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Mein Neuntausender: Vom tiefsten Punkt der Erde auf den Gipfel des Mt. Everest
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Mein Neuntausender: Vom tiefsten Punkt der Erde auf den Gipfel des Mt. Everest
eBook386 Seiten4 Stunden

Mein Neuntausender: Vom tiefsten Punkt der Erde auf den Gipfel des Mt. Everest

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Über dieses E-Book

Die Besteigung eines Neuntausenders? Unmöglich? Nein! Nicht, wenn der Mt. Everest vom tiefsten Punkt der Erde aus in Angriff genommen wird. Das Tote Meer in Jordanien liegt 420 Meter unter dem Meeresspiegel, 9270 Höhenmeter sind es bis auf den höchsten Gipfel der Welt.

Dies tat Geri Winkler. Dieser stand als erster Wiener und erster Diabetiker im Jahr 2006 auf dem Dach der Welt, doch ehe er das Basislager des Mt. Everest erreichte, hatte er schon eine monatelange Fahrrad-Tour durch halb Asien hinter sich. "In diesem Buch geht es um meine Erlebnisse, Begegnungen, Ängste, Hoffnungen, Schmerzen und Erfolgsgefühle. Es soll zeigen, dass es kaum Grenzen gibt, wenn der Wille stark genug ist, den ersten Schritt zu wagen...", sagt Weltenbummler Winkler selbst.

Tausende Kilometer im Sattel des Fahrrades durch die Wüsten des Nahen Ostens und die Bergwelt Kurdistans, durch den Iran mit seinen Kulturschätzen und seinen gastfreundlichen Menschen, durch die Wüste Belutschistans und quer durch das quirlige Indien bis ins Himalaya-Massiv – all das ist Teil eines der großen Bergsteiger-Träume, der Aufstieg auf den Gipfel der Welt, und das Buch ein vielfältiges und farbenprächtiges Reise- und Berg-Abenteuer.

Mehr als 8000 Kilometern im Sattel quer durch halb Asien folgten Hunderte von Kilometern auf Fußwegen in das Everest-Gebiet und die wochenlange Vorbereitung auf den Aufstieg mit mehreren Akklimatisationstouren in Höhen nahe der Todeszone. Auf der Route der Erstbesteiger Edmund Hillary und Tenzing Norgay, also von Nepal aus, erreichte Winkler am 20. Mai 2006 den Gipfel des Mt. Everest.
SpracheDeutsch
HerausgeberEgoth Verlag
Erscheinungsdatum29. Apr. 2019
ISBN9783903183667
Mein Neuntausender: Vom tiefsten Punkt der Erde auf den Gipfel des Mt. Everest

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    Buchvorschau

    Mein Neuntausender - Geri Winkler

    ändern!

    EINE DIAGNOSE UND DIE MACHT DER DÄMONEN IM KOPF

    Die Diagnose war schon der Hammer! Es war im Herbst 1984, ich war 28 Jahre alt und wurde erst seit wenigen Wochen auf die Schüler eines Wiener Gymnasiums losgelassen, um ihnen Mathematik beizubringen.

    Anfangs war ich eigentlich gar nicht so erschüttert, als ich die Worte meines Hausarztes hörte: „Diabetes – zuckerkrank!" Zum einen wusste ich in diesem Moment recht wenig mit dieser Diagnose anzufangen, zum anderen war ich erleichtert, keine schlimmere hören zu müssen. Innerhalb von nur vier Tagen hatte sich mein Sehvermögen derart verschlechtert, dass ich mich nicht mehr ohne Führung zurechtfand. Nach einer Untersuchung erfuhr ich von meinem Hausarzt, dass nicht eine Erkrankung der Augen an meinem Zustand schuld war, sondern der extrem hohe Blutzuckerspiegel. Besser Diabetes als Blindheit, das war für mich klar!

    Wenige Stunden später war ich im Krankenhaus, die nötigen Labortests wurden durchgeführt. Im Arztzimmer wurde die Erstdiagnose bestätigt und ich erfuhr mehr über meinen neuen Lebensbegleiter: Die folgenden Wochen sollte ich im Spital verbringen, mein ganzes Leben würde ich an der Nadel hängen, um das notwendige Insulin zu spritzen, mein Lebensstil und -rhythmus müssten sich radikal ändern. Nun, das alles klang nicht gerade verheißungsvoll, was mich aber wirklich „knickte, war der Tonfall, in dem mir das alles mitgeteilt wurde. Der sicher gutgemeinte Versuch persönlicher Anteilnahme an meinem Schicksal durch Sätze wie „Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Sie zu einem der wenigen Fälle gehören, die unter Diabetes Typ 1 leiden., warf mich total zurück. In meinem bisherigen Leben hatte ich nicht viel von Regelmäßigkeit gehalten, ich liebte die dauernde Abwechslung. Ich war sieben Monate durch die Welt getingelt, ohne dabei eine geplante Route verfolgt zu haben, die abenteuerlichste Zeit meines Lebens lag gerade einmal drei Wochen hinter mir. Nun sollte das alles vorbei sein?

    Weiße Wände, weißes Bettzeug – die Sterilität des Krankenzimmers hatte mich endgültig gefangen genommen. Die ersten Tage waren ja noch recht abwechslungsreich gewesen. Da lag zwar diese unheilvolle Diagnose im Raum, aber sie war noch nicht wirklich in meinem Kopf angekommen. Zum Nachdenken blieb auch nicht viel Zeit, weil ich von Untersuchung zu Untersuchung geschickt wurde und dauernd Besuch bekam – da fiel es leicht, das „Andersgewordensein" vor mir herzuschieben.

    Nun hing ich aber seit einigen Stunden an dieser Dauerinfusion, die mich ans Bett fesselte und durch die mir Insulin ständig in winzigen Dosen zugeführt wurde. Auf diese Weise wollte man meinen Insulinbedarf herausfinden. Davonlaufen war nicht mehr möglich - auch nicht vor mir selbst! Drei Tage sollte diese Prozedur dauern. Ich wünschte mir, dass die Minuten schneller verrinnen würden, Schluss mit diesem Ruhighalten, aber die Zeiger der Uhr blieben ihrem Takt treu. Schäfchen zählen – das ging bis 30 gut, dann ließ ich es wieder bleiben. Ich konnte ja doch nicht schlafen, so mitten am Tag.

    Das Warten brachte mich zum Grübeln. Ich verschränkte die Hände unter meinem Kopf, blickte hinauf zur Decke. Sie war weiß wie alles hier im Raum, weiß wie eine Leinwand. Da gab es noch diesen Film, der nur in meinem Kopf existierte, der erst vor wenigen Wochen entstanden war. Unscharf entstanden Bilder einer fremden Welt, nahmen vor meinen Augen Konturen an, reihten sich in einen logischen Ablauf – ein Film aus den Tagen der Freiheit:

    Den ganzen Tag war ich von Bäumen, Moos und Wurzeln umgeben gewesen, bin durch knöcheltiefen Schlamm gewatet. Jetzt ist es licht über mir geworden, ein kleiner See liegt vor mir. Das Sonnenlicht des herannahenden Abends verwandelt die Wasseroberfläche in tanzende Goldplättchen. Im grünen Dickicht rund um den See erwachen die Urkräfte des Lebens. Vogelschreie durchbrechen die Stille. Die Lebendigkeit des Waldes umgibt mich nun und ich kann sie doch nicht sehen. Irgendwo brechen Äste – vielleicht ein Wildschwein oder ein Baumkänguru, das die Flucht ergreift. In der Luft mischt sich der stechende Geruch von Fäulnis mit jenem frisch erblühter Blumen.

    Ich sauge die Idylle in mich auf, bleibe sitzen und verweile ein wenig. Der Zauber dieses Platzes ist verführerisch – und trügerisch. In weniger als einer Stunde wird sich dieses Paradies von seiner düsteren, geheimnisvollen Seite zeigen.

    Wir haben noch keinen Rastplatz für die Nacht gefunden. Nicht der leiseste Hinweis auf menschliche Existenz – seit Stunden. Da war nur dieser schmale Pfad, dem wir den ganzen Tag lang gefolgt sind. Ich habe ihn kaum erkennen können. Nur meine einheimischen Begleiter konnten ihn lesen – die geknickten Äste, die Spuren eines Machetenschlages. Und dieser Pfad gibt Hoffnung, dass es hier im Wald doch noch andere Menschen gibt. Irgendwo! Irgendwo entlang dieses verwachsenen Weges!

    Andere Menschen, eine urzeitliche Kulturinsel inmitten dieser wilden, alles dominierenden Natur, das Flackern eines Feuers, einige Süßkartoffeln, die darin garen, das Gewirr von Stimmen – das ist die Geborgenheit, nach der ich mich jetzt sehne.

    Einer meiner Begleiter wiederholt immer wieder, dass es nicht mehr weit sein kann, dass wir bald die Hütten seiner Verwandten erreichen müssten. Er vermutet es nur, denn er kennt diesen Teil des Waldes nicht. Ahnungslos und zielstrebig folgen wir dem kaum sichtbaren Faden menschlicher Spuren, der sich durch den unbekannten Wald am Laiagam-Fluss zieht.

    Angst hat meine drei Freunde auf diesen verwachsenen Pfad in die Berge, hoch über allen Tälern und Dörfern, getrieben. Sie sind Schüler einer von österreichischen Entwicklungshelfern geleiteten Holzverarbeitungsschule in Wanepap, einem winzigen Dorf im einem wenig erforschten Teil Papua-Neuguineas. Dort habe ich sie kennengelernt. Ein Todesfall in der Familie hat sie gezwungen, in ihr Dorf südlich des großen Laiagam-Dschungels zurückzukehren. Auf den Hauptwegen tobt seit Monaten ein erbitterter Stammeskrieg, der jeden das Leben kostet, der sich von den über das gesamte Gebiet versprengten Kämpfertrupps erwischen lässt. Nur der kaum begangene Weg über die mehr als 3000 Meter hohen Berge erschien den jungen Burschen sicher – für mich die Chance mich anzuhängen, einzutauchen in die Unwirklichkeit einer den Menschen gnadenlos trotzenden Natur. Der Zauber, die Härte, die Fremdartigkeit dieses Waldes passen vollkommen zum Wesen dieser Insel, auf der mir immer mehr das Bewusstsein verloren geht, mich noch in der realen Welt zu befinden.

    Selbst die Angst hat in dieser fremdartigen Umgebung etwas schattenhaft Unwirkliches an sich. Wie ein Geisterwesen greift sie aus dem Nichts nach mir, stoppt mich – für Augenblicke. Ich kann hier selbst die Angst nicht mehr als wirklich begreifen, gehe durch sie hindurch wie durch ein Trugbild. Die grasbewachsene Hochfläche, der immer gleiche Trott im knöcheltiefen Schlamm – und dann dieser Einschnitt, wie mit einem riesigen Messer in die gleichförmige Landschaft hineingezogen. Sie ist 15, vielleicht 20 Meter tief – die schmale Schlucht des Laiagam. Ein einziger Baumstamm führt über diesen Abgrund – nicht behauen, rund und nass, Teil einer Realität, die für mich längst zum Spiel geworden ist. Einen Augenblick nur halte ich inne, ich bleibe nicht stehen, gehe weiter, nehme den schlammigen Pfad auf der anderen Seite der Schlucht wieder auf – ohne zurückzublicken. Kein Erschaudern, kein Durchatmen, kein Begreifen!

    Und nun gab es aber noch diese Ängste, die nahe bei meinem Krankenbett lauerten. Sie waren anders, nicht laut, nicht erschreckend. Sie gaben mir Zeit, mich mit ihnen zu beschäftigen. Ruhig umlagerten sie mich und drangen in meine Gedankenwelt ein. Zukunftsängste – entstanden durch den Katalog an Geboten und Verboten, der mir mit der Diagnose anvertraut wurde, verstärkt durch die mitleidvolle und erschütterte Anteilnahme meines Umfeldes.

    Konnte ich durch diese Ängste hindurchgehen, wie damals an der Schlucht des Laiagam? Solange ich noch im Krankenhaus bleiben musste, würde ich da und doch nicht da sein, würde auf meiner fernen Insel bleiben und die Vergangenheit genießen, die ja doch viel schöner war als das Hier und Jetzt in jenen Tagen.

    Ich vermisste sie, die Spontaneität dieser Tage und Wochen im Busch, als nur der Aufgang der Sonne und ihr Untergang mir Grenzen gesetzt hatten. Niemand im Krankenhaus wollte mir diese Spontaneität wiedergeben. Regelmäßige Mahlzeiten, einheitliche Rationen, pünktliches Verabreichen der Insulinspritze – das alles lernte ich dort in Kursen: Tage, die so regelmäßig sein werden, dass sie in ihrer Gleichförmigkeit ihr Antlitz verlieren, sich zum Verwechseln ähnlich werden – ja, mit solchen Tagen „darf" ich alt werden.

    Vom Diabetes hat vermutlich schon jeder gehört, nur wenige wissen aber, was dabei im Körper abläuft und mit welchen Gefahren diese Krankheit verbunden sein kann. Da mein Diabetes mir lebenslange Treue geschworen hat und auch bei allen meinen Abenteuern an meiner Seite bleiben wird, ist es an der Zeit, einiges über meinen neuen Lebensbegleiter zu erzählen.

    Diabetes mellitus, umgangssprachlich auch Zuckerkrankheit genannt, ist eine Stoffwechselerkrankung, die unbehandelt zu einem stark erhöhten Blutzuckerspiegel führt. Wie kommt es dazu?

    Die in der Nahrung enthaltenen Kohlehydrate werden bei der Verdauung in Zucker umgewandelt. Der kleinste Zuckerbaustein ist Glukose – Traubenzucker. Die Glukose wird ins Blut aufgenommen und damit steigt der Blutzuckerspiegel, auch beim Gesunden. Im Blut ist der Energielieferant Zucker allerdings völlig wertlos, er muss in die Körperzellen gelangen. Für die Aufnahme der Glukose aus dem Blut in die Zellen benötigt der Körper das Hormon Insulin, welches in der Bauchspeicheldrüse gebildet wird. Das Insulin wirkt wie eine Art Schlüssel, der die Zellen für die Glukose öffnet. Sobald die Zellen die Glukose aufnehmen und somit dem Blutkreislauf entziehen, sinkt der Zuckerspiegel wieder – bis zur nächsten Nahrungsaufnahme.

    Im Allgemeinen werden zwei Haupttypen unterschieden: Diabetes Typ 1 und Diabetes Typ 2. Gemeinsam ist diesen beiden Typen das Symptom des erhöhten Blutzuckerspiegels. Betrachtet man die Ursache des hohen Blutzuckers, sind das aber zwei völlig verschiedene Krankheiten. Es gibt noch mehrere Sonderformen des Diabetes mellitus, die sich aber alle einer der beiden Haupttypen zuordnen lassen.

    Mehr als 90 Prozent der Diabetiker leiden am Typ-2-Diabetes, der früher auch Altersdiabetes genannt wurde. Ursachen sind familiäre Veranlagung, Übergewicht und Bewegungsmangel. Er tritt überwiegend bei übergewichtigen Menschen ab dem 40. Lebensjahr auf. Durch die Veränderung der Ernährungsgewohnheiten trifft es aber immer häufiger auch junge Menschen, die an Typ-2-Diabetes erkranken. Diese Menschen können zwar Insulin produzieren, der Körper kann es aber nicht ausreichend nutzen. Die Zellen entwickeln eine Insulinresistenz, wodurch zu viel der Glukose im Blut verbleibt und nicht in die Zellen gelangen kann.

    Diese Erkrankung entwickelt sich meist schleichend, man kann mit ihr oft jahrelang ohne Beschwerden leben, wobei aber der hohe Blutzuckerspiegel in der Zeit, in der er nicht behandelt wird, den Gefäßen, Augen, Nieren und Nervenleitungen irreversible Schäden zufügt. Oft wird Typ-2-Diabetes nur zufällig bei einer Blutabnahme entdeckt.

    Von schleichend kann beim Typ-1-Diabetes, früher Jugenddiabetes genannt, keine Rede sein. Betroffen sind beim Auftreten dieser Krankheit meist jüngere, eher schlanke Menschen. Es handelt sich um eine Autoimmunerkrankung, die die körpereigenen insulinproduzierenden Zellen zerstört. Der Körper bildet anfänglich zu wenig, später gar kein Insulin mehr. Dies führt dazu, dass die Zellen keine Glukose mehr aufnehmen können. Ohne Insulin kann der Mensch nur wenige Tage überleben. Daher muss sich der Typ-1-Diabetiker das fehlende Insulin von außen zuführen, sei es durch Spritzen oder durch Insulinpumpen.

    Da ich selbst Typ-1-Diabetiker bin, werden sich alle weiteren Ausführungen zum Diabetes in diesem Buch auf den Typ 1 beschränken. Weil ich selbst meinen Diabetes mit Insulinpens, also der Spritzentherapie behandle, kann ich nur über diese Therapieform aus eigener Erfahrung schreiben.

    Der Körper benötigt auch ohne Nahrungsaufnahme ständig eine minimale Insulinzufuhr. Ich kann natürlich nicht fortwährend im Abstand weniger Minuten winzige Mengen an Insulin spritzen. Für diesen nahrungsunabhängigen Insulinbedarf wurden Basalinsuline entwickelt, die zwar sehr langsam wirken, aber viele Stunden im Körper verfügbar sind. In meinem Fall ist das Basalinsulin 24 Stunden wirksam, ich injiziere es einmal täglich am Abend.

    Sobald ich Speisen oder Getränke mit Kohlehydraten zu mir nehme, steigt mein Blutzucker schnell an. Daher brauche ich für die Nahrungsaufnahme ein sehr rasch wirksames Insulin, das innerhalb weniger Minuten die Glukose im Blut den Zellen zuführt – das sogenannte Bolusinsulin – schnell, aber nur kurzzeitig wirksam.

    Es bedarf mehrtägiger Schulungen, um zu erarbeiten, wie viel Basalinsulin mein eigener Körper benötigt, und wie viel Bolusinsulin ich beispielsweise für ein Stück Brot, für ein Kartoffelgericht oder einen Eisbecher benötige. Diese Insulinmengen sind individuell sehr verschieden, jeder Diabetiker muss seine eigenen Algorithmen finden. Es galt also herauszufinden, wie viel Basalinsulin mein Körper pro Tag benötigt, selbst wenn ich nichts zu mir nehme. Und es galt auch zu erarbeiten, wie viele Insulineinheiten (IE) an Bolusinsulin ich für eine Broteinheit (BE), das sind zwölf Gramm Kohlehydrate, benötige. Zum Glück war ich Mathe-Lehrer!

    Um zu kontrollieren, ob die Insulintherapie auch wirklich zu Werten führt, die nicht viel höher als jene der Gesunden sind, kann heutzutage jeder Diabetiker seinen Blutzucker mit seinem eigenen Gerät schnell und unkompliziert messen. Ein kleiner Fingerstich, ein Blutstropfen auf den Teststreifen – ich mache das vier- bis sechsmal täglich.

    Die Maßeinheit für den Blutzucker sind Milligramm pro Deziliter (mg/dl). Beim Gesunden liegt der mittlere Blutzucker bei 85 mg/dl, nüchtern niedriger, nach den Mahlzeiten deutlich höher. Für Diabetiker wird von den Ärzten eine mittlere Blutglukose von unter 150 mg/dl als Therapieziel angegeben. Tatsächlich dürfte der mittlere Blutzucker bei Diabetikern in Mitteleuropa bei etwa 200 mg/dl liegen, wie verschiedene Studien nachweisen.

    Etwa vierteljährlich lassen Diabetiker im Labor ihren HBA1c-Wert bestimmen. Dieser Wert gibt an, an wie viel Prozent der Hämoglobin-Moleküle Glukose gebunden ist. Dies ist deshalb so spannend für Diabetiker, da dieser Wert Rückschlüsse auf die mittlere Blutglukose während der letzten acht bis zwölf Wochen zulässt. Bei Gesunden beträgt der HBA1c vier bis sechs Prozent, bei Diabetikern soll er unter sieben Prozent betragen.

    Wo liegen nun die Gefahren eines Diabetikerlebens? Mein Körper ist keine Maschine und mein Insulinbedarf hängt nicht ausschließlich von der Menge an Kohlehydraten ab. Bei Ausdauersport sinkt mein Insulinbedarf, bei Stress oder Krankheit steigt er – und das sind nur einige der vielen Faktoren, die auf den Insulinbedarf Einfluss nehmen.

    Es ist also nicht leicht, immer haargenau die richtige Menge an Insulin zu injizieren. War es zu wenig, steigt mein Blutzucker an. Hoher Blutzucker schmerzt nicht! Lebe ich aber lange Zeit mit stark erhöhten Blutzuckerwerten, handle ich mir damit über die Jahre hinweg irreversible Schädigungen an Gefäßen, Nerven, Augen und Nieren ein – die sogenannten Folgeerkrankungen des Diabetes. Lasse ich mehrere Insulinspritzen ausfallen, wird sich extrem hoher Blutzucker entwickeln, der dann unmittelbar lebensbedrohlich werden kann. Solch gefährlich hohe Werte entwickeln sich aber langsam über viele Stunden hinweg und sollten eigentlich unmöglich sein, wenn man mehrfach am Tag den Blutzucker misst und dann bei Bedarf mit Insulin korrigiert.

    Es gibt aber auch eine Gefahr, von der der Diabetiker sehr schnell überrannt werden kann – die Hypoglykämie oder Unterzuckerung. Der Körper jedes Menschen benötigt immer einen bestimmten Glukosespiegel im Blut. Nie wird die gesamte Glukose in die Zellen abgeführt. Beim Gesunden regelt das der Körper selbst. Beim Diabetiker kann es aber durch eine unerwartet lange Sporteinheit oder durch falsche Berechnung eines Mittagessens vorkommen, dass er mehr Insulin im Blut hat als für den Abtransport der Glukose notwendig ist. Der Blutzucker fällt in diesem Fall stark ab, weit unter das Niveau der Gesunden – Wahrnehmungsund Bewegungsstörungen, kalter Schweiß und Zittern sind die Folge, im Extremfall sogar Bewusstlosigkeit. Das Problem bei der Hypoglykämie ist, dass sie sich sehr schnell, in nur wenigen Minuten entwickeln kann. Einziges Heilmittel: Man muss sofort schnell wirksame Kohlehydrate zu sich nehmen. Ich habe immer einige Plättchen Traubenzucker in der Hosentasche, und das nunmehr seit 35 Jahren.

    Soweit mein kleiner Crash-Kurs in Sachen Diabetes! Von all dem wusste ich damals recht wenig, als ich im Krankenhaus über mein künftiges Leben mit dieser Krankheit nachdachte.

    Die Bedeutung sportlicher Aktivität für Diabetiker wurde in den Schulungen stets betont. Das hörte sich vorerst gut an, klang dann jedoch eher nach Seniorengymnastik, für die ich mich noch zu jung fühlte. Joggen: ja, aber nicht zu lang und nicht zu kräfteraubend; schwimmen: ja, aber nicht allein; in die Berge gehen: ja, aber nicht zu weit weg vom nächsten Versorgungsposten – und schon gar nicht klettern! Es konnte mir zwar kein Arzt erklären, warum ich mit diesen so geliebten Freizeitbeschäftigungen als Diabetiker nun schlechter zu Rande kommen sollte, aber die dauernden Warnungen vor Blutzuckerschwankungen, Hypoglykämien und unsachgemäßer Insulinlagerung brannten sich bald auch in mein Denken ein. Ich wollte es nicht wahrhaben, ich wehrte mich gegen diese Gedanken, ich flüchtete mich in das Lesen abenteuerlicher Großtaten, aber letztlich hatte ich keine Chance. Kaum hatte ich das Insulinspritzen erlernt, ereilte mich bereits die erste Folgeerkrankung des Diabetes mellitus: Angstvolle Gedanken setzten sich in meinem Kopf fest und raunten mir zu, dass ich bei meinen sportlichen Aktivitäten und bei meinen Reisen Einschränkungen hinnehmen müsste – nur weil ich Diabetiker bin. Und wollte ich so leben wie früher, so bedurfte es, so meinte ich zumindest, einer gewaltig riskanten Mutprobe – nur weil ich Diabetiker bin.

    Sobald ich so richtig begriffen hatte, was der Diabetes und seine Dämonen in meinem Leben anstellen wollten, begann ich mich jedoch mit Händen und Füßen zu wehren. Rückenwind bekam ich durch die trügerische Remissionsphase, von vielen liebevoll Honeymoon genannt. Das ist ein zeitlich begrenzter Zustand im ersten Jahr nach dem Auftreten der Krankheit, in dem sich die Bauchspeicheldrüse durch die Injektionen teilweise erholt und wieder halbwegs ordentlich Insulin produziert. Der Diabetes-Frischling braucht auf einmal ganz wenig Insulin von außen – wenn er viel Sport betreibt oft gar keines. Das war bei mir der Fall. Diese Phase ist zeitlich begrenzt, einige Monate, vielleicht sogar ein ganzes Jahr. Von „zeitlich begrenzt, so wie es die Ärzte meinten, wollte ich jedoch nichts wissen, ich habe es ganz einfach verdrängt. „Geheilt!, raste es mir so lange durch den Kopf, dass ich es bald wirklich glaubte. Ich lebte wieder wie in der Zeit vor der Diagnose – kein Insulin, viel Sport, nur hin und wieder Blutzuckermessungen. In diese Zeit fielen auch meine ersten Sechstausender-Besteigungen, der Chachani in Peru und der Chimborazo in Ecuador. Auch den höchsten aktiven Vulkan der Erde, den Cotopaxi, ebenfalls in Ecuador gelegen, konnte ich erklimmen.

    Nach dieser Reise war aber Schluss mit lustig! Honeymoon over! Die hohen Blutzuckerwerte in den letzten Tagen meines Aufenthaltes in Südamerika ließen Böses erahnen. Die Realität hatte mich eingeholt, ich hing wieder an der Nadel.

    Und wieder setzten sich die Dämonen in meinem Kopf fest – trübe Gedanken, wie es in meinem Leben weitergehen sollte. Sie lähmten meine Entschlusskraft, sie wirkten auf meinen Körper ein, sie beeinflussten ihn so stark, dass ich ihnen schließlich recht gab. Ein normaler Campingurlaub quer durch Griechenland wurde fast zum Stolperstein. Drastische Blutzuckerschwankungen, und das, obwohl die griechische Kost relativ leicht zu berechnen ist – ich war ganz im Bann der Blutzuckerwerte in Form von Zahlen und haderte damit, dass ich nicht einmal einen Campingurlaub in Griechenland ohne Probleme schaffen konnte. Wie sollte das nur weitergehen? Sollte es im Laufe der Jahre vielleicht noch schlimmer werden? Bliebe dann nicht ein bisschen wenig vom Leben übrig? Rebellion, Flucht, kleinlautes Akzeptieren des düsteren Regelwerks – ein Wechselbad der Emotionen!

    Irgendwann begriff ich, dass ich selbst tätig werden musste, dass ich das Leben mit meinem Begleiter Diabetes nicht einfach ertragen brauchte, dass ich es aktiv gestalten konnte – nach meinen Wünschen und Träumen. Aufbruch! Mir war klar, dass es ein Weg ohne Geradlinigkeit, ein Weg mit Hindernissen und Rückschlägen werden würde.

    Von allen Neujahrsvorsätzen in meinem Leben habe ich keinen wirklich durchgehalten. Dennoch fasste ich einen neuen. Am 1. Januar 1987 beschloss ich, es noch einmal zu versuchen, mein Leben in die von mir gewünschte Richtung zu lenken. Ich war bereit, einiges dafür zu tun, wollte mich auf die Suche nach meinem verlorenen Körper machen. Ich begann mit konsequentem Lauftraining, um körperliche Ausdauer aufzubauen.

    Bisher war ich regelmäßig fünf bis sechs Kilometer gelaufen, und das recht schonend, um eine Unterzuckerung in jedem Fall zu vermeiden – streng nach Vorschrift. Mehr sei nicht drin für einen Diabetiker, hatte man mir gesagt – die körperlichen Reaktionen seien zu unzuverlässig.

    Schon nach wenigen Wochen bemerkte ich, dass ich ohne weiteres 15 Kilometer durchhalten konnte, und das in immer zügigerem Tempo. Als ich dann im März bereits 30 Kilometer ohne Probleme bewältigte, beschloss ich, die Nennung für den im April 1987 stattfindenden Vienna City Marathon abzugeben.

    Nun sollte es also über 42 Kilometer im größtmöglichen Tempo gehen, und da wollte ich doch noch medizinischen Rat einholen. Gefühlsmäßig wusste ich, dass ich meine Insulindosis reduzieren musste, aber bei keiner Schulung erhielt ich Auskunft darüber, in welchem Ausmaß man dies bei einer solchen Laufveranstaltung machen müsste. Ich rief meinen Arzt in der Klinik an und erzählte ihm, dass ich am darauffolgenden Sonntag den Wien-Marathon bestreiten würde und bat ihn um eine Dosisanpassung.

    Seine Antwort war klipp und klar, ohne Umschweife meinte er: „Sie haben keine Chance, das zu überleben!" Sein ärztlicher Einspruch kam aber zu spät, ich war fest entschlossen, am Rennen teilzunehmen, und schließlich hatte ich ja auch schon meine Nennung abgegeben. Er wollte mich dazu bewegen, mich von einem Sanitätswagen begleiten zu lassen und während des Rennens mehrere Blutzuckermessungen durchzuführen. Ich antwortete ihm starrköpfig, dass ich den Marathon wie jeder andere bewältigen wollte und auch in einer akzeptablen Zeit ins Ziel zu kommen hoffte. Da sah mein Arzt ein, dass er mich nicht von meinem Vorhaben abbringen konnte und empfahl mir etwas zähneknirschend, am Tag des Marathons nur die halbe Insulinmenge zu

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