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Wind von Westen: Eine rheinische Familiengeschichte
Wind von Westen: Eine rheinische Familiengeschichte
Wind von Westen: Eine rheinische Familiengeschichte
eBook373 Seiten5 Stunden

Wind von Westen: Eine rheinische Familiengeschichte

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Über dieses E-Book

Niederwesseling 1793. Agnes, die junge Halfin des Kirchhofs, ist nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes gezwungen, sich so bald wie möglich neu zu vermählen. Die Wahl ihres Vaters fällt auf Balthasar Broicher, den fünften Sohn eines wohlhabenden Halfen. Die Zeiten sind unruhig. Die Alliierten pressen die letzten Heu- und Haferrationen aus den Bauern heraus, von Westen droht der Einmarsch der französischen Revolutionsarmee. Das sind jedoch keine Gedanken, mit denen sich Balthasar dieser Tage beschäftigt, schon seit Jahren heimlich in Agnes verliebt, sieht er sich endlich am Ziel seiner Träume. Doch am Hochzeitstag schaut er nur in feindselige Gesichter. Wird er sich gegen Jakob Frings' Tyrannei behaupten, und, vor allem, wird er das Herz seiner Frau erobern können?
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum21. Apr. 2020
ISBN9783751925594
Wind von Westen: Eine rheinische Familiengeschichte
Autor

Cordula Broicher

Cordula Broicher wurde 1962 in Hessen geboren. Nach vielen Umzügen in ihrer Kindheit und Jugend wurde sie 1995 in der Schlossstadt Brühl endlich heimisch. Hier lebt sie mit Mann, zwei Kindern, Enkelsohn und Labradorhündin Paula. Bücher waren schon von klein auf ihre Möglichkeit des Rückzugs in eigene Welten, aus denen sie sich auch heute noch manches Mal schwer lösen kann. Ihre Zeit verbringt sie neben Beruf und Schreiben am liebsten mit Lesen oder genießt auf Hundespaziergängen die Natur in der Umgebung.

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    Buchvorschau

    Wind von Westen - Cordula Broicher

    Eine rheinische Familiengeschichte

    Jan und Griet

    Zo Köln em ahle Kümpcheshoff,

    Wonnt ens 'ne Boersmann,

    Dä hatt' en Mäd, de nannt sich Griet,

    Ne Knäch, dä nannt sich Jan.

    Dat Griet, dat wohr en fresche Mäd,

    Grad wie vun Milch un Blood;

    Dä Jan, dat wohr 'ne starke Poosch,

    Dem Griet vun Hätze good.

    Doh säht it: »Jan, do bes 'ne Knäch,

    Un ich en schöne Mäd.

    Ich well 'nen däft'gen Halfen hann,

    Met Oehs un Köh un Pähd«

    Un als dä Jan dä Kall gehoot,

    Do trohk hä en dä Kreeg;

    Schlog immer düchtig en dä Feind,

    Holf wenne mänche Seeg.

    We widder hä noh Kölle kohm,

    Soß hä op staatzem Pääd;

    Dä Jan, dä wohr no Feldmarschall,

    Dä große Jan vun Wäth.

    Und wie hä an de Pooz no kohm,

    Soß en der Pooz dat Griet;

    It soß vör einem Appelkrom,

    Wo it Kuschteien briet.

    Un als dä Jan dat Griet dhät sinn,

    Leht stell si Pääd hä stonn,

    Un größten it, un säht zo im:

    »Griet wer et hätt' gedonn!«

    Un als dat Griet dä Jan dhät sinn,

    Su blänkig usgerooß,

    Do größt it in, un säht zo im:

    »Jan, wer et hätt' gewoß!«

    Ehr Mädcher all, o merkt üch dat,

    Un sitt mer nit zo friet;

    Gar mäncher hätt et leid gedonn,

    Dat leht vum Jan un Griet.

    (Volkliederarchiv.de)

    Inhalt

    Der Halfe ist tot

    Hochzeit auf dem Kirchhof

    Hofleben

    Veränderungen

    Eine Fahrt nach Köln

    Briefpost

    Das Kind kommt

    Kaiserliche auf dem Hof

    Hochzeit auf dem Dohmenhof

    Gedanken auf dem Heimweg

    Frauenarbeiten

    Das Warten ist das Schlimmste

    Tilla auf dem Dach

    Franzosenzeit

    Unruhige Zeiten

    Hoher Besuch

    Hochwasser

    Sorge um Agnes

    Der Wind dreht sich

    Das Frühjahr kommt

    Freiheitsbäume

    Messgang

    Obsternte

    Kirmes

    Winterfreuden

    Straßenarbeiten

    Gewitter

    Männerbesuche

    Werwölfe

    Nachwort und Dank

    Der Halfe ist tot

    April 1793

    DER W IND STAND auf Nordwesten. Balthasar hob den Kopf, betrachtete missmutig die geschlossene Wolkendecke und den stetig fallenden Regen. So, wie es aussah, würde er auch den Rest des Tages in der dunklen Scheune verbringen müssen und Zaunpfähle sägen. In der Luft lag der würzige Duft regennasser Erde. Er atmete tief ein und sog ihn in sich auf, kostete diesen winzigen Moment der Freiheit in vollen Zügen aus.

    »Willst du da draußen Wurzeln schlagen?« Bernhards helle Stimme verhallte wie immer ohne rechte Drohung.

    »Oder ist sich unser Pastor zu fein für ein bisschen Regen?«, spottete Caspar, was bei den Männern promptes Gelächter auslöste. Balthasar grinste. Das Verhalten seiner Brüder war so vorhersehbar wie die Schlägerei mit den Wesselingern am Kirmessonntag. Nach außen gaben sie sich laut und rau, zeigten Ecken und Kanten, ließen sich aber butterweich um die kleinen Finger der Weiber wickeln.

    Er wechselte die zu schleifende Axt in die andere Hand und lehnte sich abwartend gegen den Torrahmen der großen Scheune. Noch konnte er nicht gehen. Noch fehlte der krönende Abschluss.

    Er musste nicht lange warten. Nur wenige Augenblicke später zischte ein stattliches Holzscheit wenige Fingerbreit an seinem Ohr vorbei und platschte in eine der unzähligen Pfützen.

    »Mach voran! Ich will mit den Balken bis Mittag fertig werden!«

    Schade, offensichtlich war der Geduldsfaden seines ältesten Bruders heute besonders kurz. Gemächlich stieß sich Balthasar vom Torrahmen ab und schlenderte los, sicher, Max damit soweit zu provozieren, weitere Holzscheite folgen zu lassen und somit dem Tag ein wenig Würze zu geben.

    Einige Geschosse später, als er gerade die Tür zur Werkstatt öffnen wollte, trat ein ärmlich gekleideter Mann aus dem Wohnhaus. Sein fadenscheiniger Mantel hing wie ein nasser Sack an ihm herab und auch die Wollstrümpfe hatten schon bessere Zeiten gesehen. Er schaute zum Himmel und verharrte den Moment, den ein Stoßgebet dauerte, bevor er seinen durchweichten Hut ein wenig tiefer ins Gesicht zog. Dann nickte er Balthasar zu und stapfte, ungeachtet der Pfützen, mit ausholenden Schritten davon.

    Balthasar ließ Werkstatt Werkstatt sein und eilte ins Haus.

    Zwei der Mägde standen am Herdfeuer und bereiteten das Mittagessen, die dritte kam gerade mit zwei Bechern aus der Stube. Sein Gefühl hatte ihn also nicht getrogen: Der Mann hatte wichtige Nachrichten gebracht.

    »Wer war das?« Wegen seiner nassen Stiefel blieb er auf der Schwelle stehen und schaute zu seiner Schwägerin hinüber, die am anderen Ende des Herdraums saß und ihre jüngste Tochter stillte.

    »Rein oder raus! Die feuchte Luft ist nicht gut fürs Kind!«

    Balthasar trat einen Schritt zurück und schloss die Tür hinter sich.

    »Wer war das?«, wiederholte er geduldig seine Frage.

    Anne zog ihr wollenes Schultertuch bis über den Kopf des Säuglings. »Der Leichenbitter vom Frings.«

    »Der alte Frings ist tot?«

    »Nein, der Göddert, Gott sei seiner Seele gnädig.« Sie bekreuzigte sich.

    »Der Göddert?« Balthasar schlug ebenfalls ein Kreuzzeichen für den Verstorbenen und bemühte sich gleichzeitig, die aufflammende Aufregung zu unterdrücken.

    »Die arme Agnes.«

    Da Anne es bei diesem Kommentar bewenden ließ, zerrte er die Stiefel von den Füßen, schlüpfte in ein Paar trockene Holzschuhe und ging an ihr vorbei in die Stube. Wie erwartet, saß der Vater auf der gepolsterten Bank und zog gemächlich an seiner Pfeife.

    »Was ist passiert?« Balthasar schob sich einen Stuhl zurecht und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch.

    »Ein Kaltblut hat ihn erwischt. Gestern beim Ausschirren.«

    Der hämmernde Herzschlag in Balthasars Ohren dröhnte inzwischen so laut, als stecke er mit dem Kopf in einer läutenden Kirchenglocke. So lange hatte er auf diesen Moment gewartet und nun konnte er keinen klaren Gedanken fassen.

    »Bin gespannt, wer den Hof übernehmen wird«, fuhr Friedrich Broicher nach einer Weile fort.

    »Ich.« Am liebsten hätte er sich auf die Zunge gebissen, aber dafür war es zu spät. Stattdessen reckte er das Kinn und wartete auf die Reaktion seines Vaters.

    »Du hast Interesse am Fringsschen Hof?« Der Alte musterte ihn kritisch.

    »Seit sieben Jahren Krausens-Gödderts Hof«, knurrte Balthasar, verärgert darüber, dass der Vater die Übernahme immer noch nicht wahrhaben wollte.

    »Eben nicht Krausens Hof!« So energisch seine arthritischen Finger es zuließen, stellte der Vater die Pfeife auf den Tisch. »Der Göddert hat doch all die Jahre nur befolgt, was der alte Frings ihm auftrug.«

    Balthasars Schweigen trennte sie, wie das dunkle Tuch den Beichtstuhl von den Gläubigen.

    Schließlich war es wieder der Vater, der sprach. »Warte auf einen anderen Hof. Du bist noch jung, hast noch Zeit genug, um einen besseren Hof zu übernehmen. Einen, den du eines Tages voller Stolz deinem eigenen Sohn hinterlassen kannst. Diesen hier wird Gödderts Sohn bekommen.«

    Darauf gab es nichts zu entgegnen. Der alte Frings hatte seine älteste Tochter Agnes vor sieben Jahren mit Krausens-Göddert verheiratet, weil er aus den Schulden nicht mehr raus kam. Das Cassius-Stift in Bonn hatte den Pachtvertrag auf die beiden überschrieben und Göddert musste für die Abzahlung von Jacob Frings Schulden bürgen. Doch noch hatte der Göddert nichts von den Schulden seines Schwiegervaters abgetragen, im Gegenteil, es waren neue hinzugekommen, denn in den letzten Jahren hatten alle Bauern nicht nur mit Hagelschlag und Mäusefraß zu kämpfen. Auch die alliierten Truppen schröpften sie mit Einquartierungen, Hand- und Spanndiensten, Stroh- und Haferforderungen. Zu allem Überfluss ließ der alte Frings keine Neuerungen zu, so dass die Erträge niedrig blieben.

    Alles gute Gründe, die gegen eine Übernahme des Niederwesselinger Halfenhofs sprachen. Aber die kannte Balthasar selbst am besten; er hatte sie sich schließlich jedes Mal vorgebetet, wenn er sich in seinen Träumen wieder einmal neben Agnes stehen sah.

    »Nur ein gesundes Kind in sieben Jahren Ehe.«

    Balthasar presste die Zähne aufeinander, dass es knirschte. Sollte der Vater reden, seinem Mund würde kein weiteres falsches Wort entwischen.

    »Und überhaupt, die ganze Lage des Hofs ist verteufelt verzwickt.« Wachsam, ob seine Schwiegertochter die letzten Worte gehört hatte, wandte sein Vater den Blick zur Tür. Als von dort nur geschäftiges Treiben zu vernehmen war, fuhr er fort: »Wer weiß, was der Pfälzer in Zukunft wieder aushecken wird?«

    Nun, niemand wusste, was sich die hohen Herren als Nächstes ausdachten, und die Lage von Niederwesseling war wirklich äußerst vertrackt. Einer kleinen Insel gleich, lag es räumlich im Erzbistum Köln, gehörte jedoch zum Hoheitsgebiet des Herzogtums Jülich-Berg, ein Batzen des großen Kuchens, der dem Pfälzer Kurfürsten Karl Theodor gehörte.

    »Außerdem ist der Hof völlig heruntergekommen.« Mit einer flüchtigen Geste fuhr die Hand des Vaters durch die Luft. Balthasars Augen folgten dieser Bewegung, betrachteten die vornehm ausgestattete Stube, auf die sein Vater zu Recht stolz war. Der Rahmen des Nussbaumschranks an der Kopfseite des Raumes war mit aufwendig geschnitzten Weinblättern verziert, die Standuhr in der Ecke hatte ein Uhrmacher aus dem Bergischen gefertigt. Selbst die Verkleidung des Alkovens, in dem Max und seine Frau Anne schliefen, war in einem zarten Grün gestrichen und mit einer bunten Blumenranke verziert. Zudem verbreitete im Winter, neben der obligatorischen Takenplatte¹, ein gusseiserner Säulenofen zusätzliche Wärme und passend zur gepolsterten Bank standen drei lederbezogene Lehnstühle am blank polierten Eichentisch.

    Die Stube des Antoniterhofs zeugte vom Wohlstand ihres Besitzers, wogegen die Stube des Kirchhofs höchstens mit der eines mittleren Bauern zu vergleichen war. Aber das war ihm egal. Er brauchte keinen Reichtum. Noch nicht. Was sollte das Leben für einen Sinn haben, wenn er sich mit vierundzwanzig Jahren ins gemachte Nest setzte? Er wollte etwas aufbauen. Eigene Ideen umsetzen und miterleben, wie sie fruchteten. Dafür hätte er in Niederwesseling immerhin 120 Morgen Land zur Verfügung. Und auch wenn es größere Halfen, reichere Dörfer gab, blieb der Kirchhof Herrenhof, mit all den entsprechenden Privilegien. In den Genuss der Steuervorteile käme er demnach ohne eigenes Hinzutun, aber das Amt des Schöffen oder Ortsvorstehers würde er sich verdienen müssen. So wie Max, der in Godorf hoch angesehen war und bereits seit Jahren als Schöffe Recht sprach. Auch wenn viele Männer seine aufbrausende Art fürchteten und schnell klein bei gaben, wenn es eigentlich nur galt, den längeren Atem zu haben; Max war nicht käuflich, hörte Jedermann zu und wägte in aller Ruhe ab, bevor er eine Entscheidung traf. Und auf diese Eigenschaften würde er jetzt setzen, denn trotz aller Einwände des Vaters war es wichtiger, Max auf seine Seite zu ziehen.

    Endlich hörte er die Haustür ins Schloss fallen. Der zweite Akt konnte beginnen.

    »Max! Deine Stiefel!«

    »Sei still, Frau!«

    Die Absätze seines ältesten Bruders knallten rhythmisch auf den Fliesenboden des Herdraums und kurz darauf stand er in der Stube.

    »Wer meinst du, dass du bist? Der feine Herr hält einen netten Plausch, während die Knechte die Arbeit verrichten?« Max packte ihn am Kragen und zog ihn vom Stuhl.

    Da er wusste, dass es Max weiter erzürnen würde, ließ er sich die Behandlung klaglos gefallen.

    Inzwischen hatte das Gesicht seines Bruders eine dunkelrote Farbe angenommen. »Häng nicht rum wie ein nasser Sack! Wehr dich! Oder haben sie im Kloster eine feine Nonne aus dir gemacht?«

    Aber Max' Wut verrauchte ebenso schnell, wie sie sich entzündete. Ein langer Moment, in dem sie sich in die Augen schauten, dann ließ ihn der ältere Bruder wieder los. »Was hast du hier zu suchen? Du solltest nur die Axt beischleifen.«

    »Krausens-Göddert ist tot und ich will neuer Kirchhalfe werden.«

    Max erbleichte. Ohne etwas zu sagen, vor allem, ohne sich zu bekreuzigen, riss er Balthasar am Arm und zog ihn aus der Stube. Vorbei an den erschrockenen Mägden zerrte Max ihn aus dem Haus und stieß ihn in die Werkstatt, die direkt daneben lag.

    Ebenso laut wie die Haustür, schlug er die Tür zur Werkstatt hinter ihnen zu. Eins musste Balthasar seinem Bruder lassen, er hatte wahrlich einen Sinn fürs Dramatische.

    »Bist du jetzt völlig verrückt geworden? Was willst du mit dem alten Hof?«

    Als Balthasar ihm nicht antwortete, zischte Max durch die Zähne, wischte sich die nassen Haare aus dem Gesicht und begann in dem kleinen Raum auf und ab zu gehen. »Kein vernünftiger Mensch heiratet aus Liebe!«

    Die Litanei, die diesem Satz folgen würde, kannte Balthasar bereits auswendig. Max hatte sie ihm in den letzten Jahren oft genug vorgebetet, nachdem er ihn in einem der seltenen Momente erwischt hatte, in denen er seine Gefühle für Agnes nicht verbergen konnte.

    »Die Liebe ist keine Grundlage für eine gute Ehe. Liebe vergeht, aber den Hof, den du übernommen hast, hast du den Rest deines Lebens am Hacken.« Max blieb kurz stehen, musterte ihn aus seinen blauen Augen und setzte seine Wanderung fort.

    »Es gab schon viele, die meinten, die Äpfel im Garten des Nachbarn wären süßer als die eigenen. Glaub mir, die meisten von ihnen merkten schnell, dass es keinen Unterschied gibt. Im Gegenteil, manches scheint süß und schmeckt gallebitter.«

    Das war einer von Max' Lieblingssprüchen. Balthasar verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich gegen die Kante des Arbeitstisches und schaute aus dem Fenster.

    »Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir spreche.« Ganz in der Autorität des Hofherrn hatte sich Max vor ihm aufgebaut, musste aber trotzdem nach oben schauen, um ihm in die Augen zu sehen. »Schlag dir endlich dieses Weib aus dem Kopf, bevor ich es tue.«

    Eine seiner leeren Drohungen. Auch wenn Max gut austeilen konnte, hielt er sich bei ihm stets zurück. Außerdem lebte sein Bruder das genaue Gegenteil von dem, was er Balthasar ständig predigte. Als Max seine Anne vor zehn Jahren heiratete, war er auch er erst vierundzwanzig gewesen und hatte sich genauso wenig darum geschert, dass Anne nicht die Halfentochter mit der größten Mitgift war. Und der raue Umgangston zwischen Anne und ihm täuschte ebenfalls niemanden darüber hinweg, dass die beiden mehr als nur das Wohl des Antoniterhofs miteinander verband. Natürlich sprach Balthasar das nicht aus. Je weniger er seinen Bruder reizte, desto eher könnte er vernünftig mit ihm reden.

    »Glaub mir, du wirst es bereuen.« Noch einmal versuchte Max, ihn mit einem drohenden Blick zu beeindrucken, dann gab er auf und lehnte sich abwartend gegen den Türrahmen.

    »Ich brauche Geld.«

    »Oh ja! Eine ganze Menge.«

    »Ein, zwei gute Ernten und es wäre viel geschafft.«

    »Meinst du nicht, dass der Kraus das seit Jahren versucht hat?«

    »Es wird einiges zu ändern sein.«

    »Ach, und du meinst, der Frings lässt das mit sich machen? Göddert war fast vierzig und hat es in sieben Jahren nicht geschafft, den Alten aus dem Geschäft zu halten – und du meinst, dass dir Grünschnabel das besser gelingt?« Max musterte ihn schweigend, dann schüttelte er den Kopf. »Ja, du würdest es schaffen.«

    »Aber dazu muss ich erst einmal wissen, was St. Cassius für einen Vertrag aufsetzt und den Vater überzeugen, dass der Hof für mich die richtige Wahl ist. Wirst du mich unterstützen?«

    »Was bleibt mir übrig. Hier kehrt ja doch nicht eher Ruhe ein, bevor du nicht deinen Willen hast.«

    Max reichte ihm die Hand und Balthasar schlug erleichtert ein. Die erste Schlacht war gewonnen.


    ¹Takenplatte = Eine gusseiserne Platte, die in die Wand zwischen Herdfeuer und Stube eingelassen wurde, um den Nebenraum mit zu beheizen.

    Hochzeit auf dem Kirchhof

    Juli 1793

    THRE SCHLIMMSTEN T RÄUME hatten sich erfüllt. Eine kurze Zeremonie in Immendorf, nur die Väter als Zeugen und schon war sie wieder verheiratet. Kein Fest wie vor sieben Jahren, auch keinen Hochzeitszug durchs Dorf. Im Ehevertrag hatten sie festgelegt, dass der Vater stattdessen 40 Reichstaler zahlen würde. Mit Witwen wurde kein großer Aufwand betrieben.

    Eine Witwe. Kaum hatte sie sich an ihren Titel gewöhnt, legten sie ihr einen neuen Mann ins Bett.

    Agnes spürte, wie die Angst in ihr hochstieg. Das Warten war am schlimmsten. Ihr Blick wanderte durch den dämmrigen Herdraum, hinüber zu ihrer Schwester, die am blank gescheuerten Esstisch stand und einen Kirschkuchen in gleichmäßige Stücke schnitt. Auf dem Herd köchelte das Kaffeewasser vor sich hin.

    Alles war vorbereitet, die Gäste konnten kommen.

    Wenn er doch auch nur ein Gast wäre. Unruhig lief sie zwischen Stubentür und Mägdekammer hin und her, blieb stehen, lauschte und setzte ihren Gang fort. Auch wenn sich die Familien seit Ewigkeiten kannten, Balthasar war ihr fremd. Fremder als seine Brüder. Er war schon immer ein Einzelgänger gewesen. Auf Festen sprach er kaum ein Wort, sang nicht, tanzte nicht, aber beobachtete alles und jeden mit seinen sturmgrauen Augen. Von den Frauen wurde er nur »Der schwarze Mann« genannt. Zu Recht.

    Was würde er von ihr erwarten? Würde er mehr in ihr sehen als das Pfand für den Hof?

    Unsinn. Dies war nur eine arrangierte Ehe unter Halfen, wie sie seit Jahrhunderten üblich war. Hof zu Hof, Land zu Land, Geld zu Geld.

    Agnes blieb stehen und betrachtete ihre Schwester. Lisbeth war ein schüchternes, tiefgläubiges Mädchen, das jedem wohl gesonnen war. Gerade erst sechzehn, buk sie leidenschaftlich gern und gut, war geschickt mit Nadel und Faden und schien sogar die langen Winterabende am Spinnrad zu genießen.

    Etwas, das Agnes niemals verstehen würde.

    »Reich mir mal die große Platte, damit der Kuchen in die Stube kommt«, bat Lisbeth jetzt, ohne von ihrer Arbeit aufzuschauen.

    Agnes nahm den großen Zinnteller vom Regal und stellte ihn neben den Kuchen auf den Tisch. Wer sollte das bloß alles essen? Auf dem Stubentisch reihten sich bereits Platten mit Kuchen, Schüsseln mit Kompott und Sahne aneinander, dabei erwarteten sie nur Balthasar und seine Brüder.

    Schon der Gedanke an seinen Namen brachte ihre Gefühle wieder in Wallung. Sie ballte die Hände zu Fäusten und bemühte sich um Ruhe, als ihr Blick auf die leeren Krüge fiel, die auf der kleinen Bank neben der Hoftür standen. Prompt verwandelte sich die Unruhe in Zorn. »Warum hast du noch kein Bier geholt?«, schimpfte sie Griet, die in der Waschkammer stand und das schmutzige Geschirr spülte.

    »Ich dachte, das wird zu schnell warm.« Die Magd wandte sich um und schaute durch die offene Tür zu ihr herüber.

    »Überlass das Denken mir und füll die Krüge!«

    Griet senkte den Kopf, trocknete ihre Hände an der Schürze und machte sich auf den Weg.

    Eigentlich hätte Agnes sich jetzt besser fühlen müssen, aber Lisbeth zog bereits die Stirn in Falten. Demnach würde nun auch noch eine Moralpredigt folgen, das Letzte, was sie jetzt brauchte. Eines Tages würde aus ihrer Schwester sicher eine gute Nonne werden. Hoch aufgerichtet, die blonden Haare zu einem strengen Zopf geflochten, strahlte Lisbeth jetzt schon eine Würde aus, mit der sie es mühelos schaffte, andere zu beschämen. Obwohl zehn Jahre älter, kam Agnes sich mit ihrem überschießenden Temperament manchmal wie die Jüngere vor.

    »Warum musstest du sie so anfauchen?«, fragte Lisbeth, nachdem sie Agnes ausgiebig gemustert hatte.

    »Weil mir danach war!« Angriff war seit jeher ihre beste Verteidigung, dachte Agnes. »Vielleicht könntest selbst du dafür ein wenig Verständnis haben!«

    »Ich wünschte, ich könnte es dir leichter machen.«

    Lisbeth schaute bekümmert zur Seite und erweckte in Agnes unweigerlich den Drang, sich zu entschuldigen. »Schon gut. Wirklich. Manchmal vergesse ich, dass ihr ihn genauso ertragen müsst wie ich selbst.«

    Lisbeth beugte sich wieder über den Tisch und stapelte Kuchenstücke auf den Teller. »Aber nicht so wie du.« Ihre Stimme war jetzt kaum mehr als ein Flüstern und ihre Wangen färbten sich rot, wie die Äpfel im Herbst.

    Was sollte sie dazu sagen? Verlegen schob Agnes eine gelöste Haarsträhne unter die Haube. Sie tauschte sicher keine Ehegeschichten mit einer sechzehnjährigen Jungfrau.

    Bevor sie sich noch eine Antwort überlegen konnte, stürmte Tilla durch die Tür. »Sie sind gleich da! Und sie haben einen großen Wagen dabei! Sie haben das Band zerschnitten, und sie haben die Burschen bezahlt, und wir haben alle süßes Brot bekommen!«

    Erleichtert über die fröhliche Unterbrechung, wischte Agnes ihrer jüngsten Schwester die Blatzkrümel aus den Mundwinkeln. »Konntest du sehen, wer alles mitkommt?«

    »Viele«, lautete die lapidare Antwort der Siebenjährigen, die bereits die Finger nach dem Kirschkuchen ausstreckte.

    »Oh, nein!« Mit einem kurzen Schlag verteidigte Lisbeth ihr Werk.

    »Es ist doch genug da.« Sehnsüchtig glitt Tillas Blick über die gut gefüllte Platte.

    Nun, auch die Kleine würde sich gedulden müssen. »Richte deine Schürze und geh in die Stube. Dann sagst du dem Vater und dem Herrn Pfarrer, dass die Gäste da sind.«

    Die Gäste waren da. Plötzlich war der Zorn verraucht. Der Zorn, der sie die letzten Wochen aufrecht gehalten hatte. Auch der Zorn auf den Bruder, dessen Verschwinden sämtliche Verhandlungen über den Hof in Schutt und Asche gelegt hatte. Paul, wegen dessen Hirngespinsten nur noch Balthasar Broicher als Bewerber übrig geblieben war. War es ein Wunder, dass sich niemand an eine Familie binden wollte, deren Sohn zu den Franzosen übergelaufen war?

    Sie kannte ihre Pflicht. Eine erneute Heirat war die einzige Möglichkeit, den Pachtvertrag zu behalten, denn seit Gödderts Tod gab es keinen Mann in ihrer Familie, der den Hof weiterführen könnte. Ihr eigener Sohn lag noch in den Windeln und Paul? Selbst wenn er nicht davongelaufen wäre, mit seinen achtzehn Jahren wäre er viel zu jung gewesen, um den Hof zu übernehmen. Und der Vater? Mit seiner schlechten Wirtschaft hätte ihn das Cassius-Stift ebenso wenig als neuen Halfen akzeptiert wie Johann, den älteren ihrer Brüder.

    Der sei nicht ganz richtig im Kopf, behaupteten die Leute, aber das war nicht wahr. Er mochte keine geschlossenen Räume, aber das hieß noch lange nicht, er sei verdötsch².

    Johann war der Einzige, auf den sie sich immer verlassen konnte und er meinte, sie könnten von Glück sagen, das Balthasar trotz allem noch am Hof interessiert sei. Aber sie fühlte sich überhaupt nicht glücklich. Eher wie eine Aussätzige, von der sich die Dörfler seit Pauls Flucht lieber fernhielten. Käme jetzt noch der düstere Broicher auf den Hof – die unterbrochenen Gespräche und abgewandten Gesichter wären kaum noch zu ertragen. Ihr heimlicher Wunsch nach einem Mann, der ein bisschen Leichtigkeit in ihr Leben brachte, war geplatzt wie eine große Seifenblase.

    Sie schüttelte den Kopf und richtete ihr Schultertuch. Ein törichter Wunsch, wo sie doch von klein auf gelernt hatte, dass Wünsche nur selten in Erfüllung gingen und dass sie am besten beraten war, sich das zu wünschen, was der Vater anordnete.

    Als sie das Rumpeln von Wagenrädern hörte, strich sie noch einmal über ihren Rock, straffte die Schultern und ging zur Tür. Da standen sie, einer neben dem anderen. Wie eine Mauer hatten sie sich vor ihr aufgebaut. Sechs Männer, deren Körperhaltung deutlich machte, dass jeder, der es mit einem von ihnen aufnahm, unweigerlich die anderen im Nacken hätte.

    Wie mochte es sein, in der Gewissheit aufzuwachsen, nur nach seinen Brüdern rufen zu müssen, wenn man in Schwierigkeiten war?

    Zum Beispiel nach Max, dem Ältesten, mit seinem gedrungenen Körperbau, strotzend vor Kraft und Energie, oder nach Conrad, der lang und schlaksig vor ihr stand und dafür bekannt war, dass er gewisse Schlachten nur mit seinem verwegenen Lächeln schlug. Auch Bernhard, eigentlich von sanftem Wesen, sparte nicht an gut gezielten Schlägen, wenn es um die Unterstützung seiner Brüder ging.

    Und Heinrich? Der stattliche Brauergeselle aus Köln? Trotz seines feinen, rostroten Rocks und den dicken Silberschnallen an seinen Schuhen wäre er sicher einer der Ersten, wenn es um eine zünftige Kirmesschlägerei ging.

    Selbst Christian, der jetzt verlegen den Rand seines Dreispitzes zwischen den Fingern knetete, war mit seinen knapp zwanzig Jahren bereits ein kräftiger junger Mann, der seinem Familiennamen alle Ehre machte.

    Sie schaute zurück, zum Anfang der Reihe, wo Balthasar regungslos neben seinen Brüdern stand. Mit seinem pechschwarzen Haar, den geraden schwarzen Brauen und dem düsteren Blick schien er der Wildeste von ihnen und war doch der Einzige, der noch niemals in eine Schlägerei verwickelt worden war. Ein seltsamer Mensch.

    Max löste sich als Erster, kam auf sie zu und reichte ihr die Hand. »Willkommen in unserer Familie.«

    »Willkommen in unserem Haus«, antwortete sie jedem von ihnen.

    »Wohin sollen wir abladen?«, fragte Balthasar, nachdem das Ritual vollzogen war.

    Agnes stutzte. Hatte er wirklich unsicher geklungen? »Ich gehe vor.«

    Mit schweren Schritten stieg sie die Treppe hinauf und öffnete die Tür zur Schlafkammer, die sie die letzten sieben Jahre mit Göddert geteilt hatte. Würde der Raum Balthasars Ansprüchen genügen? Da der Vater darauf bestanden hatte, die Stube weiterhin als seine Schlafkammer zu behalten, hatte Göddert damals ihren alten Alkoven herausreißen und ein Bett aus feinem Nussbaum bauen lassen. Aber Gottfrieds Kinderbettchen, das daneben stand, war nur aus einfachem Tannenholz, ebenso wie der Stuhl, ihre Aussteuertruhe und der Tisch, auf dem die angeschlagene Waschschüssel stand. An der Wand hingen ein paar Kleiderhaken und vor Kopf ein schlichtes Holzkreuz, an dem ein Palmzweig der letzten Weihe steckte. Sicher nicht die übliche Schlafkammer eines Halfen, aber diese Rolle hatte ihr Vater ja bisher stets für sich selbst beansprucht. Auch Balthasar hatte nicht auf die repräsentative Stube bestanden, sondern dem Vater den Willen gelassen. Nichts würde sich ändern und doch so viel.

    Als Balthasar hinter ihr auftauchte, stellte sie sich rasch neben Gottfrieds Bettchen. Auch wenn sie sich eine Närrin schalt, wo sie doch bereits mit ihm verheiratet war, sie brauchte Abstand. Sie würde ihm noch früh genug näher kommen müssen.

    Auf der Türschwelle blieb er stehen, eine schwere Eichentruhe zwischen sich und Conrad. »Wo sollen wir die abstellen?«

    Noch bevor sie antworten konnte, schleppten die beiden Männer sie quer durch den Raum und wuchteten sie unter das Fenster. Sie wirkte brandneu und reichte fast bis zum Rahmen.

    »Ist es dir hier recht?«, fragte Balthasar.

    »Sicher.« Was sollte sie auch sonst sagen? »Hast du noch mehr mitgebracht?«

    Ohne sich weiter umzuschauen, hatte er den Raum bereits wieder verlassen. »Nicht für die Schlafkammer.«

    Conrad schenkte ihr zwar noch ein versöhnliches Lächeln, aber das machte es ihr auch nicht leichter. Froh, die Tür erst mal wieder hinter sich schließen zu können, folgte sie den Männern nach unten.

    Ungeduldig linste Tilla zu Lisbeth hinüber, aber die hatte noch immer die Augen geschlossen und bewegte unablässig die Lippen. Tilla verstand einfach nicht, wieso ihre Schwester jeden Abend so lange beten musste, sie tat doch nie etwas Unrechtes.

    Tilla verlagerte ihr Gewicht und hoffte, dass

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