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Leonardos Geheimnis: Die Biographie eines Universalgenies
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Leonardos Geheimnis: Die Biographie eines Universalgenies
eBook524 Seiten6 Stunden

Leonardos Geheimnis: Die Biographie eines Universalgenies

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Über dieses E-Book

Leonardo da Vinci gilt als das Urbild des Universalgenies der Renaissance, als der große Magier, der erste Naturwissenschaftler, der geniale Künstler. Er war eine Ausnahmeerscheinung in einer Zeit voller Ausnahmeerscheinungen. Und Leonardos Leben bleibt wie das Lächeln der Mona Lisa geheimnisvoll. Es entzieht sich, wenn man sich ihm nähern will. Also muss man neue Wege wählen, um ihm nachzuspüren. Der Renaissance-Experte Klaus-Rüdiger Mai folgt dem Universalgenie auf bisher unbekannten Wegen. Er entdeckt einen Menschen, der wie wenige andere für seine Zeit steht und doch seiner Zeit weit voraus war.
Im Florenz der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts aufgewachsen, beeinflusst Leonardo da Vinci der ungeheure geistige, philosophische, künstlerische und technische Aufschwung, den die Stadt erlebt. Obwohl mit den Mitgliedern der Platonischen Akademie verbandelt, schlägt Leonardo einen anderen, neuen Weg des Denkens und Forschens ein. Er will der Natur ihre Geheimnisse entlocken. Er überwindet den Neuplatonismus der Renaissance und wird, wenn man so will, zum ersten modernen Naturforscher Europas.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Apr. 2019
ISBN9783374057863
Leonardos Geheimnis: Die Biographie eines Universalgenies
Autor

Klaus-Rüdiger Mai

Klaus-Rüdiger Mai, Dr. phil, geb. 1963, ist Germanist, Historiker und Philosoph. Sein Spezialgebiet sind die religiösen, philosophischen und künstlerischen  Kulturen Europas gestern und heute sowie die Geschichte und Gegenwart Ostdeutschlands und Osteuropas. Er ist erfolgreicher Roman- und Sachbuchautor, Essayist und Publizist und lebt mit seiner Familie bei Berlin.

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    Buchvorschau

    Leonardos Geheimnis - Klaus-Rüdiger Mai

    KLAUS-RÜDIGER MAI

    Leonardos Geheimnis

    DIE BIOGRAPHIE

    EINES UNIVERSALGENIES

    Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

    © 2019 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Weiterverarbeitung in elektronischen Systemen.

    Cover: Anja Haß, Leipzig

    Coverbild: © Heritage Images / Fine Art Images / akg-images

    Innengestaltung und Satz: Friederike Arndt · Formenorm, Leipzig

    ISBN 978-3-374-05786-3

    www.eva-leipzig.de

    Gewidmet Maria Angela Magnani und Matteo Giardini, den italienischen Freunden.

    »Beschreibe, wie die Wolken sich bilden und wie sie sich auflösen, was die Wasserdämpfe in die Luft steigen lässt und was die Nebel und die Verdichtung der Luft verursacht und warum diese manchmal blauer oder weniger blau erscheint als ein andres Mal. Beschreibe auch die Luftregionen und die Ursachen des Schnees und des Hagels, warum das Wasser sich zusammenzieht und zu Eis verhärtet …«

    »Da werden riesige Gebilde in menschlicher Gestalt erscheinen; aber je näher du ihnen kommst, desto mehr werden sie ihre ungeheure Größe verlieren.«

    »In der Nacht von Sankt Andreas fand ich das Ende der Quadratur des Kreises, und zu Ende waren das Licht und die Nacht und das Papier, auf das ich schrieb, und zu Ende die Stunde.«

    »Enthülle nicht, wenn dir die Freiheit lieb ist, dass mein Angesicht ein Kerker der Liebe ist.«

    Aus den Notizbüchern von Leonardo da Vinci

    INHALT

    Cover

    Titel

    Impressum

    Prolog: Die Entdeckung des Johannes im Bacchus

    I. VINCI UND FLORENZ (1452–1482)

    1.Der Erbe in Reserve

    2.Milan und Weihe

    3.Platons Taufe am Arno und Leonardos Initiation

    4.Ingenium: Die Werkstatt als Tor zur Welt

    5.Frühe Werke

    6.In der Florentiner Gesellschaft

    7.Die Bluttat

    8.Ankunft in der Krise

    9.Die Flucht

    II. MAILAND (1482–1499)

    10. Bei Hofe

    11. Was ist Majestät?

    12. Die Maske des schwarzen Todes

    13. Der Bau des Lebens

    14. Der Zauberer

    15. Baumeister der Welt

    16. Das Ballett der Perspektiven

    17. Der Sturz

    III.DIE ZEIT DER WIRREN (1499–1515)

    18. Hofkünstler in einer Republik

    19. In Diensten eines Monsters?

    20. Die Schlacht der Giganten

    21. Das Bild der Familie

    Epilog: Ich, Johannes

    ANHANG

    Endnoten

    Literaturverzeichnis

    Abbildungsverzeichnis

    Personenregister

    PROLOG:

    DIE ENTDECKUNG DES JOHANNES IM BACCHUS

    Die Bibel beginnt mit dem wuchtigen und doch so lakonischen Satz: »Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe.« Aus dieser tiefen Finsternis erscheint urplötzlich ein Mensch als Verkörperung des göttlichen Befehls: »Es werde Licht« (1. Mose 1,3). Die halbnackte Gestalt, von deren linker Schulter ein Fell herabfließt, das die rechte Schulter und den rechten Arm freigibt, weist unterstützt von der Kraft der Drehung des gesamten Körpers in einer entschiedenen Geste, die durch den ganzen Arm bis in die Spitze des Zeigefingers reicht, himmelwärts (siehe Abb. oben und Tafelteil Abb. 16). So, wie Leonardo immer noch und immer wieder aus dem Dunkel der Geschichte hervorleuchtet, markant und doch nicht mit ganzer Kraft – denn die Finsternis gibt eben nicht die ganze Gestalt preis –, wird auch sein »Johannes der Täufer« von einem Geheimnis eingehüllt. Dank einer unendlichen Skala von Schattentönen entschwindet Johannes ins immer Schwärzere, das wohl nie ganz aufgehellt werden kann. Denn die Zeit, die Zeitepochen und nicht zuletzt Leonardo selbst haben an dem einzigartigen »Sfumato« seiner Persönlichkeit gearbeitet.

    Das Tafelbild Johannes der Täufer verdankt seine expressive Kraft genau dem Sfumato, das von Leonardo in eine einzigartige Perfektion getrieben wurde. Bei dieser Technik, die zugleich auch eine ästhetische Botschaft und Weltanschauung ist, werden immer wieder blasse Lasuren – Lösungen mit wenig Farbe und mit geringem Deckungsvermögen – in exzessiver Folge auf das Bild aufgebracht, die fließende Übergänge zwischen dunklen und hellen Bereichen des Bildes ermöglichen. Die Maltechnik erzeugt eine starke Plastizität der Bildelemente wie Figuren oder Gegenstände, eine Plastizität, die Giorgio Vasari in seiner Leonardo-Vita »Relief« nannte. Vasari war beeindruckt von der Körperlichkeit, der Illusion der Dreidimensionalität, die Leonardo auf einer Fläche hervorzurufen wusste, so dass ihm hierfür nur der Begriff »Relief« zur Verfügung stand. Leonardo selbst hätte den Vergleich mit den aus der Bildhauerei stammenden Reliefs allerdings abgelehnt und eher von Natürlichkeit gesprochen, von lebendiger Gestaltung oder einer wahren Geschichte, die er zu erzählen beabsichtigte.

    Sein Johannes, der aus der Dunkelheit kommt, leuchtet nicht selbst, sondern wird angeleuchtet, er reflektiert und verstärkt nur das Licht, das auf ihn fällt. Interessanterweise entsteht nicht der Eindruck, dass mittels des Lichtes etwas aus der Dunkelheit hervorgeholt wird, sondern dass Figur und Licht sich aufeinander zubewegen, sich treffen. Was Leonardo hier glückt, ist die Darstellung der Dialektik. Der Glaube, also das Licht, kommt zum Menschen, erleuchtet ihn, so, wie der Mensch sich zum Glauben, zum Licht bewegt, das er auch sucht. Johannes ist erleuchtet, er hat das Licht gefunden und das Licht ihn. Diese Dialektik, den Weg des Glaubens darzustellen, gelingt Leonardo in einer Bewegung, der ungemein kunstvollen Drehung des Körpers, die das Geschehen dynamisiert. Leonardos Johannes ist ein Bewegter, bewegt, um andere zu bewegen. Beim Evangelisten Johannes heißt es: »Es war ein Mensch von Gott gesandt, der hieß Johannes. Der kam zum Zeugnis, damit er von dem Licht zeuge, auf dass alle durch ihn glaubten. Er war nicht das Licht, sondern er sollte zeugen von dem Licht.« (Joh 1,6–8)

    Kein Zweifel existiert über die Quelle des Lichts, denn der Zeigefinger des letzten Propheten weist nach oben, zu Gott. Allerdings gehört die Frage, woran und wie er glaubte – wenn er überhaupt an etwas glaubte – zu den großen Geheimnissen des Leonardo da Vinci. Mancher würde ihn gern als Agnostiker, als einen sehr, sehr frühen Freigeist oder als Häretiker ansehen, was einige für dasselbe halten mögen. Wenn der Humor, der neben der Fähigkeit des Mitleids vielleicht als die menschlichste aller menschlichen Eigenschaften gelten darf, ein Geschenk und eine Gnade Gottes ist, dann war Leonardo reich beschenkt und begnadet. Und so verbindet sich die Frage nach Leonardos Religiosität mit der nach seinem Humor. Humor fußt letztlich auf einem fröhlichen Einverständnis mit der Einsicht in die eigene menschliche Endlichkeit. Zumindest zeugt die Beziehung, die Leonardo zwischen dem Propheten Johannes – dem Täufer – und dem Evangelisten Johannes – Jesu Lieblingsjünger – assoziiert, von einem feinen Humor. Im berühmten »Abendmahl«, worauf zurückzukommen sein wird, hat er sich intensiv mit Johannes Evangelista auseinandergesetzt und es wird zu fragen sein, wie viel Johannes Baptista im Johannes Evangelista des Abendmahls zu finden ist.

    Im Evangelium des Johannes heißt es, dass der letzte Prophet, Johannes der Täufer, bekannte: »Ich bin nicht der Christus.« (Joh 1,20) Im Tafelbild geht das Licht nicht vom Täufer aus, sondern er reflektiert und verstärkt es. Er macht durch seine ganze beeindruckende Gestalt und durch die Nachdrücklichkeit, mit der die kraftvolle Drehung des Körpers die Botschaft vertritt, erst auf das Licht aufmerksam, das er gleichsam verkündet. Er begreift sich – und wird von Leonardo auch so in Szene gesetzt – als »Prediger in der Wüste« (Joh 1,23), womit vor allem die geistliche Wüste gemeint ist. Mehr noch: Deutlich fordert er alle Menschen auf: »Ebnet den Weg des Herrn!« (Joh 1,23) Aber das alles ist noch die Vorgeschichte, die man kennen muss. Die Aussage des Bildes liegt nicht in ihrem Inhalt, sondern in der Art und Weise, wie der Inhalt erzählt wird. Sie lautet: »Ich taufe mit Wasser; aber er ist mitten unter euch getreten, den ihr nicht kennt. Der wird nach mir kommen und ich bin nicht wert, dass ich seine Schuhriemen löse.« (Joh 1,26–27)

    Doch Johannes der Täufer ist so voller Anmut und Würde, so voller Eindeutigkeit und Überzeugungskraft dargestellt, so stark, dass man nur ahnen kann, was da für ein mächtiger und anmutiger, menschlicher und über den Menschen hinausgehender Nachfolger kommen muss, wenn Johannes meint, dass er es nicht einmal wert sei, ihm die »Schuhriemen« zu lösen. Johannes wurde in Leonardos Bild zum »Ecce Homo«, zum Urbild des Menschen, der sich hin zu Jesus bewegt, von Jesus, vom göttlichen Licht ganz erfasst wurde und durchdrungen ist. So sehr, dass man meint, er strahle selbst. Und in der Tat wurde seine Seele zu einem Spiegel des göttlichen Lichts. Mehr noch: Was das göttliche Licht auf so einzigartige Art verstärkt, dass man versucht sein könnte, von einem Mit-Strahlen zu sprechen, ist der Glaube des Johannes, denn seine linke Hand legt sich in einer einfachen, ungezwungenen und deshalb überzeugenden Geste ans Herz, die zeigt: Dass Christus der Erlöser der Welt ist, der Messias, daran glaubt Johannes von ganzen Herzen.

    Und Leonardo? Es scheint, dass die Figur des Johannes Baptista für ihn zu einer Art Alter Ego geworden ist. Das »Ecce Homo«, der leidende Mensch, der der Erlösung bedarf, scheint zur tieferen Dimension von Leonardos Glauben zu führen. Ob er dazu der Kirche bedurfte, soll einstweilen nicht erörtert werden. Christus jedoch, den er nie in einem Gemälde als Schmerzensmann, nie als Gekreuzigten malen sollte, wurde für ihn zum Inhalt des Glaubens; Christus, der Messias, dem er sich nur wie Johannes Baptista oder Johannes Evangelista zu nahen vermochte. Aber Gott wird sich nur nahen können, wer den Menschen, die Natur, die Schöpfung versteht. Und so scheint Leonardos Religion nur über die Erkenntnis der Schöpfung, der Werke Gottes begreifbar zu werden. In Leonardos »Felsengrottenmadonna« segnet das Christuskind den Johannesknaben. Johannes ist also ein Gesegneter – und Leonardo hofft es zu sein.

    Ein weiteres Gemälde steht als das letzte Werk des Meisters in der Diskussion. Es trägt den Titel »Bacchus«. Anhaltend wird darüber disputiert, wie viel von Leonardo eigenhändig und wie viel von einem Mitarbeiter gemalt worden ist, ja, Leonardos Mitarbeit an dem Gemälde wird in Zweifel gezogen. (Bacchus, Tafelteil Abb. 16)

    Statt einem Kreuz hält Bacchus einen Thyrsos in der Hand, einen Stab, der zu den Attributen des heidnischen Gottes gehört, und trägt einen Efeukranz. Bacchus ist fast nackt, nur um des Decorums Willen liegt über seinen Lenden ein Tigerfell, gerafft, gerade eben die Männlichkeit des griechischen Gottes verhüllend. Dass dieses Bild wenigstens von Leonardo inspiriert ist, steht außer Frage. Doch weder er noch einer seiner Mitarbeiter noch ein anderer Zeitgenosse haben dem Bild Thyrsos, Tigerfell und Efeukrone hinzugefügt. Die Attribute des Bacchus stammen von einem unbekannten Maler des 17. Jahrhunderts, der Bacchus erst zu Bacchus machte. Nimmt man diese späten Übermalungen weg, kommt man zu der Figur, die sie zu Leonardos Zeiten war: Johannes Baptista. Man macht es sich entschieden zu einfach, wenn man die eigenmächtige Übermalung als grundlos kritisiert, denn Leonardos Bild – nennen wir es im Weiteren so, ohne Spekulationen über die Anteile verschiedener Maler anzustellen – gab selbst Anlass dazu. Dieser kraftvolle Johannes, der zudem unüblicherweise vollkommen nackt war, trägt unverkennbar bacchantische Züge. Was aus heutiger und uninformierter Sicht als Sakrileg wirken muss, besitzt durchaus seinen Zusammenhang mit der Zeit der Renaissance, denn damals wurde Christus sehr wohl mit antiken Figuren verglichen, so mit Orpheus, aber eben auch mit Bacchus. Da mag erstaunen, aber in der Verbindung von Wein und heiliger Trunkenheit sah mancher Zeitgenosse der Renaissance auf beinahe häretische Weise in Bacchus einen Vorläufer von Christus.

    Man wird also die beiden Bilder Johannes des Täufers nur verstehen, wenn man sich in die längst untergegangene und oft missverstandene Welt der Renaissance versetzt. Der Weg zu Leonardo führt über die Entdeckung des Johannes im Bacchus. Die Reise dorthin stellt ein geistiges Abenteuer dar. Sie führt in das Mysterium, das Leonardo immer noch umfängt, in die verschiedenen Töne der Dunkelheit, wie wir sie aus dem Johannes-Bild kennen.

    KAPITEL 1:

    VINCI UND FLORENZ (1452–1482)

    1. Der Erbe in Reserve

    Als Leonardo da Vinci am 2. Mai 1519, drei Wochen, nachdem er seinen 67. Geburtstag gefeiert und sein Testament aufgesetzt hatte, im Schloss Clos Lucé in Amboise starb, hatte die Legende vom großen Renaissancemagier längst ihren Siegeszug durch die Geschichte angetreten. Mochte Leonardos sterbliche Hülle zerfallen – sein Geist und sein Geheimnis, das ihn nach wie vor umweht, haben die Welt bis auf den heutigen Tag nicht mehr verlassen.

    Franz I., König von Frankreich, der Leonardo dieses Refugium der letzten Jahre aus wahrer Bewunderung für den göttlichen Künstler und zum Beweis seiner eigenen Ritterlichkeit zur Verfügung stellte, weilte an diesem Tag weit von dem sterbenden Universalgenie entfernt in Saint-Germain-en-Laye. »Il re è lontano« (der König ist weit weg), wie der gutinformierte Carlo Vecce schrieb.¹ Dagegen behauptete ein früher Biograph, Giorgio Vasari, dass der alte Meister in den Armen des französischen Königs seinen letzten Seufzer tat.² Diese Leonardo-Legende gewann im Laufe der Zeit derart an Bedeutung, dass sie schließlich im 19. Jahrhundert geradezu eine sakrale Höhe erklommen hatte. Doch dann erwies sie sich schließlich nicht als Tatsache, sondern als Topos. Aber die Entfernung von 200 Kilometern zwischen Amboise und Saint-Germain-en-Laye stand in keinem Verhältnis zu jener, die den toskanischen Meister von seiner Geburtsstadt Vinci trennte. Über 1 000 Kilometer lagen in der Stunde seines Todes zwischen seinem Alterssitz und seiner Heimat, zwischen Clos Lucé und Florenz, zwischen Amboise und Mailand. Ein außergewöhnliches Leben ging zuende.

    Man weiß nicht, wann diese Idée fixe von ihm Besitz ergriffen hat, aber Leonardo mühte sich, bei all seinem Tun stets die Nachwelt fest im Blick zu haben. Eine unstillbare Sehnsucht durchdrang ihn, in die Geschichte einzugehen. Nur das Gedächtnis der Nachwelt vermochte ihn zu retten: vor der Zeit, der »Verzehrerin der Dinge«, vor der »schnelle(n) Rafferin der geschaffenen Dinge«, die »viele Könige«, »viele Völker« »schon vernichtet« hat. Staaten haben, notierte Leonardo, sich gewandelt und »allerlei Zustände sind erfolgt«.³ Schon sehr früh schaute Leonardo mit der Melancholie, die man in der Renaissance als die Gefährdung, zugleich aber auch als die Bedingung für das Genie, genauer für das Ingenium, angesehen hatte, auf das Vergehen seines Lebens, das wie ein Fluss im Meer erstirbt. Bereits das Problem XXX,1 der Problemata, die dem Werk des Aristoteles zugerechnet wurden, behandelte die Frage, warum alle außergewöhnlichen Menschen Melancholiker seien, wie auch Cicero in den Disputationes Tusculanae behauptete. Der Florentiner Philosoph Marsilio Ficino, ein Zeitgenosse Leonardos, vertrat in seinem Buch De vita libri tres die aus der Antike stammende Auffassung, dass die Melancholie vom Übermaß an schwarzer Galle herrühre. Wenn sich die schwarze Galle im Menschen erhitze, dann rufe sie im Menschen kreative Kräfte herkulischen Ausmaßes hervor, erkalte sie jedoch, dann senkten sich auf die menschliche Seele Lust- und Antriebslosigkeit. Ficino galt nicht zuletzt als Autorität in diesen Fragen, weil er auch Medizin studiert hatte. Angetrieben von erhitzter schwarzer Galle erkannte Leonardo in der Zeit auch folgende Kraft: »Du gibst den geraubten Leben, indem du sie in dir verwandelst, neue und verschiedene Behausungen.«⁴ Ließe sich eine »neue Behausung« in der Zukunft finden, würde es ihm gelingen, mit der Zeit einen Pakt zu schließen? Ging es nicht um ständigen Wandel und Verwandlungen, wie Ovid es in seiner großen Dichtung Metamorphosen nicht müde wurde zu zeigen? Es kam dem Versuch gleich, stets die Welle zu reiten. Manche Geste gewinnt ihre volle Bedeutung erst vor diesem Hintergrund. Man versteht Leonardo nur, wenn man mitbedenkt, dass vieles von dem, was er unternahm, nicht allein für seine Zeitgenossen getan wurde, sondern zugleich auch für die Späteren, für uns und für die, die nach uns kommen.

    In der ersten Ausgabe der Vite von 1550 schrieb Vasari noch schwungvoll über Leonardo: »Dafür hat er in seinem Geist so ketzerische Gedanken entwickelt, die keiner Religion mehr nahekamen, weil er es weit höher schätzte, Philosoph statt Christ zu sein.«⁵ In der Ausgabe von 1568 hatte der vorsichtiger gewordene Vasari diesen Satz jedoch gestrichen, denn nach dem Konzil von Trient und der einsetzenden katholischen Reform erwiesen sich Sätze dieser Art als gefährlich – für die Bewertung Leonardos, aber auch für den Autor selbst. Zwar hatte Papst Paul III. mit der Bulle Licet ab initio am 4. Juli 1542 die Heilige Römische und Allgemeine Inquisition gegründet, deren Hauptaugenmerk auf der Häresie und auf der Abweichung vom katholischen Glauben lag, doch wusste man erst nach dem Konzil von Trient verbindlich, was katholisch war. Vasari, den Biographen Leonardos und Michelangelos, mahnte zur Vorsicht, dass bereits 1564 durch den Erlass Pictura in Capella Apostolica cooprinatur die Darstellung der Nacktheit in der Bildenden Kunst verboten und Daniele da Volterra damit beauftragt worden war, die anstößigen Stellen in Michelangelos Jüngstem Gericht in der Sixtinischen Kapelle zu übermalen. Dem armen Daniele da Volterra brachte dieser unehrenhafte Auftrag den Beinamen Braghettone (Hosenmaler) ein. Bei aller Ambivalenz in seiner Einschätzung Leonardos stand es nicht in Vasaris Absicht, sich selbst oder das Ansehen Leonardos für die Nachwelt zu beschädigen.

    Dem Menschen des 21. Jahrhunderts, der sich dem Konzept der Nachwelt entfremdet hat und ganz in der Ars vivendi, reduziert auf eine Ars consumendi, aufgeht, mag es schwerfallen, diese Motivation angemessen zu würdigen. Leonardo aber lebte früh schon in zwei Welten: in seiner Gegenwart und in der Zukunft, die aus seiner Perspektive gesehen die Ewigkeit schlechthin bedeutete. Für ihn galt das Konzept der Nachwelt in sogar noch weitaus höherem Maße als für seine Zeitgenossen. Vielleicht war die Nachwelt sogar die Form, wie er sich das Paradies vorstellte, zumindest in der Zeit, bevor er in Amboise lebte.

    Georg Wilhelm Hegel kalauerte einmal, Friedrich Schiller zitierend, dass die Weltgeschichte das Weltgerichte⁶ sei. Vieles spricht dafür, dass sich Leonardo stärker vor der Weltgeschichte als vor dem Jüngsten Gericht fürchtete, zumal die Tiefe seines christlichen Glaubens in Zweifel stand, wofür Vasari einen prominenten, aber nicht den einzigen Beleg lieferte. Es mag als allzu moderner Gedanke erscheinen, aber der Meister des Abendmahls und der Mona Lisa erblickte in der Erinnerung der Menschen das ewige Leben im Paradies, im Vergessen-Werden hingegen die Hölle. Nur zu gut wusste er, dass darüber, ob seine Erdentaten bleiben oder in den nachfolgenden Zeiten verwehen, einzig und allein die Nachwelt entschied. Doch wie konnte man sie beeinflussen, ihr beikommen? Wie ließe sie sich zwingen, seine Taten für immer im Gedächtnis zu bewahren?

    Wer sich dem Leben Leonardos nähern will, muss stets im Blick haben, dass gelebtes Leben und versuchte Legendenbildung die zwei Seiten seiner Existenz ausmachen, mehr noch, dass Biographie und Legende nicht strikt getrennt voneinander sind, sondern ineinander übergehen. Und selbst wenn seine Biographen in dem einen oder anderen Falle einer von Leonardos Lebensdichtungen, einer seiner Mystifikationen aufsaßen, so schadet das nicht, weil sie einen so innigen Teil seines Lebens bilden. Leonardo jedenfalls befeuerte bewusst und kalkuliert die Legendenbildung um seine Person.

    Nicht weniger wichtig ist es auch, zu beachten: Es existiert ein Davor und ein Danach. Zwischen Leonardos Zeit und heutiger Gegenwart tut sich ein Abgrund auf, der gewaltige Umbruch vom späten Mittelalter zur Neuzeit. Man könnte die Zäsur symbolisch mit den Jahren 1517 und 1563, mit der Reformation und der katholischen Reform, mit den Orten Wittenberg und Trient in Zusammenhang bringen, denn seither wurden die Moral- und Sittennormen zu einer bindenden, auch durchgesetzten Norm für das Leben der Menschen, zu einer Norm, die kontrolliert wurde und an die man sich zumindest öffentlich zu halten hatte. Das Maß an Sozialkontrolle erhöhte sich in der Neuzeit spürbar. In Rom nahm die Inquisition die Arbeit auf und stellte nach dem Trienter Konzil den Index der verbotenen Bücher zusammen, während die Calvinisten die regelmäßige Inspektion der Haushalte durch die calvinistischen Ortspfarrer verfügten. Moral und Orthodoxie wurden zur gefährlichen Angelegenheit und die Herrschaft des modernen Rechts bedurfte zu ihrer Durchsetzung der Folter.

    In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, dass Christopher Kolumbus am 12. Oktober 1492 Amerika erreichte und die vierte Globalisierung damit ihren Anfang nahm.

    Bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts aber wurde sexuelle Freizügigkeit öffentlich ausgelebt, und das beileibe nicht nur von den berühmt-berüchtigten Renaissancepäpsten. So hatte, um nur ein Beispiel von vielen zu nennen, der Mainzer Domherr und Stadtkämmerer Graf Johann von Eberstein⁷ die Wände seiner Wohnung mit den frivolsten Szenen des Wiesbadener Badelebens freskieren lassen, ein Reihung pornographischer Wandbilder in leuchtenden und kräftigen Farben. Stolz präsentierte der Domherr die allerfreizügigsten Darstellungen von Festen, Bacchanalien und Orgien allen Besuchern, so auch Heinrich von Langenstein, der eine Professur an der Universität von Paris innehatte und der darüber unter der Überschrift De voluptate carnali (Über die Fleischeslust) im Kapitel V seines Tractatus berichtete:⁸ »Sobald man angekommen ist, finden sich Gruppen, die Gesellschaft von Weibern wird gefordert, das Bad betreten, die Körper gereinigt, die Seelen befleckt. Man geht und die Trompeten erschallen, die Flöten singen, Reigen entstehen. Dort werden die Schauspiele der Verderbtheit, die von beiderlei Geschlechtern und in unersättlich unkeuscher Haltung ausgeführt werden, vor den keuschen Augen der Zuschauer verborgen. Bei den Weibern wird die Nacktheit der Brüste beschaut, bei den Männern die Unbedecktheit der Hintern und überall werden unschuldiger Sinn und Fruchtbarkeit beleidigt.«⁹ Die Ausführlichkeit der Schilderung des Pariser Professors lässt nichts zu wünschen übrig.

    Das späte Mittelalter verfügte über eine erstaunliche Freiheit. Homosexualität galt zwar offiziell als Verbrechen, doch wurde sie nur verfolgt, wenn jemand ein persönliches Interesse daran hatte, demjenigen zu schaden, der sie praktizierte. Ansonsten nahm man sie nicht zur Kenntnis. In gewissen Kreisen wurde sie sogar sehr intensiv gepflegt. So kann man beispielsweise von Baudri, dem Erzbischof von Dol in der Bretagne, lesen:

    »Ja, man wirft mir wohl vor, ich hätte nach Weise des Jünglings Liebesverse gesandt Mädchen und Knaben zumal. Schrieb ich doch gar manches, worin von Liebe gesagt wird; Meinen Gedichten gefällt ein und ein anderes Geschlecht.«¹⁰

    Wie man ohnehin an Texten der Kleriker sehen kann, erfreute sich die Knabenliebe im Mittelalter entgegen den Klischees einer hohen Verbreitung und man schämte sich auch nicht, öffentlich darüber zu sprechen oder gar zu schreiben. Sanktionen waren theoretisch möglich, hielten sich aber im Allgemeinen eher an den Grundsatz: wo kein Kläger, da kein Richter. Der italienische Humanist Antonio Beccadelli, genannt Panormita (1394–1471), veröffentlichte 1425 als Hofdichter des Herzogs von Mailand, Filipo Maria Visconti, eine Sammlung von Epigrammen obszönen Inhaltes, die unter den Gebildeten die Runde machte und so manchen Herrscher, Bischof, Kardinal und auch Papst erfreute – und nicht selten umso mehr, je stärker ihre heimlichen Leser sie öffentlich verurteilten. In Parnomitas Werk unter dem sprechenden und vielversprechenden Titel Hermaphrodites finden sich ausnahmslos Verse dieser Art:

    »Si tot habes scapula penes, quot sorpseris ano, Et perfers, vincis, Mamuriane, boves.

    (Trügst du so viele der Schwänze als schon du im Hintern gehabt hast Fort auf den Schultern, du wärst stärker fürwahr als ein Ochs.«)¹¹

    Als Leonardo geboren wurde, schlummerte der nicht allzu bedeutende Filipo Maria Visconti bereits seit fünf Jahren in Gottes Schoß, während seit zwei Jahren dessen Schwiegersohn Francesco Sforza über Mailand herrschte. Und Hermaphrodites erfreute sich einer ungebrochenen Lektüre und Verbreitung.

    Zwar stellte es einen Makel dar, wenn man unehelich auf die Welt kam, doch wog er nicht allzu schwer. Im Gegenteil, der große Renaissanceforscher Jacob Burckhardt beschreibt diese Epoche als goldenes Zeitalter der Bastarde.

    Leonardos Großvater Antonio da Vinci jedenfalls notierte an einem Frühlingstag in dem bereits von seinem Großvater und seinem Vater ererbten Notizbuch, das sich im Laufe der Jahrzehnte zu einer Familienchronik in Daten entwickelt hatte, auf der letzten Seite: »1452. Mir ist ein Enkel geboren worden, der Sohn meines Sohnes Ser Piero, am 15. Tag des Aprils, einem Samstag, um die dritte Nachtstunde. Er trägt den Namen Lionardo.«¹² Lionardo ist die alte toskanische Form für Leonardo, und der Maler sollte später selbst zwischen beiden Formen alternieren. Doch weil im letzten schriftlichen Zeugnis, dem Testament, Messer Leonardo steht und sich im Laufe der Zeit auch diese Form durchgesetzt hat, soll sie im Folgenden durchweg Verwendung finden.

    Die dritte Nachtstunde alter florentinischer Zeiteinteilung entspricht übrigens der heutigen Uhrzeit 22.30 Uhr. Leonardo wurde entgegen anderslautender Behauptungen im Haus der Familie geboren. Es lag am südlichen Ende der Burgmauer in der Nähe des Zentrums des Städtchens und es gehörte ein kleiner Garten dazu. Unter Hinweis auf Leonardos uneheliche Geburt wurde darüber spekuliert, ob der Bastard, wie er in der Terminologie der Zeit genannt wurde, statt im Hause Antonio da Vincis in einem kleinen Bauernhaus, das an der Straße von Vinci nach Anchiano lag, das Licht der Welt erblickte. Dieses Haus gilt heute als Geburtshaus, es befindet sich ein Museum darin. Dort besaß der mit Antonio befreundete Piero di Malvolto einigen Landbesitz. Er hatte bei Piero di Antonio da Vinci Pate gestanden und sollte nun auch bei dessen Sohn Leonardo einen Tag nach der Geburt Pate stehen. Zudem wohnte Piero di Malvoltos Mutter in der Nähe und könnte sich um das gebärende Bauernmädchen gekümmert haben. Doch diese Argumente überzeugen wenig. Ein dem heutigen Verständnis nahekommendes Argument der Schicklichkeit, es gehöre sich nicht, dass die unverheiratete Mutter das uneheliche Kind im Elternhaus des Vaters zur Welt bringt, hat weitaus mehr mit der Welt nach dem 16. Jahrhundert als mit den vorangegangenen Säkula zu tun und berührt zumindest die Grenze des Anachronismus. Doch vor allem sprechen gegen die These von der diskret gehandhabten Geburt in dem Haus an der Landstraße nach Anchiano der öffentliche Umgang mit dem Kind und die große Feier der Taufe, die als gesellschaftliches Ereignis begangen wurde. Wäre Leonardo heimlich in der Nähe von Anchiano zur Welt gekommen, wäre eine andere Kirche für die Taufe zuständig gewesen, die man dann auch aus Gründen der Diskretion in dieser Entfernung gewählt hätte. Mit der Taufe hatte man es in diesen Zeiten hoher Kindersterblichkeit eilig, denn ungetauften Seelen war die Aufnahme in das Himmelreich verwehrt.

    Fest steht jedoch, dass Leonardo in eine Juristenfamilie hineingeboren wurde, denn sowohl Urgroßvater und Großvater als auch der Vater hatten sich erfolgreich als Advokaten betätigt, wenngleich der Großvater sich nach Vinci in das Haupthaus der Familie zurückgezogen hatte und als Privatier von den Einkünften aus Landbau und Pacht lebte.

    Nach dem Studium der Rechte, wahrscheinlich in Pisa, trat Leonardos Vater Ser Piero di Antonio da Vinci in eine Florentiner Kanzlei ein, die ihren Sitz in der Via Ghibellini hatte. Für den jungen Notar folgte eine Zeit des Reisens, so vertrat er zum Beispiel Florentiner Kaufleute in Pisa.

    Zumindest im Sommer des Jahres 1451 weilte er im elterlichen Haus in Vinci und vertrieb sich die Zeit damit, in einem Anfall aus Lust und Verlangen eine Affäre einzugehen, die ihn vorzeitig und ungeplant zum Vater machen sollte. Später notierte Leonardo auf die Rückseite eines Blattes mit anatomischen Zeichnungen, dass Kinder eines Mannes, der den Geschlechtsakt widerstrebend und mit Unlust vollzieht, jähzornig und unzuverlässig werden, während derjenige, der sich dem Akte mit Liebe und auf gegenseitigen Wunsch unterzieht, Nachkommen von großer Intelligenz zeugt, die geistvoll und liebenswert sind.¹³ Da er sich selbst als geistvoll und liebenswert ansah, ging er selbstverständlich davon aus, dass seine Eltern einander in Liebe zugetan waren, zumindest eine Zeitlang und im Akte. So erweckte der uneheliche Sohn das Bild einer Sommerromanze zwischen seinen Eltern. Von dieser Vorstellung ausgehend entstehen wie von selbst romantische Vorstellungen, die man sich von der Beziehung des jungen Mannes und der jungen Frau machte. Der Vater jedenfalls zählte noch ganze vier Tage lang 25 Jahre, denn er war am 19. April 1426 geboren worden, die Mutter 16 Lenze, eine für diese Zeit nicht unübliche Konstellation. Da die Identität von Leonardos Mutter sehr lange im Dunklen lag, blieben die abenteuerlichsten Hypothesen nicht aus. Das Interesse schuf sich seine eigenen Bilder, die zu dem geheimnisvollen Renaissancemagier scheinbar so vortrefflich passten. Es wurde sogar über eine chinesische oder eine arabische Sklavin spekuliert. Die von Martin Kemp und Giuseppe Parranti entdeckte Wahrheit erwies sich jedoch als schlichter,¹⁴ und in ihrer Schlichtheit als interessanter und geheimnisvoller, weil nicht im Fremden, sondern im Bekannten das wahre Mysterium steckt, nämlich die Frage nach dem Grund der Abweichung. Bei dem Kind einer arabischen Sklavin ließe sich phantasiereich über allerlei mögliche exotische Einflüsse räsonieren, stattdessen bleibt nur das viel schwierigere Geschäft übrig, Leonardos erstaunliche Originalität in der Gewöhnlichkeit seiner Herkunft zu finden.

    Die Mutter erblickte 1436 als Caterina Lippi das Licht der Welt. Sie war das Kind armer Bauern. Das Dunkel um ihre Person resultierte schlicht aus ihrer gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit, denn warum sollte ihr jemand größere Aufmerksamkeit zugewendet haben. Über ihre Mutter weiß man nichts, über ihren Vater Bartolomeo Lippi, Meo genannt, wenig. Nach dem frühen Tod des Vaters, der mit etwas mehr als 40 Jahren verstarb, kümmerte sich die Großmutter um die 15-jährige Caterina und um ihren jüngeren Bruder Papo, der 1449 auf die Welt gekommen war. Doch die Großmutter starb bereits im Jahr 1451. Es scheint, dass Orso, der Sohn des Vaterbruders, Papo in seine Familie aufnahm. Er hatte bereits zwei Söhne im Alter von Papo, Giovanni und Antonio. Reich konnte man Orso Lippi nicht nennen, doch arm wohl auch nicht.

    Papo blieb sein kurzes und klägliches Leben lang auf die Hilfe von Orso und dessen Söhnen Giovanni und Antonio Lippi angewiesen.¹⁵ Er starb, kaum dass er sein 30. Lebensjahr hinter sich gelassen hatte. Dass Caterinas älteste Tochter den Namen Sandra von Orsos Ehefrau bekam, kann man als Hinweis darauf verstehen, dass auch Caterina bei Orso und Sandra unterkam, zumal sie in einem Alter war, in dem sie in der Wirtschaft kräftig mitanpacken konnte. Allerdings ließe sich die Namensgebung auch als Dankbarkeit ihrem Cousin und ihrer Cousine gegenüber deuten, denn sie kümmerten sich um ihren Bruder. Plausibler indes scheint es, dass Caterina »in Stellung« zu Antonio di Ser Pietro da Vinci ging, zu Leonardos späteren Großvater, zumal als einzige Frau in dessen Haus nur seine über 50-jährige Ehefrau lebte.

    So kam wohl die 16-jährige Caterina in das Haus Ser Antonios und traf dort den im Hause des Vaters weilenden Ser Piero, den im toskanischen Frühling der Hafer stach. Jung und unerfahren mag sie sich Hoffnungen auf eine vorteilhafte Ehe gemacht haben. Ob Liebe im Spiel war, lässt sich trotz der kryptische Andeutung des 55-jährigen Leonardo nicht sagen, wohl eher Wollust, wie man es damals ausdrückte, denn dieser Ser Piero war bei Lichte gesehen ein nüchterner Geselle, der seine Karriere fest im Blick hatte. Unter seinem Stand würde er nicht heiraten, zumal er Verbindungen und eine gute Mitgift benötigte, um sich in Florenz fest zu etablieren. Entweder hatte er sich zum Zeitpunkt der Geburt des Sohnes bereits mit Albiera, der 16-jährigen Tochter des reichen Florentiner Schuhmachers Giovanni Amadori, verlobt, oder er stand zumindest in Eheverhandlungen mit dem gutsituierten Bürger.

    Doch um das schwangere Mädchen in Vinci kümmerte sich der Familienvorstand, Pieros Vater Antonio, persönlich. Er verheiratete die Kindesmutter nach Niederkunft und Stillzeit mit dem Bauern und Ziegelbrenner Antonio di Piero Butio del Vacca, der den beunruhigenden Beinamen Achattabriga trug, was so viel wie Streithammel, Zänker, Stänkerer heißt.

    Die Taufe am Weißen Sonntag in der Pfarrkirche Santa Croce richtete Leonardos Großvater als großes gesellschaftliches Ereignis aus. Nicht weniger als zehn angesehene Bürger standen für den unehelichen Sohn Pate. Unter ihnen Arrigo di Giovanni Tedesco, der auch della Magnia genannt wurde und der das große Gut der Ridolfi verwaltete. Der Name des Verwalters weist bereits darauf hin, dass dieser Pate aus Deutschland, genauer, aus der Diözese Mainz stammte.¹⁶

    Für seine eigenen Kinder hatte Antonio nur vier bis sechs Bürger gebeten, die Patenschaft zu übernehmen. Es fällt auf, dass Leonardo, dessen Namen übrigens aus der Reihe der Antonios und Pieros heraussticht, der erste Enkelsohn, ja überhaupt das erste Enkelkind Antonios war. Natürlich ging der Familienvorstand davon aus, dass seine Söhne noch Nachkommen und vor allem Erben zeugen werden, doch was die Zukunft bringt, wusste man nicht. Zwar war Leonardo ein illegitimer Sohn, doch er war eben ein Sohn und, wenn man so will, ein Erbe in Reserve. Um keinen Zweifel an Leonardos Abkunft von Piero und somit auch von Antonio aufkommen zu lassen, wurde der große Aufwand getrieben, den unehelichen Sohn an einem Sonntag in überfüllter Kirche vor dem gesamten Sprengel unter Mitwirkung von fünf Paten und fünf Patinnen, die der gehobenen Gesellschaft angehörten, taufen zu lassen. Damit wurde der Enkel so ehrbar als möglich gemacht und der Makel der Unehelichkeit in den Hintergrund gedrängt. Deshalb stand auch von Anfang an fest, dass der Sohn Pieros nicht bei der Mutter, sondern in Antonios Haus aufwachsen sollte. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb die Taufe in Abwesenheit der Mutter und des Vaters stattfand, wie Carlo Vecce behauptet hat.¹⁷ Trotz einer gewissen Laxheit in diesen Dingen hätte deren gemeinsamer Auftritt die etwas überspielte Wahrheit allen Taufgästen im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen geführt. Hinzu kommt, dass die junge Mutter noch im Kindbett lag und der Vater sich mit den Hochzeitsvorbereitungen einer standesgemäßen Ehe beschäftigte. Antonio jedenfalls scheint stolz auf den Jüngsten seiner Sippe gewesen zu sein und eine echte Freude über das Kind empfunden zu haben.

    Anders der Vater. Blickt man auf die weitere Geschichte, so bleibt fraglich, ob er seinen Sohn zu sich genommen hätte, wenn der Großvater nicht diesen Spross vor aller Welt als Familienmitglied anerkannt hätte. Eine Woche nach der Taufe befand sich Ser Piero bereits wieder in Florenz und beglaubigte in seiner Kanzlei die Urkunden seiner Klienten. Zunächst blieb Leonardo in der Obhut der Mutter, die aber zumindest für die Zeit, in der er gestillt wurde, und bis zu ihrer Hochzeit im Haus am Borgo verblieb. Acht Monate später heiratete Ser Piero di Ser Antonio da Vinci die Florentinerin Albiera,¹⁸ während Caterina die Ehe mit Antonio di Piero Butio del Vacca, dem Bauern und Ziegelbrenner, einging und mit ihm ein Haus zwischen Anchora und Vinci bezog.

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