Die Erziehung des Menschengeschlechts
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Gotthold Ephraim Lessing's sketch of 1777/1780 offered his contemporaries a clarification of their position in the modern age; he justified this in the context of a cultural and religious history of whole humankind. This was risky from philosophical and theological points of view, because it meant the revolutionary change of a basal paradigm: the temporally finite history of salvation now becomes a history of open evolution, characterized by human progress and divine pedagogy equally. The commentary explains the logic and the pathos of the text and sets it in the context of the debates on Enlightenment, Education and Christianity. In particular, it contrasts with Lessing the traditional paradigm and the one of Immanuel Kant and his idealistic resp. materialistic successors. Finally, the current relevance and ambivalence of Lessing's chiliastic paradigm are discussed.
Gotthold Ephraim Lessing
Gotthold Ephraim Lessing was a German writer, philosopher, dramatist, publicist and art critic, and an outstanding representative of the Enlightenment era. His plays and theoretical writings substantially influenced the development of German literature.
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Buchvorschau
Die Erziehung des Menschengeschlechts - Gotthold Ephraim Lessing
Große Texte der Christenheit
5
Herausgegeben von
Dietrich Korsch und Johannes Schilling
Gotthold Ephraim Lessing
Die Erziehung
des Menschengeschlechts
Herausgegeben und kommentiert
von Walter Sparn
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2018 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Cover: makena plangrafik, Leipzig
Satz: Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
ISBN 978-3-374-05671-2
www.eva-leipzig.de
Vorwort
Dieser stilistisch brillante und thematisch provokante Text aus den letzten Lebensjahren Lessings wurde oft als sein philosophisches Vermächtnis, ja als religiöses Bekenntnis angesehen. Zweifellos bündelt Lessing hier, obgleich er nur als Herausgeber auftritt, seine intellektuelle Arbeit an den Herausforderungen, die ihm das Christentum sowie die Aufklärung stellten. Die „Erziehungsschrift verfolgt wichtige Anliegen des „pädagogischen Jahrhunderts
und der protestantisch-aufklärerischen Transformation des Christentums im 18. Jahrhundert. Ebenso steht ihre Bedeutung für die Entwicklung des Konzepts der Weltgeschichte als religiös-kulturellen Fortschritts unter christlichem Vorzeichen außer Zweifel. Freilich sah Lessing seinen Wirkungsort nicht auf dem Katheder des Professors und nicht auf der Kanzel des Pfarrers, sondern auf seiner „Kanzel, dem Theater. So wäre sein Vermächtnis vielleicht eher in „Nathan der Weise
zu vermuten. Doch ist es vielsagend, wie Lessing sich in der diskursiven Kommunikation als erklärter „Liebhaber der Theologie" in Szene setzt.
Lessing stellt sich auf die Bühne der heftigen öffentlichen Debatten, die er mit der auch persönlich riskanten Publikation der „Wolfenbütteler Fragmente 1774 ausgelöst hatte. Im „Fragmentenstreit
, der auch Lessings eigene Frage nach der Wahrheit der christlichen Religion verhandelt, erreichte die aufklärerische Entwicklung in Deutschland einen neuen Höhepunkt. Die Geister schieden sich jetzt an der Frage, ob die Ansprüche des Projekts „Aufklärung auf rationale Wahrheitserkenntnis verträglich seien mit dem Wahrheitsanspruch des Christentums in seiner bekenntnismäßigen und staatskirchlichen Form. Die Antwort darauf musste in Gestalt einer aufklärerisch nachvollziehbaren Auslegung der Heiligen Schrift erfolgen. Der anonyme Autor jener „Fragmente
hatte eine solche Möglichkeit vehement bestritten, aber Lessing wollte sie aus dem gut aufklärerischen Grund offenhalten, dass auch vernünftige Urteile stets nachgeprüft werden müssen; und er stellte eine neue Sicht des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung zur kritischen Prüfung. Allerdings machte die Erziehungsschrift dabei einen Gebrauch von der Bibel, der sich erheblich unterschied vom Fragmentisten, vom orthodoxen Establishment und auch von den frommen Aufklärern, den „Neologen", die, nach Lessings Vermutung, nur scheinbar noch von Offenbarung sprachen.
Das emphatische Votum, mit dem die Erziehungsschrift endet, beglaubigt die Kritik Lessings an der orthodoxen und an der neologischen Theologie, beglaubigt aber auch seinen Verzicht auf Wahrheitsbesitz zugunsten der irrtumsfähigen Suche nach der Wahrheit. Gerade die Ambivalenz seiner nicht „dogmatischen, sondern „gymnastischen
Hypothesen vermittelte der neuzeitlichen Transformation des Christentums neue Impulse. Lessings spezifische Version der Idee einer göttlichen Erziehung des Menschengeschlechts integrierte wichtige Aspekte der Debatten über die Wahrheit des Christentums seit der Reformation. Obwohl Lessing seiner lutherischen Herkunft nie abschwor, modifizierte er diese theologische Tradition in wichtigen Aspekten erheblich, ohne doch jemals auf eine endgültig richtige Lehre zu pochen.
Walter Sparn
Im August 2018
Gotthold Ephraim Lessing, nach Anton Graff 1771. © AKG5837586.
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
A Der Text
B Erläuterungen
1. Zur Textgestalt
2. Zu den philosophisch-theologischen Kontexten
3. Zum Diskurs des Textes
4. Nachwirkungen der Erziehungsschrift
5. Nachwort: Warum Lessing
C Anhang
1. Gliederung des Textes
2. Literatur
3. Zeittafel
4. Nachweise
Weitere Bücher
A
Der Text
Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: [M: Lo 4628]
Die Erziehung
des Menschengeschlechts
Haec omnia inde esse in quibusdam vera,
unde in quibusquam falsa sunt. Augustinus
Vorbericht des Herausgebers
Ich habe die erste Hälfte dieses Aufsatzes in meinen Beiträgen bekannt gemacht. Itzt bin ich im Stande, das Übrige nachfolgen zu lassen.
Der Verfasser hat sich darin auf einen Hügel gestellt, von welchem er etwas mehr, als den vorgeschriebenen Weg seines heutigen Tages zu übersehen glaubt.
Aber er ruft keinen eilfertigen Wanderer, der nur das Nachtlager bald zu erreichen wünscht, von seinem Pfade. Er verlangt nicht, daß die Aussicht, die ihn entzücket, auch jedes andere Auge entzücken müsse.
Und so, dächte ich, könnte man ihn ja wohl stehen und staunen lassen, wo er steht und staunt!
Wenner aus der unermeßlichen Ferne, die ein sanftes Abendrot seinem Blicke weder ganz verhüllt noch ganz entdeckt, nun gar einen Fingerzeig mitbrächte, um den ich oft verlegen gewesen!
Ich meine diesen. – Warum wollen wir in allen positiven Religionen nicht lieber weiter nichts, als den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln können, und noch ferner entwickeln soll; als über eine derselben entweder lächeln, oder zürnen? Diesen unsern Hohn, diesen unsern Unwillen, verdiente in der besten Welt nichts: und nur die Religionen sollten ihn verdienen? Gott hätte seine Hand bei allem im Spiele: nur bei unsern Irrtümern nicht?
Die Erziehung des Menschengeschlechts
§ 1
Was die Erziehung bei dem einzeln Menschen ist, ist die Offenbarung bei dem ganzen Menschengeschlechte.
§ 2
Erziehung ist Offenbarung, die dem einzeln Menschen geschieht: und Offenbarung ist Erziehung, die dem Menschengeschlechte geschehen ist, und noch geschieht.
§ 3
Ob die Erziehung aus diesem Gesichtspunkte zu betrachten, in der Pädagogik Nutzen haben kann, will ich hier nicht untersuchen. Aber in der Theologie kann es gewiß sehr großen Nutzen haben, und viele Schwierigkeiten heben, wenn man sich die Offenbarung als eine Erziehung des Menschengeschlechts vorstellet.
§ 4
Erziehung giebt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte: sie giebt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, nur geschwinder und leichter. Also giebt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und giebt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher.
§ 5
Und so wie es der Erziehung nicht gleichgültig ist, in welcher Ordnung sie die Kräfte des Menschen entwickelt; wie sie dem Menschen nicht alles auf einmal beibringen kann: eben so hat auch Gott bei seiner Offenbarung eine gewisse Ordnung, ein gewisses Maß halten müssen.
§ 6
Wenn auch der erste Mensch mit einem Begriffe von einem Einigen Gotte sofort ausgestattet wurde: so konnte doch dieser mitgeteilte, und nicht erworbene Begriff, unmöglich lange in seiner Lauterkeit bestehen. Sobald ihn die sich selbst überlassene menschliche Vernunft zu bearbeiten anfing, zerlegte sie den Einzigen Unermeßlichen in mehrere Ermeßlichere, und gab jedem dieser Teile ein Merkzeichen.
§ 7
So entstand natürlicher Weise Vielgötterei und Abgötterei. Und wer weiß, wie viele Millionen Jahre sich die menschliche Vernunft noch in diesen lrrwegen würde herumgetrieben haben; ohngeachtet überall und zu allen Zeiten einzelne Menschen erkannten, daß es Irrwege waren: wenn es Gott nicht gefallen hätte, ihr durch einen neuen Stoß eine bessere Richtung zu geben.
§ 8
Da er aber einem jeden einzeln Menschen sich nicht mehr offenbaren konnte, noch wollte: so wählte er sich ein einzelnes Volk zu seiner besondern Erziehung; und eben das ungeschliffenste, das verwildertste, um mit ihm ganz von vorne anfangen zu können.
§ 9
Dies war das Israelitische Volk, von welchem man gar nicht einmal weiß, was es für einen Gottesdienst in Aegypten hatte. Denn an dem Gottesdienste der Aegyptier durften so verachtete Sklaven nicht Teil nehmen: und der Gott seiner Väter war ihm gänzlich unbekannt geworden.
§ 10
Vielleicht, daß ihm die Aegyptier allen Gott, alle Götter ausdrücklich untersagt hatten; es in den Glauben gestürzt hatten, es habe gar keinen Gott, gar keine Götter; Gott, Götter haben, sei nur ein Vorrecht der bessern Aegyptier: und das, um es mit so viel größerm Anscheine von Billigkeit tyrannisieren zu dürfen. – Machen Christen es mit ihren Sklaven noch itzt viel anders? –
§ 11
Diesem rohen Volke also ließ sich Gott anfangs bloß als den Gott seiner Väter ankündigen, um es nur erst mit der Idee eines auch ihm zustehenden Gottes bekannt und vertraut zu machen.
§ 12
Durch die Wunder, mit welchen er es aus Aegypten führte, und in Kanaan einsetzte, bezeugte er sich ihm gleich darauf als einen Gott, der mächtiger sei, als irgend ein andrer Gott.
§ 13
Und indem er fortfuhr, sich ihm als den Mächtigsten von allen zu bezeugen – welches doch nur einer sein kann, – gewöhnte er es allmählig zu dem Begriffe des Einigen.
§ 14
Aber wie weit war dieser Begriff des Einigen, noch unter dem wahren transcendentalen Begriffe des Einigen, welchen die Vernunft so spät erst aus dem Begriffe des Unendlichen mit Sicherheit schließen lernen!
§ 15
Zu dem wahren Begriffe des Einigen – wenn sich ihm auch schon die Besserern des Volks mehr oder weniger näherten – konnte sich doch das Volk lange nicht erheben: und dieses war die einzige wahre Ursache, warum es so oft seinen Einigen Gott verließ, und den Einigen, d. i. Mächtigsten, in irgend einem andern Gotte eines andern Volks zu finden glaubte.
§ 16
Ein Volk aber, das so roh, so ungeschickt zu abgezognen Gedanken war, noch so völlig in seiner Kindheit war, was war es für einer moralischen Erziehung fähig? Keiner andern, als die dem Alter der Kindheit entspricht. Der