Tollkirschen und Quarantäne: Die Geschichte der Spanischen Grippe
Von Wilfried Witte
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Über dieses E-Book
(300. 000 Tote im Deutschen Reich, bis zu 50 Millionen weltweit) – und zwar,
weil als einer der Ersten der spanische König an ihr erkrankte. Während die
Schulen im Deutschen Reich und in Frankreich geschlossen und von der Südsee
bis Afrika Quarantänen verhängt wurden, versuchten Ärzte weltweit vergeblich,
dem Erreger auf die Spur zu kommen.
Aderlässe und Blutegel kamen zu neuen Ehren, Heidelberger Pathologen sezierten
violett und schwarz verfärbte Leichen mit blutroten Lungen (Tuberkulosekranke
wie Franz Kafka traf die Grippe besonders hart), ein bulgarischer
Naturheiler braute aus Tollkirschen ein Wundermittel gegen die Kopfgrippe.
Und dann gab es auch damals schon infizierte Schweine und Vögel – in einem
neuen Vorwort zu dieser Taschenbuchausgabe arbeitet Wilfried Witte weitere
Parallelen zwischen den Grippewellen am Anfang des 20. Jahrhunderts sowie
der Schweinegrippe zu Beginn unseres Jahrhunderts heraus.
Ähnlich wie Tollkirschen und Quarantäne
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Buchvorschau
Tollkirschen und Quarantäne - Wilfried Witte
Die Originalausgabe erschien 2008 im Verlag Klaus Wagenbach in Berlin.
Bildnachweis
Frontispiz: Richard Collier: The Plague of the Spanish Lady. The Influenza Pandemic of 1918–1919, London, Basingstoke 1974, bei Seite 120; S. 4: © SV-Bilderdienst/Rue des Archives; S. 11: Pierre Lereboullet: La Grippe. Clinique – Prophylaxie – Traitement, Paris 1926, S. 58; S. 27: © Stapleton Collection/Corbis; S. 32: Edwin O. Jordan: Epidemic Influenza. A Survey, Chicago 1927, S. 358; S. 41: Klaus Wagenbach (Hg.): Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben. 4. veränd. u. erw. Ausgabe, Berlin 2008, S.247. © Verlag Klaus Wagenbach; S. 53: Ernst Schultze: ›Ueber Paralysis agitansähnliche Krankheitsbilder (Linsenkernsyndrome) durch Encephalitis epidemica‹, in: Berliner Klinische Wochenschrift 58 (1921), S. 245–249; S. 59: aus dem Privatbesitz von Wilfried Witte; S. 86: Klaus Stuttmann, in: Cicero, 11/2005, S.16. © Klaus Stuttmann; S. 93 oben: zur Verfügung gestellt von der Studiengesellschaft für Emsländische Regionalgeschichte; S. 93 unten: Ems-Zeitung Nr. 137, 14.11.1918 bzw. Simon Dieter: ›Die »Spanische Grippe«-Pandemie von 1918/19 im nördlichen Emsland und einigen umliegenden Regionen‹, in: Emsländische Geschichte 13, 2006, S. 126.
E-Book-Ausgabe 2020
© 2008, 2010 Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Photographie von »Anti-Influenza-Masken« aus dem Medizinhistorischen Institut und Museum, Zürich.
Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph. Alle Rechte vorbehalten
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.
ISBN: 9783803142825
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2633 7
www.wagenbach.de
Die ›Spanische Lady‹: Allegorie der Spanischen Grippe auf einer dänischen Karikatur von 1918
Vorwort
Was hat die Schweinegrippe
mit der Spanischen Grippe zu tun?
Die Afghanen besitzen offiziell ein einziges Schwein. Das haben ihnen die Chinesen geschenkt, für den Zoo in Kabul. Doch im Mai 2009 halten es die Zoobesucher nicht mehr aus: Die Schweinegrippe geht um – und wenn schon Schweinegrippe, dann muss, laut Aussage einer deutschen Tageszeitung vom 8. Mai 2009, das Schwein weggeschlossen werden.
Auch die Zabbaleen, koptische Christen in Ägypten, werden so bald keine Schweine mehr zu sehen bekommen, weil es keine mehr gibt. Job der Zabbaleen ist es, den Müll der Metropole Kairo zu sammeln. Was essbar ist, bekommen ihre Schweine. Ägypten hatte vor Jahren stark unter der Vogelgrippe zu leiden, und die ›unreinen‹ Schweine in der Stadt sind schon immer ein Dorn im Auge der politisch Verantwortlichen gewesen. Bislang gibt es keinen einzigen Schweinegrippe-Fall im Land, was das ägyptische Parlament am 28. April 2009 jedoch nicht daran hindert, sich für die Tötung aller ca. 300.000 Schweine Ägyptens auszusprechen. Am folgenden Tag wird trotz internationaler Proteste mit der Massenschlachtung begonnen. Die Existenzgrundlage der Kopten erscheint als nebensächlich. Die 21-jährige Hanan Ahmed sagt der Nachrichtenagentur Reuters: »Sie haben uns die Tiere weggenommen und uns und die Schweine geschlagen.« Eine Entschädigung für die 25 Tiere habe ihre Familie nicht erhalten.
Was war passiert? Auslöser waren Meldungen Ende April 2009. So hieß es am 24. April 2009: »In Mexiko grassiert eine Schweinegrippe ungeahnten Ausmaßes. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom Freitag starben bisher an die 60 Personen an der Seuche. […] Die WHO berief einen Krisenstab ein.« Wie es ihr zu eigen ist, verwirrt die Grippe ihre menschlichen Beobachter: Die neue Mexiko-Grippe ist keine Vogelgrippe (H5N1), sondern eine Schweinegrippe vom Typ A/H1N1. Der mexikanische Gesundheitsminister soll in einem Fernsehinterview gesagt haben: »Es handelt sich um ein Virus, das von Schweinen auf den Menschen übertragen wurde.« Damit liegt er falsch. Das Virus weist zwar Bestandteile von Viren beim Schwein, bei Vögeln und beim Menschen auf. Es stammt jedoch nicht direkt von erkrankten Schweinen.
Eine lokale Epidemie wie diejenige in Mexiko, die sich von Mensch zu Mensch ausbreitet, zieht gemäß WHO-Pandemieplan die Warnstufe vier nach sich. Bald jedoch gibt es Kranke auch in den USA, also wird auf Stufe fünf erhöht. Am 30. April erläutert der Chef des europäischen Influenza-Programms in Stockholm: »Wenn man einmal Stufe fünf erreicht hat, geht man in Richtung Stufe sechs. Das ist unvermeidlich, nur eine Frage der Zeit.« Und ein Berliner Infektionsbiologe hat tags zuvor erklärt, die Todesrate bei Vogelgrippe liege bei 30 bis 50 Prozent, hier hingegen sei nur etwa ein Prozent der Infizierten akut lebensgefährdet. Die Krankheitsfälle jedoch häufen sich. Am 3. Mai sollen es weltweit mindestens 635 sein, nun heißt es, siebzehn Menschen seien an der Schweinegrippe gestorben. Eine Zeitung dramatisiert: »Das Virus ergreift die Welt.«
Unterdessen normalisiert sich das infolge der Grippe zusammengebrochene öffentliche Leben in Mexiko allmählich wieder. Der erste Schweinegrippe-Patient überhaupt soll ein kleiner Junge namens Edgar Hernández gewesen sein, aus dem Osten der Provinz Veracruz stammend, der am 2. April beim Arzt gewesen war. Das erste offizielle Todesopfer der Schweinegrippe war Adela María Gutiérrez, eine 39-jährige Frau aus Oaxaca im Süden Mexikos. Sie starb am 13. April. Die Menschen in dem kleinen Städtchen La Gloria in der Provinz Veracruz, wo die Spanier im 16. Jahrhundert landeten, sind sich sicher: Die riesige Schweinefarm in der Nähe des Ortes ist der Ursprungsort der neuen Grippe. 15.000 Schweine in 18 Ställen und das in direkter Windrichtung, da muss es herkommen. Doch auch sie täuschen sich, was den Ansteckungsweg anbelangt.
Solche Vorstellungen über Ansteckungsgefahren und -wege schlagen sich auch in den Namen nieder, auf die die Krankheit getauft wird. So heißt die neue Grippe in Deutschland ›Schweinegrippe‹, in den Niederlanden hingegen Mexicaanse griep, in Mexiko selbst la epidemia. In Frankreich kursieren grippe-mexicaine, grippe du cochon, grippe porcine, grippe du porc usw. Die Behörden bemühen sich zu unterstreichen, dass der Verzehr des Fleisches unbedenklich ist. Die WHO indes legt Wert darauf, dass man von »influenza A (H1N1)« spricht. In Deutschland wird daraus im offiziellen Sprachgebrauch ›Neue Influenza A (H1N1)‹, in Holland Nieuwe Influenza A (H1N1) und so fort.
Den Forschern, die sich lange Jahre mit der Grippe beschäftigen, erscheint das Virus wie ein lästiger altbekannter Mitbewohner, den man aber auch bewundert. Das Virus bekommt bei ihnen ein menschliches Antlitz. Der bekannte Grippevirologe Robert Webster aus Memphis, Tennessee, schimpft über das neue H1N1-Virus, es würde sich überhaupt nicht darum scheren, dass der Winter der nördlichen Hemisphäre vorbei sei: »Es ist zu spät in der Saison, um in Menschen vorzukommen, aber es kommt vor.« Konsterniert schließt er: »Man kann keine Gesetze über Grippeviren festlegen – sie brechen sie ständig. Es ist, als wenn das Virus sie liest und sagt: ›Ich mache das verdammte Gegenteil.‹« Ein Epidemiologe aus Michigan, der auch schon seit Jahrzehnten im Geschäft ist, orakelt: »Nichts ist vorhersagbar über Grippe außer ihre Unvorhersagbarkeit.«
Wie wir über Grippe denken, ist Produkt dessen, wie sich die verschiedenen Wissenschaften der Grippe, aber auch die Politik mit der Grippe beschäftigt haben. Die schlimmste Grippepandemie der Geschichte war die Spanische Grippe von 1918-20; von ihr handelt dieses Buch. Ein kulturelles Gedächtnis der Spanischen Grippe, das in der Zeit entstanden wäre, gibt es – von Ausnahmen abgesehen – nicht. Nahezu alles, was wir mit der Spanischen Grippe verbinden, ist im Nachhinein entstanden, vor allem seit das Virus der Grippe 1933 in die Lehrbücher eingegangen ist. Was sich 1918–20 zugetragen hat, ist genauso Gegenstand dieses Buches wie der politische, wissenschaftliche und – soweit möglich – soziale Umgang mit der Grippe seit 1918. Alles, was wir 2009 zur Grippe sagen können, ist eingefärbt durch die Wahrnehmung der Herbstwelle der Grippe vor 91 Jahren. Immer wenn die Angst obsiegt, wenn wir über Influenza reden, ist ›1918‹ im Spiel.
Dabei sind oft Gewissheiten im Schwange, die trügerisch sind. Experten der Grippe beklagen schon einmal, dass allein der Begriff ›Grippepandemie‹ unbekannt sei. Dabei beruht der heute geltende Begriff auf einer Definition der WHO von 1999. Ohne die WHO – und auch das versucht dieses Buch zu zeigen – wäre die Grippebekämpfung von vorneherein Stückwerk. Mit der WHO ist aber auch eine Letztinstanz geschaffen worden, an der vieles hängen bleibt. Man kann, wie das geschehen ist, ausschließlich epidemiologisch davon ausgehen, dass die nahezu weltweite Ausbreitung entscheidend ist, um von einer Grippepandemie sprechen zu können. So könnte man im Abstand von wenigen Jahren von Pandemien reden, die sich nur nach der Schwere der Erkrankungen unterscheiden würden. Ein anderer Weg, der eingeschlagen wurde, war der, immer dann von einer ›Grippepandemie‹ zu sprechen, wenn eine weltweite Verbreitung einer ernsten Grippe vorlag, die viele Komplikationen, vor allem in Form von Lungenentzündungen, nach sich zog. Setzt man die Mindestrate an Komplikationen indes nicht zu hoch an, so kann man ohne Weiteres alle paar Jahre wieder von Pandemien sprechen. Erst mit dem Stufenplan der WHO wird eine Influenzapandemie als ein außergewöhnliches epidemiologisches und virologisches Ereignis festgeschrieben.I Dies ist jedoch nur möglich, indem man den begrenzten Rahmen des virologischen Wissens zur Grippe anerkennt. In gewissem Sinne gilt: Grippe ist das, was wir daraus machen.
Nur ein halbes Jahr, nachdem dieses Buch erstmals erschienen ist – weshalb es jetzt schon dieses neue Vorwort benötigt –, ist es schließlich so weit: Dr. Margaret Chan, selbst ehemalige Grippeforscherin, nun Generaldirektorin der WHO, ruft am 11. Juni 2009 Warnstufe sechs aus. Jetzt ist die erste Grippepandemie nach 1968–70 amtlich. Chan betont, dass es noch nie eine Pandemie gegeben habe, die so früh festgestellt und so genau überwacht wurde, »in Echtzeit«. Global, so führt sie aus, habe man gute Gründe zu glauben, dass diese Pandemie, wenigstens in ihren frühen Tagen, moderat ausfallen werde.
Bald wird aus Schottland der erste europäische Grippetote gemeldet, der eine Grunderkrankung gehabt haben soll. Anfang Juli ist Großbritannien in Europa anscheinend am stärksten von der neuen Grippe betroffen. Am 3. Juli sind 7447 Fälle im Vereinigten Königreich durch Labortests bestätigt, die meisten aus den West Midlands, London und Schottland. Im Juli und August steigt die Zahl der Erkrankungsfälle in Deutschland. Die meisten hängen mit Auslandsreisen zusammen; die meisten deutschen Urlauber stecken sich in Spanien an. Am 6. August werden in Deutschland 9213 Fälle gezählt, Anfang Oktober werden bundesweit mehr als 22.000 Erkrankungen verzeichnet. Am 25. September stirbt in der Essener Universitätsklinik eine 36-jährige, stark übergewichtige Patientin an Schweinegrippe. Es scheint sich um das erste Todesopfer der Schweinegrippe in Deutschland zu handeln. Ende Oktober sind drei weitere deutsche Grippeopfer der Infektion erlegen, darunter ein fünfjähriger Junge aus dem Saarland. Zu diesem Zeitpunkt gibt es in den USA bereits 1000 Tote, darunter knapp 100 Kinder. In 46 der 50 Bundesstaaten wird die Schweinegrippe nachgewiesen. 20.000 Menschen mussten schon ins Krankenhaus wegen der Grippe.
Die Zahlen steigen weiter an, Anfang November werden in Deutschland in einer Woche 3075 neue Grippefälle registriert. Bayern und Rheinland-Pfalz weisen die höchsten Steigerungsraten auf. In Deutschland werden 11, in Mexiko 398, in Großbritannien 151 Tote vermeldet. Am stärksten breitet sich die Schweinegrippe jetzt in Osteuropa und Zentralasien aus. Außer in tropischen Ländern wie Singapur gilt zu