Guru statt Jesus: Radha Soami Satsang Beas - Endstation ekstatischer Gottsuche
Von Berndt Bleckmann
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Über dieses E-Book
Die Frau aus einer oberbayerischen Kleinstadt ist eine ernsthafte und emotionale Gottsucherin. Sie meditiert, erlebt mystische Ekstasen. In Indien begegnet sie Mutter Teresa, dient dem indischem Katholizismus und studiert brahmanische Lehren, bis sie in den Bannkreis eines Gurus gerät, den sie für Jesus hält.
Berndt Bleckmann versucht, die Höhen und Tiefen, die Euphorien und Depressionen, die sie in ihrer Autobiografie schildert, psychologisch-naturwissenschaftlich zu verstehen. Insbesondere beschäftigt ihn die Frage, was Menschen dazu bringt, ihren Glauben, ihre Moral und ihre Selbständigkeit so weit aufzugeben, dass sie lieber für ihren Guru sterben würden, als an seinen Worten zu zweifeln.
Um hinter das Geheimnis dieses Lebensweges zu kommen, geht der Autor einer Vielzahl von Fragen nach: Was trennt Christentum und Hinduismus? Was passiert neurophysiologisch bei Halluzinationen oder mystischen Ekstasen? Was geht bei den Massenzusammenkünften oder den Séancen einer Sekte vor sich? Ein Exkurs über Massenpsychologie rundet die Analyse ab.
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Buchvorschau
Guru statt Jesus - Berndt Bleckmann
Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Impressum:
© Verlag Kern GmbH, Ilmenau
© Inhaltliche Rechte beim Autor
1. Auflage, April 2020
Autor: Berndt Bleckmann
Titelbild: Berndt Bleckmann unter Verwendung einer Fotografie
von Sasha Martynov (Pexels)
Layout/Satz: Brigitte Winkler, www.winkler-layout.de
Lektorat: Dorothea von der Höh, www.lektorat-vonderhoeh.de
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2020
Sprache: deutsch
ISBN: 978-3-9571-6321-9
ISBN E-Book: 978-3-9571-6302-8
www.verlag-kern.de
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Übersetzung, Entnahme von Abbildungen, Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, Speicherung in DV-Systemen oder auf elektronischen Datenträgern sowie die Bereitstellung der Inhalte im Internet oder anderen Kommunikationsträgern ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags auch bei nur auszugsweiser Verwendung strafbar.
Berndt Bleckmann
Guru statt Jesus
Radha Soami Satsang Beas
Endstation ekstatischer Gottsuche
INHALTSVERZEICHNIS
Cover
Impressum
Titel
Annas Jugend
Klosterjahre
Anna geht nach Indien
Besuch in der Heimat
Anna in Beas
Die lange Nacht des Abschieds
Zurück in Deutschland
Eine psychologische Nachlese
Zwei Brüder, ein Guru und eine halbe Milliarde Dollar
Exkurs in Massenpsychologie
Wien, Heldenplatz, 15. März 1938
Sudhir Kakar in Beas
Endnoten
ANNAS JUGEND
Anna war keine Schönheit, aber sie war auch nicht hässlich. Mit ihren dreizehneinhalb Jahren war sie gerade dabei, ihrer kindlichen Figur zu entwachsen. Und was sich jetzt formte und tat, war ihr neu. Überhaupt passierten in letzter Zeit Dinge, die sie nicht verstand. Ein wirres, aufregendes Getümmel war manchmal in ihrer Brust – war da doch ein gewisser Gymnasiast. Anna fuhr täglich mit dem Zug zur Schule in die nächste Kreisstadt. Sie verstand es so einzurichten, dass sie zufällig in die Nähe jenes Gymnasiasten kam, der ihr gefiel und sie doch extrem beunruhigte – bis jenes Wunder passierte, das ihr Leben veränderte.
Die Gemeinde, in der sie mit ihren Eltern lebte, war, aus der Ferne betrachtet, eine oberbayerische Idylle. Anna hatte sechs Geschwister und war die Älteste. Bei näherem Hinsehen war die Idylle aber getrübt, denn die Zeiten waren alles andere als beschaulich. Die althergebrachte christlich-bayerische Doppelherrschaft, oben im Himmel der liebe katholische Gott, herunt’n da Kini, war aus den Fugen geraten, weniger im Himmel als vielmehr auf Erden. Statt des Königs gab es nun einen Führer, gebürtig aus dem bis zu Napoleons Abgang bayerischen Innviertel. Wir schreiben das Frühjahr 1937. Die Anhänger der oberen Herrschaft waren etwas leiser geworden, dafür waren die Mitläufer der irdischen Herrschaft lauter geworden. Waren sie lauter, weil sie an den Führer glaubten, oder glaubten sie an den Führer, weil sie lauter sein wollten? Jedenfalls waren die Volksgenossen auch in Annas Heimatgemeinde an der Macht, sehr zum Missfallen ihrer Eltern, denn diese waren streng und ausschließlich Anhänger der himmlischen Macht, was wiederum den irdischen Machthabern missfiel. Ihr Vater war also vom „Führer" nicht begeistert, was ihn aus heutiger Sicht ehren mag, damals aber die Familie veranlasste, den Wohnort zu wechseln.
„Im Jahre 1938 gelang es meinen Eltern, sich dem Würgegriff der Nazis in der Kleinstadt durch einen Umzug nach München, der Heimatstadt meiner Mutter, zu entziehen. In der anonymen Großstadt hofften sie, in Frieden leben und ihre Kinder im Sinne ihrer Religion erziehen zu können."¹
An dieser Stelle muss eingeräumt werden, dass „Anna" ein Pseudonym ist. Anlass für diese Schrift, die ich hier verfasse, ist die 600-seitige Autobiografie der Münchnerin Shraddha Liertz, die den Titel trägt Abenteuer des Glaubens. Aber „Shraddha" ist nicht ihr Vorname, sondern ein indischer Mädchenname, den sie in einem neo-hinduistischen Ashram bekam. Ihren wahren Vornamen verrät sie uns nicht. Als sie im Jahre 1999, im Auftrag einer Sekte, zu schreiben begann, war sie 76 Jahre alt. Sie arbeitete rund zehn Jahre an dem Buch und legte es im Jahre 2009 ihrem „geliebten Meister zu Füßen". Das war der Guru einer Sekte, die sich Radha Soami Satsang Beas nennt. Die Sekte hat ihr spirituelles Zentrum im Nordwesten Indiens, im Teilstaat Punjab. Sie hat ein paar Millionen Mitglieder in Indien und behauptet, Niederlassungen in neunzig Ländern der Welt zu haben. Da Shraddha so gar nicht zu dem oberbayerischen Dirndl passt, das uns in der Autobiografie begegnet, habe ich mir die Freiheit genommen, sie „Anna" zu nennen.
An einem Tag im Frühjahr 1937 hatte Anna eine Erleuchtung, ähnlich den Kindern in Lourdes oder Fatima, von denen sie damals sicher gehört hatte. Dieses Erlebnis brachte sie auf jenen Weg, den sie später ihr Abenteuer des Glaubens nennen wird. Was ihr widerfuhr, schildert sie zunächst in der dritten Person:
„Es war im Frühjahr 1937. Der Zug, mit dem das junge Mädchen von der Schule nach Hause fuhr, näherte sich bereits dem Bahnhof. Sie war auf die Plattform des Waggons hinausgetreten und wartete darauf, dass der Zug hielt. Sie dachte wohl an die Unterrichtsstunden des vergangenen Vormittags oder an die Hausaufgaben, die sie an diesem Nachmittag zu erledigen hatte. Vielleicht dachte sie auch an jenen netten Gymnasiasten, der jeden Tag mit demselben Zug zur Schule fuhr und für den sich ihr junges Herz erwärmt hatte. Jedenfalls dachte sie in diesem Augenblick nicht an Gott.
Plötzlich war dem jungen Mädchen, als fiel von oben herab ein unsichtbares Licht und überflutete sie. Völlig überwältigt von dem Geschehen, verharrte sie wie gebannt. Gleichzeitig ‚hörte‘ sie in ihrem Inneren eine deutlich wahrnehmbare Stimme, die zu ihr sagte: ‚Bewahre die Liebeskraft deines Herzens, denn du weißt nicht, ob Gott nicht eines Tages dein ungeteiltes Herz von dir verlangen wird.‘"²
Anna schreibt dann weiter:
„Mit diesem Erlebnis begann mein Abenteuer des Glaubens. Das Ganze hatte sich innerhalb von Sekunden abgespielt. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass es Gott war, der zu mir gesprochen hatte. Seine Stimme war fordernd und zugleich unendlich sanft und voller Liebe. Ich fühlte, dass es mir freistand, meine Zustimmung zu geben, aber ebenso war mir klar, dass ich mein Ja-Wort geben musste. Die Forderung war unausweichlich und ließ mir dennoch alle Entscheidungsfreiheit. Sie erfüllte mich mit tiefem Glück und einem großen inneren Frieden, und dieses Gefühl gab mir die Sicherheit, dass es Gottes Stimme war, die ich gehört hatte.
Ich war zu diesem Zeitpunkt dreizehneinhalb Jahre alt. Noch nie zuvor hatten mich solche Gedanken bewegt, und ich hatte keine Ahnung, welche Auswirkungen dieses Erlebnis auf mein Leben haben würde – doch ich gehorchte augenblicklich, das heißt, ich gab meine Verliebtheit sofort auf, ohne darüber nachzudenken, auf welche Weise Gott mein ungeteiltes Herz einmal einfordern könnte."³
Anna glaubt an ein Wunder, und das ist in ihrem Alter nichts Verwunderliches. Es ist der Gott ihrer kindlich-jugendlichen Vorstellungswelt, vermutlich ein älterer Herr europäischen Zuschnitts, der Deutsch zu ihr spricht. Der Satz Bewahre die Liebeskraft deines Herzens, denn du weißt nicht, ob Gott nicht eines Tages dein ungeteiltes Herz von dir verlangen wird, ist nicht die Sprache eines Kindes, passt aber in das Repertoire von Heiligengeschichten und frommen Legenden, die in ihrem streng katholischen Elternhaus Erzählgut gewesen sein mögen. Dessen Sprach- und Denkmuster stammen noch aus den Zeiten der Wittelsbacher.
Was uns Anna rückschauend schildert, ohne es zu wissen oder wissen zu wollen, sind die Symptome einer Halluzination, wie sie für einen „petit mal", einen kleinen epileptischen Anfall, nicht untypisch sind. Auslöser dafür können fehlende Balancen bei Stoffwechselvorgängen sein, die bei Pubertierenden nicht selten vorkommen. Anna wird von einem Licht überflutet, sie hört eine deutlich wahrnehmbare Stimme, sie fühlt sich von einem unbeschreiblichen Glücksgefühl überwältigt und ist zutiefst davon überzeugt, dass in diesem Augenblick alles wahr und einmalig ist. Diese Sekundenbruchteile hatten überwältigende Authentizität, ja, sie waren ihr von übernatürlicher Gewissheit. Und es war diese gefühlte Gewissheit, die ihr Leben veränderte.
Auch Fürst Myschkin in Dostojewskijs Roman Der Idiot empfindet die Übermacht solch eines Augenblicks:
„Er dachte unter anderem daran, dass es in seinem epileptischen Zustand fast unmittelbar vor einem Anfall (falls der Anfall im Wachen eintrat) eine Phase gegeben hatte, wo auf einmal mitten in der Traurigkeit und der seelischen Finsternis und der Niedergeschlagenheit sein Gehirn für Augenblicke gleichsam aufgeflammt war und all seine Lebenskräfte sich plötzlich mit außergewöhnlicher Energie gespannt hatten. Die Empfindung des Lebens und das Bewusstsein der eigenen Persönlichkeit verzehnfachten sich in diesen Augenblicken, die nur die Dauer eines Blitzes hatten. Verstand und Herz waren von einem ungewöhnlichen Licht durchleuchtet, all seine Aufregungen, all seine Zweifel, all seine Beunruhigungen mit einem Schlag besänftigt, in eine höhere Ruhe voll klarer, harmonischer Freude und Hoffnung, voll Verstand und Einsicht in die letzten Gründe der Dinge aufgelöst."⁴
Dostojewskij, der hier Autobiografisches verarbeitet, beschreibt die Vorphase zu einem „grand mal, einem großen epileptischen Anfall, der oft in dunkler Besinnungslosigkeit endet. Das Besondere eines „petit mal
liegt darin, dass der Betroffene diesen Anfall als solchen nicht wahrnimmt. Möglicherweise tritt auch hier Besinnungslosigkeit ein, die aber so kurz ist, dass sie übersehen wird. Beiden Zuständen gemeinsam ist die überwältigende Intensität der Empfindung, wodurch das Erlebte als absolut wahr und echt erscheint. Auch der Maler van Gogh muss solche Erlebnisse gehabt haben. Bei ihm war es die Grelle und Leuchtkraft der Farben, die er in diesen Augenblicken sah und dann versuchte, in seinen Werken wiederzugeben, bei Dostojewskij war es die Tiefe und Überzeugungskraft der Gedanken, und bei Anna war es die vermeintliche Stimme Gottes, die sie überwältigte. Wie das Gehirn den „Blitz eines epileptischen Anfalls verarbeitet, wie es diese „Sekunde der Wahrheit
interpretiert, entspricht den Lebensumständen und Veranlagungen des Betreffenden. Der Maler sieht die Farben leuchtender, der introvertierte Schriftsteller die Empfindungen und Gedanken und das gottesfürchtig erzogene Kind hört Gottes Worte.
Auch Anna schreibt: „Seine Stimme war fordernd und zugleich unendlich sanft und voller Liebe. Ich fühlte, dass es mir freistand, meine Zustimmung zu geben, aber ebenso war mir klar, dass ich mein Ja-Wort geben musste. Die Forderung war unausweichlich und ließ mir dennoch alle Entscheidungsfreiheit. Sie erfüllte mich mit tiefem Glück und einem großen inneren Frieden, und dieses Gefühl gab mir die Sicherheit, dass es Gottes Stimme war, die ich gehört hatte." Auch hier entsprechen die Gedanken offensichtlich ihren Lebensumständen. Sie wächst in einer streng katholischen Familie auf. Bei ihrer Geburt betet die Mutter, dass die erstgeborene Tochter ein echtes Kind Gottes werden möge. Im späteren Klostereintritt der Tochter wird die Mutter dann die Erfüllung dieses Wunsches sehen.
Damals, in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, war es in gutbürgerlichen Familien tabu, über Sexualität zu sprechen. Alles, was mit dem Geschlechtlichen zu tun hatte, war mit diffusen Angstgefühlen gekoppelt. Die Situation, bevor Anna „die Stimme Gottes" hörte, könnte Folgende gewesen sein: Die Züge waren in dieser Zeit meist sehr voll und ganz besonders dann, wenn Schüler fuhren. Vielleicht suchte sie die Nähe des netten Gymnasiasten. Vielleicht wurde sie an ihn gedrückt. Sie könnte ein Begehren gespürt haben, das sie richtigerweise mit ihrer Sexualität in Verbindung brachte, was wiederum große Schuldgefühle in ihr ausgelöst haben mag. Sie wäre dann in einer schwer erträglichen psychischen Klemme gewesen. Einerseits spürte sie das Verlangen nach dem netten Gymnasiasten, andererseits wuchsen ihre Schuldgefühle mit der Stärke des Verlangens. Da tritt der liebe Gott als Rivale des Gymnasiasten auf den Plan. Der Satz, den sie halluziniert, gibt ihr die Möglichkeit, ihrem Dilemma zu entfliehen. In diesem Augenblick überträgt sie die Gefühle ihrer erotischen Zuneigung auf Gott. Das bringt ihr ungeheure Erleichterung und entlastet sie von ihren Schuldgefühlen. Ein großes Glücksgefühl stellt sich ein. Sie kann weiterhin starke Zuneigung empfinden, aber nun ist sie erlaubt, mehr noch: Gott zu lieben steht in der Werteskala ihrer religiösen Umgebung an höchster Stelle. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal ihre Schilderung: Seine (Gottes) Stimme war fordernd und zugleich sanft und voller Liebe, klar war, dass ich mein Ja-Wort geben musste. Ein Ja-Wort gibt man bekanntlich vor dem Traualtar. Weiter berichtet sie: Noch nie zuvor hatten mich solche Gedanken bewegt …
Welche Gedanken sie bewegt hatten, führt sie nicht weiter aus. Indirekt geht aber aus dem Folgenden hervor, dass es sich um den erotischen Gedanken, einem Mann zu gehören, handelte: … doch ich gehorchte (der Stimme) augenblicklich. Das heißt, ich gab meine Verliebtheit (in den netten Gymnasiasten, Anm. d. Autors) sofort auf, ohne darüber nachzudenken, auf welche Weise Gott mein ungeteiltes Herz einmal einfordern könnte. Wenn es sich um Verliebtheit handelte, dann ging es wohl nicht nur um ihr „Herz", sondern auch um ihren Körper. Schuldgefühle entstanden nach dem damaligen katholischen Weltverständnis nur, wenn Sexualität mit im Spiel war. Gott tritt also an die Stelle des erotisch begehrten Gymnasiasten. Jetzt darf sie lieben und das aus ganzem Herzen. Und genau das tut sie.
Die Verschiebung oder Übertragung von Gefühlen von einer Person, der sie ursprünglich gelten, auf eine andere Person ist in der Psychopathologie und auch im Alltagsleben kein seltenes Phänomen. Am geläufigsten ist der Fall, dass eine Aggression, die eigentlich einer höher gestellten Person gilt, an einem Schwächeren abreagiert wird. Im entgegengesetzten Fall, wo es sich um ein Begehren handelt, werden Eigenschaften und Gefühle, die einem Wunschbild gelten, auf eine andere Person übertragen. Nichts anderes machen frisch Verliebte.
Bei Anna könnte also zweierlei zusammengekommen sein: die gedankliche Verarbeitung eines kleinen „Gewitters" im Gehirn (petit mal) mit Blitz (Licht) und Donner (Stimme) und ihr schwelender Konflikt wegen ihrer erotischen Zuneigung zu dem Gymnasiasten und den damit verbundenen Schuldgefühlen. Mit dieser Interpretation der Geschehnisse soll nicht behauptet werden, dass es so war, sondern nur, dass es so gewesen sein könnte. Eine Ferndiagnose über ein Ereignis, das ein Menschenalter zurückliegt und im Gewand einer Autobiografie bekannt gemacht wird, kann nur hypothetischen Charakter haben. Andererseits werden mit dieser Hypothese spätere Ereignisse in Annas Leben plausibel, die andernfalls unverständlich blieben.
Den wichtigsten Vorfall ihres jungen Lebens erzählt sie ihren Eltern nicht, obwohl sie von einem innigen Verhältnis zu ihnen spricht. Schämt sie sich ihrer erotischen Beziehung zu Gott? Sie schreibt, ihre Eltern hätten sie nicht verstanden, wenn sie davon berichtet hätte. Es ist aber untypisch für eine 13-jährige, abzuwägen, was die Eltern verstehen und was nicht, wenn es sich um weltbewegende Dinge handelt. Und eben weltbewegend war ja das Erlebnis für die 13-jährige. Sie will wohl eher sagen, dass sie befürchtete, die Eltern würden ihr nicht glauben. Sie hat also nun ein unsagbares Geheimnis, das sie mit anderen nicht teilen kann.
Ein Halluzinationserlebnis, mit einer Aura von absoluter Echtheit und Wahrheit, kann einen Menschen für immer verändern. Es wird zum allgegenwärtigen, alles beherrschenden Mittelpunkt des Denkens und Fühlens. Das bekannteste Beispiel aus religiöser Literatur ist jener Saulus, der in Damaskus zum Paulus wurde.⁵ Erleuchtungserlebnisse waren im Altertum gang und gäbe. Archaische Kulte entwickelten Techniken, um Erleuchtungserlebnisse zu generieren, sei es durch ekstatische Tänze und Gesänge, sei es durch Rauschmittel oder Meditation.
Im Gespräch mit dem Buchautor Ulrich Schnabel erzählt