. Nippon, wie Japan früher manchmal genannt wurde, ist das Land des ewigen Lächelns, voller Menschen, die sich vor Freundlichkeit überschlagen und sich vor allem und jedem verneigen. Die auffälligste, aber auch schwierigste Eigenschaft von Japanern aber ist es, nie laut zu sagen, was sie denken und fühlen. Sie behalten ihre Gedanken für sich, verbergen sie hinter dem Lächeln, das sie einem entgegenbringen. Man weiß nie genau, was sie von einem halten, wie sie einen einschätzen, ob sie einen respektieren oder schlecht über einen denken.

    In dieses so traditionsreiche und immer wieder von Erdbeben und Taifunen heimgesuchte Inselreich im Pazifik machte sich Christopher Willinger auf, um neue Geschäftsbeziehungen zu knüpfen. Japan war ihm nur aus wenigen Erzählungen seines Vaters Peter bekannt. Dieser hatte früher einige Jahre dort gearbeitet. Was genau er dort getan hatte, darüber schwieg er sich immer aus. Als er dann vor 15 Jahren plötzlich starb, hatte Christopher sich geschworen, herauszufinden, was passiert war. Deshalb versuchte er später, Nachforschungen anzustellen, bekam aber schon kurze Zeit später Besuch vom MI6 und dieser machte ihm unmissverständlich klar, dass es besser wäre, wenn er auf weitere Nachforschungen verzichten würde. Weil er sich, auch mit Blick auf seine Arbeit, keinen Ärger einhandeln wollte, beendete er seine Bemühungen. Aus dem Kopf gegangen war ihm die Angelegenheit aber nie. Jetzt tauchten die Gedanken an seinen alten Herrn wieder auf. Er hatte nämlich bei einer Elektronikmesse in London Kenzo Nakamura, den CEO eines großen japanischen Unternehmens kennengelernt, der sich für die von ihm entwickelte Überwachungssoftware interessierte. Mister Nakamura schien so überzeugt von Christophers Entwicklung, dass er ihn schon bei ihrem ersten Treffen nach Tokio eingeladen hatte. Dieser nahm die Einladung natürlich dankbar an. Wann hatte man als Gründer eines kleinen Start-ups sonst die Gelegenheit, der Chefetage eines multinationalen Unternehmens mit hohen zweistelligen Milliardenumsätzen das eigene Produkt vorzustellen? Alles andere, als die Einladung anzunehmen, wäre mehr als unklug gewesen. Christopher hatte lange an seiner Software gefeilt, bis er sein Ziel vor einigen Wochen endlich erreicht hatte.

    Das von ihm entwickelte Programm hieß SaC, was für Spy and Change stand. Es war nicht nur in der Lage, Hacker effizient abzublocken, sondern konnte dazu verwendet werden, einen nahezu zeitgleichen Angriff auf das System des Hackers zu starten, und zwar so, dass dieser nichts davon mitbekam. Sollte also beispielsweise ein anderes Unternehmen versuchen, die Sicherheitsbarrieren eines Konzerns zu überwinden, drang die Software im Gegenzug in sämtliche Programme des angreifenden Unternehmens ein und kopierte unbemerkt alle Daten. Als Krönung war Christophers Software darüber hinaus imstande, ein eigens entworfenes Virus im gegnerischen System zu platzieren, das für einen vollständigen Systemabsturz und damit zur Verwischung sämtlicher Spuren sorgte.

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