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Kunst sollte sein wie ein bequemer Sessel: Plaudereien mit Pierre Courthion
Kunst sollte sein wie ein bequemer Sessel: Plaudereien mit Pierre Courthion
Kunst sollte sein wie ein bequemer Sessel: Plaudereien mit Pierre Courthion
eBook273 Seiten3 Stunden

Kunst sollte sein wie ein bequemer Sessel: Plaudereien mit Pierre Courthion

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Über dieses E-Book

Im Frühling 1941 treffen sich Henri Matisse und der Schweizer Literaturkritiker Pierre Courthion zu mehreren Gesprächen – »Plaudereien«, wie Matisse sie genannt haben will. Er erholt sich gerade von einer schweren Operation, Frankreich ist schon von den Nazis besetzt, und so ist es Matisse ein Anliegen, nicht nur auf sein eigenes Leben zurückzublicken, mit großer Offenheit von seiner Kindheit, den Lehrjahren im Atelier von Gustave Moreau und seinen unzähligen Reisen zu erzählen; es geht ihm auch darum, das kulturelle Erbe Frankreichs zu verteidigen. Er gibt umfassend Einblick in das Leben der Avantgarde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Matisse spricht über seine Weggefährten – Maler, Schriftsteller, Musiker, Politiker –, über seine Erfahrungen mit Sammlern und über Ruhm, und natürlich immer wieder über die Malerei, wie er sie sieht. Aus dem fertigen Manuskript wird aber nicht, wie geplant, ein Buch, es verschwindet in Pierre Courthions Schublade – erst vor Kurzem, nach fast 70 Jahren, wurde es in seinem Nachlass entdeckt. Eine außergewöhnliche Entdeckung, ein beeindruckendes Dokument über einen der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts.
SpracheDeutsch
HerausgeberKampa Verlag
Erscheinungsdatum4. Nov. 2019
ISBN9783311701064
Kunst sollte sein wie ein bequemer Sessel: Plaudereien mit Pierre Courthion
Autor

Henri Matisse

Henri Matisse, geboren 1869 im Norden Frankreichs, gilt neben Pablo Picasso als einer der bedeutendsten bildenden Künstler der Klassischen Moderne. Er war Wegbereiter und Hauptvertreter des Fauvismus, seine stilistischen Neuerungen beeinflussten die Moderne Kunst maßgeblich, etwa den abstrakten Expressionismus in den USA. Neben seinem malerischen und plastischen Werk schuf er auch ein umfassendes grafisches Werk, darunter unzählige Buchillustrationen, zum Beispiel für Charles Baudelaires Les Fleurs du Mal. Matisse starb 1954 in Nizza.

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    Buchvorschau

    Kunst sollte sein wie ein bequemer Sessel - Henri Matisse

    Kampa

    »Ich träume von einer Kunst des Gleichgewichts, der Reinheit, der Ruhe, ohne beunruhigende oder besorgniserregende Sujets, einer Kunst, die für jeden Geistesarbeiter, für den Geschäftsmann so gut wie den Wortkünstler, eine entspannende und den Geist beruhigende Wirkung hat – wie ein bequemer Sessel, in dem man sich von körperlichen Anstrengungen erholen kann.«

    Henri Matisse, Notizen eines Malers, 1908

    Editorische Notiz

    Dieses Buch sollte es zuerst geben, dann nicht, und jetzt ist es nach über siebzig Jahren doch noch erschienen.

    Warum das Hin und Her? Die Idee zu einem solchen Buch entstand Anfang April 1941. Henri Matisse (1869–1954) war in Lyon wegen eines Darmverschlusses operiert worden und erlitt danach mehrere Lungenembolien. Drei Monate lag er im Krankenhaus. Während seiner Rekonvaleszenz im Grand-Nouvel-Hôtel in Lyon besuchte ihn der Schweizer Kunstverleger Albert Skira (1904–1973). Am 5. April lud Skira auch den Schweizer Kunstkritiker Pierre Courthion (1902–1988) mit dazu, der ein Buch über den Maler publiziert hatte.

    Matisse hatte einmal gesagt, Maler sollten sich die Zunge rausschneiden lassen und sich nur mit dem Pinsel ausdrücken. Froh, dem Tod von der Schippe gesprungen zu sein, sprudelte er nun aber nur so von Reminiszenzen. Das brachte Skira auf die Idee, ein Buch zu machen: Courthion sollte Fragen stellen, Matisse antworten, das Ganze würde stenographisch festgehalten und dann so bearbeitet, dass es als Buch funktionierte.

    Am 11. April wurde ein Vertrag unterzeichnet, in dem unter anderem stand, dass das Buch 192 bis 240 Seiten umfassen solle und dass es nur erscheinen dürfe, wenn Matisse den endgültigen Text gutgeheißen habe.

    Acht Gespräche fanden in Lyon statt, das neunte in Nizza, wohin Matisse zurückgekehrt war in der Hoffnung, wieder malen zu können. Eines Metallkorsetts wegen, das er seit der Operation tragen musste, konnte er nie länger als eine Stunde stehend arbeiten.

    Courthion und Matisse verstanden sich gut, aber bei den Freunden des Malers war der Schweizer schlecht angeschrieben: Der Schriftsteller, Journalist, Zeichner und Karikaturist André Rouveyre (1879–1962) fand, der Name Courthion sollte auf dem Umschlag des Buchs nicht vorkommen. Und der Schriftsteller Roger Martin du Gard (1881–1958) hielt Courthions blumige Einleitung zum Siebten Gespräch für so schrecklich, dass er dafür plädierte, sie ganz wegzulassen. Es ist gut möglich, dass Neid im Spiel war: Rouveyre hätte wohl gern selbst einen Gesprächsband mit Matisse gemacht, andere fanden, Courthion verhalte sich dem Meister gegenüber nicht devot genug. (Noch 1973 schrieb der Matissist Jack D. Flam in seinem Buch Matisse über Kunst als Einleitung zu einem Text von Courthion, es gelinge Matisse, »ungeachtet der offensichtlichen Beschränktheit seines Interviewers« einige wichtige Dinge zu sagen.)

    Richtig schlimm wurde es aber, als Matisse erfuhr, dass Skira den Umfang des Buchs von 310 auf 260 Seiten kürzen wollte – einerseits wegen des kriegsbedingten Papiermangels, andererseits, um den Ladenpreis niedrig zu halten. Matisse, der dabei war, eigens für das Buch Zeichnungen zu schaffen, schrieb am 14. Juli einen bösen Brief an den Verleger, der darauf nicht reagierte. In einem zweiten Brief vom 22. Juli schrieb der Maler, Courthion und er seien dabei, alles Überflüssige zu streichen, aber weniger als 300 Seiten werde das Buch nicht umfassen.

    Skira lenkte ein, Matisse zeichnete weiter, doch seine Freunde machten dermaßen Stimmung gegen das Buch, dass der Maler im August entnervt an Skira schrieb, trotz drei Monaten Arbeit an dem Buch ziehe er es zurück: Er habe es, nun da er wieder bei Kräften sei, noch einmal gelesen, das seien keine »Plaudereien« (bavardages), sondern das sei nichts als »Gefasel« (radotages). Der Maler verlangte von seinem Chirurgen ein Attest, dass er im April noch sediert gewesen und von einem Verleger reingelegt worden sei, der nichts als ein gutes Geschäft habe machen wollen. Matisse erklärte sich sogar bereit, Skira sämtliche Kosten zurückzuerstatten. Und so wurde das Projekt aufgegeben.

    Nachtragend war man offenbar nicht: Bereits 1942 illustrierte Matisse für Skira das Buch Florilège – Des amours de Ronsart. Und Courthion publizierte 1942 das Buch Le visage de Matisse, nachdem er dem Maler versprochen hatte, nichts von den Interviews zu verwenden. Zum Glück behielt er aber das Manuskript der von Matisse abgesegneten Fassung der Bavardages. Der Kunsthistoriker Serge Guilbaut entdeckte es vor ein paar Jahren in den Beständen des Getty Research Institute und gab es dort, ins Englische übersetzt von Chris Miller, 2013 heraus. Die vorliegende deutsche Erstausgabe beruht auf der 2016 bei Skira erschienenen französischen Fassung. Die meisten Anmerkungen gehen auf diese zurück.

    Für Hilfe beim Rätseln über die maltechnischen Begriffe danke ich der Restauratorin Françoise Pictet, der Malerin Brigitta Malche und ihrem Mann Yves Schumacher, ganz besonders aber der Kunsthistorikerin Astrid Näff.

    Thomas Bodmer

    Erstes Gespräch

    Wir wählen einen Tisch im Morateur, dem Restaurant des Hotels Carlton. Henri Matisse setzt sich auf die Sitzbank, ich mich auf einen Stuhl ihm gegenüber. Es ist ein langer, kalter, wenig gemütlicher Raum. Matisse bestellt Bordeaux. Der Oberkellner bringt eine Flasche Jahrgang 1880. Sie ist zu alt, wir lassen sie zurückgehen, denn der Wein sei »vorbei«, sagt Matisse. Er isst sein Huhn und den Spargel mit sichtlichem Genuss, als wollte er sagen: »Sie sehen, es klappt.« Der runde Ausschnitt seines blauen Pullovers beginnt direkt unter dem Krawattenknoten (Matisse darf sich ja nicht erkälten). Ich betrachte seine rosige Gesichtsfarbe, die großen Ohrläppchen, die Rosette der Ehrenlegion im Knopfloch seines Jacketts aus englischem Wollstoff.

    Die Sekretärin von Matisse hat ihren grauen Pelzmantel anbehalten. »Madame ist Russin, aus Sibirien«, erklärt Matisse. Ihr Gesicht ist ein elegantes Oval, ihre Brauen wirken, als hätte der Meister sie gezeichnet, und sie spricht leise und ruhig. Auch der Kunstbuchverleger Albert Skira ist da.

    Wir sprechen von Lyon, den tiefsitzenden Fenstern der zur Rhone hin abfallenden Häuser und vom silbrigen Himmel darüber. Matisse findet, es sei eine konkave Stadt, eine Stadt mit Tiefgang: »Lyon ist eine Stadt mit Gehalt, doch Nizza ist ein Bühnenbild, fragil, sehr schön, aber da finden Sie keinen Menschen – Pech für die Stadtbewohner! Wenn ich sage, man finde keinen Menschen, meine ich damit, dass Leute, die wie ich jeder für sich arbeiten, einander nicht kennen, einander nicht treffen, nicht zur Landschaft gehören. Nach Nizza kommen nur Leute, die sich entspannen wollen: mit Spielen, Spaziergängen, die allerdings nicht lange vorhalten, denn nach jeder Mahlzeit heißt es: ›Was machen wir? In Monte Carlo sind wir gestern gewesen, in Cannes vorgestern. Wo können wir hin?‹ Es gibt in dieser Stadt zwei, drei Träumer, aber sonst vor allem Juweliere, Hoteliers und schöne Mädchen. Und da will man jetzt eine École de Rome [1] eröffnen!«

    Matisse sagt das mit undurchdringlicher Miene, einzig seine Lippen sind von Spott gekräuselt, als wäre die Rede von einer alten Schwätzerin, deren Geschwafel man zur Genüge kenne. Als ich das Gespräch auf seine Geburt am 31. Dezember 1869 in Le Cateau bei Cambrai lenke, sagt er:

    Ich bin im Haus meiner Großmutter, einer Gérard, geboren worden. Mein Vater wohnte ein paar Kilometer von dort in Bohain. Er war Getreidehändler. Als ich zwölf war, kam ich als Internatsschüler auf das Lycée de Saint-Quentin, ein humanistisches Gymnasium.

    Dann war also nicht vorgesehen, dass Sie das Geschäft Ihres Vaters übernehmen würden?

    Doch, aber ich litt an wiederkehrenden Blinddarmentzündungen. So etwas ließ sich damals nicht operieren. Deshalb hieß es: »Der Junge braucht etwas Ruhiges, ein friedliches Metier. Was könnte er werden?«

    Der Arzt hat darüber nachgedacht und kam zum Schluss: »Wie wäre es mit Apotheker? Da könnte er im Hinterzimmer bleiben, während ein Gehilfe für ihn die Arbeit macht. So könnte er sich pflegen, wenn er einen Rückfall hat, sich ruhig halten, bis es vorbei ist.« Die Rückfälle dauerten einen Monat, anderthalb, manchmal zwei Monate. Wer so etwas hatte, durfte keinen Beruf haben, in dem er ständig aktiv sein musste, sondern einen, in dem er ersetzt werden konnte.

    Und das hat nicht geklappt?

    Nein, aber ich machte ein Praktikum in einer Anwaltskanzlei. Während der Ferien wusste man nicht, was man mit mir anfangen sollte. Ich war sehr fügsam, ich tat alles, was man von mir wollte. Während meiner langen Rekonvaleszenz ging ich einmal mit meinem Vater auf dem Land spazieren, und er sagte: »Wie wäre es, wenn du Prozessakten abschreiben würdest? Es ist gut, wenn man sich in solchen Dingen auskennt.« Er sprach darüber mit einem Freund. Ich ging hin. Ich schrieb ab. Dabei habe ich erstaunliche, sehr pittoreske Dinge gesehen, komisches Zeug, das aus lauter Eigennutz geschieht, im Bereich des Geschäftlichen wie im Familiären.

    Eines Tages kam ein Anwalt vorbei, der seine Kanzlei in Paris hatte. Er sagte: »Was tust du da? Komm doch nach Paris, da kannst du immerhin einen ersten akademischen Grad in Rechtswissenschaft absolvieren. Damit könntest du eine Anwaltskanzlei eröffnen.« Ich sprach darüber mit meinem Vater, der sehr vernünftig war, wenn es um praktische Dinge ging. »Warum nicht?«, sagte er.

    Ich kam für ein Jahr nach Paris. Mich hat nichts wirklich interessiert. Ich besuchte regelmäßig die Vorlesungen, aber ich verstand nur Bahnhof. Vor der Prüfung habe ich mich den ganzen Tag in mein Hotelzimmer zurückgezogen und gebüffelt. Zur Ablenkung hatte ich ein Blasrohr aus Glas und etwas Kitt. Vom sechsten Stock aus habe ich so Passanten mit Kittkügelchen beschossen. Damals trugen alle, auch die Angestellten, Zylinder. Ich ließ meine Kügelchen von den Zylindern abprallen, oder, wenn jemand im Gehen Zeitung las, versuchte ich, diese zu durchlöchern. Die haben dann …

    Wie Baudelaire mit dem Glaser und dem Blumentopf!

    Was ist das für eine Geschichte?

    Baudelaire hat ähnliche Streiche gespielt: Eines Tages ließ er einem armen Glaser einen Blumentopf auf den Rücken fallen. Ihre Kittkügelchen waren da weniger gefährlich.

    Das ging so lange gut, bis ich eines Tages eine Schneiderin ins Visier genommen hatte, die im Haus gegenüber im Zwischengeschoss arbeitete und gut bestückt war. Mein Kügelchen traf ihre üppige Brust. Die Frau schreckte auf und schaute, woher es gekommen sein könnte. Sie sah mein durch den Fensterladen ragendes Blasrohr in der Sonne aufblitzen, und ich war enttarnt. Sie hat sich im Hotel beschwert. Der Direktor kam zu mir und sagte: »Das geht nicht.« Das ist fast die einzige Erinnerung, die mir von meinem Jurastudium geblieben ist.

    Aber Sie haben immerhin ein Examen gemacht?

    Ja, das erste in Rechtswissenschaft. Das ist nicht besonders schwierig: Wenn die Gutachter merken, dass man überhaupt mal ein Gesetzbuch aufgeschlagen hat, sind sie bereits zufrieden. Um einem Studenten auf die Schliche zu kommen, sagten sie ihm: »Da haben Sie ein Gesetzbuch. Zeigen Sie uns den Artikel, der das Eherecht betrifft.« Wenn der Student das Buch nahm und offensichtlich nicht wusste, auf welchen Seiten vom Eherecht die Rede war, fiel er durch. Schlug er dagegen die richtigen Seiten auf, wurde ihm dafür ein Punkt gutgeschrieben.

    Als ich aus Paris zurückkam, trat ich eine Praktikumsstelle bei einem Anwalt in Saint-Quentin an.

    Mit anderen Worten: Dank einer Blinddarmentzündung mussten Sie nicht weiter Rechtswissenschaft studieren? Anderenfalls wären Sie Maître Matisse geworden? Hätten Sie Ihre Berufung vielleicht später entdeckt?

    Nein, das wäre nicht mehr infrage gekommen. Es macht Spaß, über solche Entstehungsgeschichten nachzudenken: Oft ist ein Zufall der Auslöser.

    Wie sind Sie zum Zeichnen gekommen?

    Rein zufällig, auf dem Gymnasium von Saint-Quentin. Mein Freund Émile Jean ging auch auf diese Schule. Wir waren im Zeichenunterricht die beiden Aufmerksamsten, studierten das Modell, das wir vor Augen hatten – ein Feigenblatt, eine römische Büste –, und kümmerten uns nicht darum, was sonst in der Klasse geschah, wer gerade wieder was für Blödsinn machte.

    Unser Zeichenlehrer war der alte Anthéaume, ein Asthmatiker zwischen fünfzig und sechzig. Er hatte den Schlüssel zum Klassenzimmer. Einmal hat er sich verspätet. Um zwei waren wir immer noch auf der Treppe, einer Wendeltreppe, die ich noch vor mir sehe, vor der verschlossenen Tür. Es herrschte ein Heidenlärm, der Aufpasser versuchte, uns zum Schweigen zu bringen, aber der Lärm wurde immer größer. Da sahen wir den alten Anthéaume die Treppe hochkommen. Er trug einen Zylinder, und einer von uns spuckte darauf. Stotternd und nach Atem ringend rief er den Aufpasser als Zeugen an: »Oh, Monsieur, die haben … die haben gewagt, auf meinen Hut zu spucken!«

    Und danach wollten Sie Maler werden?

    Als Émile Jean und ich am Ende des Schuljahres die Bestnote in Zeichnen erhielten – oder jedenfalls eine sehr gute Note –, wurde mir klar, dass mir das Zeichnen leichtfiel, aber nicht in dem Sinn, dass ich da irgendwie weitermachen wollte. Erst viel später kam ich auf die Idee, Maler zu werden.

    Ich hatte diese Blinddarmentzündungen. Ich hatte viel freie Zeit, die ich irgendwie ausfüllen musste. Da bekam ich diesen Malkasten. Ich war damals einundzwanzig. Es gab, wie gesagt, immer lange Zeiten der Rekonvaleszenz (weil man damals nicht operierte). Damals, als ich mich bei meinen Eltern erholte, hatten wir einen Nachbarn, er war Direktor einer kleinen Tuchfabrik. In seiner Freizeit malte er Farbdrucke von Schweizer Landschaften ab: ein Chalet vor einer Gruppe von Tannen mit einem rauschenden Bach. Er sagte: »Siehst du, so kannst du dir was an die Wand hängen.« Weil er sah, dass ich während meiner Rekonvaleszenz meist mir selbst überlassen war, riet er mir, mir auch auf diese Art die Zeit zu vertreiben. Mein Vater hielt nichts von dieser Idee, aber meine Mutter machte es zu ihrer Sache, mir einen Malkasten zu kaufen, dem auch zwei kleine Farbdrucke beilagen: eine Windmühle und ein Dorfeingang.

    Und die haben Sie abgemalt?

    Ja. Die Mühle ist mit ESSITAM signiert, meinem Namen rückwärts. Schließlich war das ein Gemälde, und ein Gemälde gehört signiert.

    Davor hatte ich auf nichts Lust gehabt. Alles, was man mich tun lassen wollte, ließ mich kalt. Doch sowie ich diesen Malkasten in die Hände bekam, spürte ich: Das würde mein Leben sein. Wie ein Tier, das einfach auf das losgeht, was es mag, habe ich mich darauf geworfen, zur durchaus begreiflichen Verzweiflung meines Vaters, der mich zum Studium anderer Dinge angehalten hatte. Doch dies hier zog mich in den Bann, war eine Art Paradies, in dem ich völlig frei war, allein und in Ruhe gelassen wurde, während ich bei all den anderen Dingen, die zu tun man mich geheißen hatte, immer eine gewisse Beklemmung und Langeweile empfunden hatte.

    »Sowie ich diesen Malkasten in die Hände bekam, spürte ich: Das würde mein Leben sein. Wie ein Tier, das einfach auf das losgeht, was es mag, habe ich mich darauf geworfen.«

    Wissen Sie, was aus diesen ersten Matisses geworden ist?

    Diese beiden interessanten kleinen Kopien bekam mein Freund Fernand Fontaine, aber im Zug militärischer Umtriebe sind sie verschwunden.

    Ich kaufte mir dann ein Buch, Goupils La manière de peindre [Wie man malt], und mit diesem Buch in der Hand malte ich weiter. Das Jurastudium? Daran habe ich gar nicht mehr gedacht.

    Ich äußere mein Erstaunen darüber, dass Matisse, nachdem er ohne Nährboden angefangen und zunächst so schlechte Karten gehabt habe, zu dem habe werden können, der er sei.

    Das war der Samen, der musste wachsen, die Knospe musste erblühen. Davor hatte mich nichts interessiert. Danach habe ich nur noch das Malen im Kopf gehabt. Da wächst etwas wie verrückt, und man weiß nicht, woher es kommt. Es gab bei uns keine Maler, weder in der Familie noch in der Region. Aber so entwickelt man sich mit größerer Sicherheit, als wenn man in einem gebildeten Umfeld darauf vorbereitet wird.

    Aber gab es in Bohain, wo Sie Ihre Kindheit verbracht haben, keinerlei Künstlerkreise oder zumindest Kunsthandwerkerkreise?

    Bohain ist ein Zentrum der Handweberei. Da hat man früher indische Halstücher gewoben. Damals trug man Halstücher, die mit Palmetten und Fransen verziert waren und deren Spitzen wie auf alten flämischen Gemälden auf den Rücken hingen. Die Fabrikbüros waren in Bohain. Hier holten die Bauern das Material, das sie dann zu Hause auf Handwebstühlen verarbeiteten. Ein Bauernhaus bestand aus einem großen Zimmer mit einem Bett, einem Tisch in der Mitte und einem Webstuhl. In allen Dörfern der Gegend gab es Weber, die sich tisseurs nannten, im Gegensatz zu den tisserands, die an mechanischen Webstühlen arbeiteten.

    Etwas Ähnliches habe ich vor vierzig Jahren in Beuzec-Cap-Sizun, in Finistère, gesehen: Die vierte Ecke des Zimmers nahm eine Kuh mit ihrer Futterkrippe ein.

    Hat man nicht der Weberei wegen die Schule von Saint-Quentin gegründet?

    Ja und nein. Die Schule von Saint-Quentin war für Saint-Quentin, und Bohain war als Zentrum groß genug, um eine eigene Dessin- und Webschule zu haben. Die Schule von Bohain (wie die von Saint-Quentin, die École de dessin Quentin de La Tour hieß) diente dazu, junge Leute auszubilden, die in mechanischen Webereien arbeiten wollten, die Möbelstoffe und Vorhänge produzierten; sie befand sich im ehemaligen Palais de Fervaques.

    Sie sind auf diese Schule gegangen, nicht wahr?

    Dort ging ich jeweils zeichnen, morgens von sieben bis acht, bevor die Kanzlei öffnete. Das war, als ich nach meiner langen Rekonvaleszenz, während der ich zu malen begonnen hatte, nach Saint-Quentin zurückgekehrt war.

    Haben Sie nicht heimlich zu malen begonnen, weil Ihr Vater gegen Ihre Pläne war?

    Das hat er gut gemacht: Er wolle schauen, ob ich dabei bleiben würde. In Saint-Quentin gab es also diese De-La-Tour-Schule, an der ein Lehrer aus Paris, ein Schüler von Bonnat, Vorhangzeichner unterrichtete. Da ging ich von sieben bis acht Uhr früh zeichnen. Mittags, nach einer rasch heruntergeschlungenen Mahlzeit: Malen. Abends um sechs, wenn ich aus der Kanzlei kam: Malen. Gegessen habe ich dann, wenn es nicht mehr hell war. In der Kanzlei fragte der Chef immer: »Monsieur Matisse, was ist der Stand der Dinge?« Er gewöhnte sich daran, dass ich keine Antwort hatte, und sah dann selbst in den Akten nach. Ich war ein major de carte [2] , der bei der Arbeit einschlief. Danach hat mich der Chef nichts mehr gefragt. Manchmal schaute mein Vater bei ihm vorbei. Bei jedem dieser Besuche hoffte ich, der Chef würde »So geht das nicht« sagen und mich rausschmeißen. Doch ich hörte ihn sagen: »Es geht, er wird sich eingewöhnen.« In der Schule sagte mir der Lehrer eines Tages: »Sie könnten doch Maler werden.« Mein Vater hatte mein Studium bezahlt. Als ich ihm sagte: »Ich möchte Maler werden«, war das, als würde ich ihm sagen: »Was du getan hast, war nutzlos, und es wird nie etwas daraus werden.«

    »Lass ihn ein Jahr lang machen«, sagte meine Mutter. Und sie machte ihm das Leben dermaßen zur Hölle, dass er sich umstimmen ließ. So kam ich nach Paris und hatte ein Jahr der Freiheit vor mir.

    »Man steckt in allem drin, was man macht, in den ersten Bildern wie in den letzten. Erst die Entwicklung der Persönlichkeit, die schon im ersten Bild steckt, lässt diese Persönlichkeit in der Welt zur Geltung kommen.«

    Was war Ihr erstes echtes Gemälde nach Ihrer Kopie der Mühle?

    Eines Tages habe ich auf dem Dachboden meiner Großeltern das erste Bild gefunden, das ich gemalt hatte, mein erstes Stillleben: meine Jurabücher, nach der Natur gemalt.

    Es hat mich überrascht, dass ich in diesem Bild alles gefunden habe, was ich danach gemacht hatte, und ich sah nicht, warum ich noch zehn Jahre lang Unterricht genommen hatte. Beim Nachdenken wurde mir klar, dass das, was ich in

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