Blasphemie: Geschichte eines "imaginären Verbrechens"
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Über dieses E-Book
Die Blasphemie hat eine lange und wechselhafte Geschichte, sie war und ist – so die These von Saint Victor – eine politische Konstruktion. In der Zeit der Aufklärung als "crime imaginaire" (imaginäres Verbrechen) bezeichnet, wurde Blasphemie 1791 in Frankreich als Delikt abgeschafft. Lange verschwand sie hinter dem modernen politischen Horizont, doch nun kehrt der Diskurs um ein Blasphemieverbot zurück ins öffentliche Leben westlicher Demokratien, spätestens seit den terroristischen Angriffen in Paris im Januar 2015 auf die Redaktion des Satireblatts Charlie Hebdo.
Wendepunkte in der Diskussion um die Blasphemie waren 9/11, die Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh 2004 sowie 2005 die Mohammed-Karikaturen. Die jüngste Beschwörung eines Verbots der Blasphemie im Namen des Respekts vor "persönlichen Überzeugungen" stellt ohne Zweifel eine Bewährungsprobe für das grundlegende Prinzip westlicher Demokratien dar: das Prinzip der Rede- und Meinungs-, aber auch der Pressefreiheit.
Der Rechtshistoriker Saint Victor ordnet die Geschichte der Blasphemie in einen aktuellen politischen wie juristischen Interpretationsrahmen ein. Dabei zeigt er nicht nur auf, dass die juristische Ahndung von Meinungsdelikten immer hoch problematisch ist, sondern auch, welchen Platz die Diskussion um Blasphemie wieder im öffentlichen Raum einnimmt und vor welche Herausforderungen sie die westlichen Demokratien stellt.
Ein packender Essay über ein "imaginäres Verbrechen", indem Religion und Politik auf das Engste verknüpft sind. Gestern wie heute.
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Buchvorschau
Blasphemie - Jacques de Saint Victor
Jacques de Saint Victor
Geschichte eines
»imaginären
Verbrechens«
Aus dem Französischen von
Michael Halfbrodt
Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de
© der E-Book-Ausgabe 2017 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-912-6
© der deutschen Ausgabe 2017 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-308-7
© der Originalausgabe 2016 by Éditions Gallimard, Paris Titel der Originalausgabe: »Blasphème. Brève histoire d’un ›crime imaginaire‹«
Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras
Für Michaela
Inhalt
Vorwort
Epilog
Literatur
Index
Zum Autor
Vorwort
Die wahllosen Massaker vom 13. November 2015, wie zuvor schon die Attentate vom Januar, waren Kriegshandlungen – gegen Menschen, gegen Ideen, gegen Prinzipien, die seit mehr als zweihundert Jahren fester Bestandteil unserer politischen Kultur sind. Sie haben in ganz Frankreich einen Schock seltenen Ausmaßes hervorgerufen. Man spürt, dass diese Ereignisse einen Bruch markieren, auch wenn man sich derzeit noch schwertut, sie begrifflich genau zu erfassen. Nicht nur weil Männer und Frauen für das, was sie waren, kaltblütig abgeschlachtet wurden, sondern weil die Mörder über ihre Opfer hinaus auf einen fundamentalen Grundsatz der französischen Nation zielten, eine besondere Art, sich über die Angelegenheiten des Gemeinwesens zu verständigen, die dieser viel gepriesenen Heimat der Literatur eigen ist.
Es war wohl diese Ahnung, was die Mörder außer ihren Opfern hatten treffen wollen, die Millionen Menschen dazu bewog, am 11. Januar auf die Straße zu gehen. Als wäre ihnen unwillkürlich klar, dass diese Gemetzel den blutigen Abschluss eines Prozesses bildeten, der bereits seit einigen Jahren im Gange ist: der Einschüchterung des Denkens, der Erschütterung des für Panurge, Figaro oder Gavroche so selbstverständlichen Rechts auf Dreistigkeit, dieses spielerischen Aufbegehrens gegen jedes Verbot, ob von Gott, den Mächtigen oder den Schulmeistern. Denn wer hätte sich noch vor dreißig Jahren vorstellen können, dass die blasphemische Karikatur, die Rabelais’schen Flüche oder die grausamen Unverschämtheiten Voltaires, jenes »grässliche Lachen«, das Musset betrübte, aufs Neue so viel Widerstand und bisweilen so viel Gewalt hervorrufen würden. Wie viele von uns haben sie nicht verinnerlicht, ohne ihnen zwangsläufig zuzustimmen, jene Verbote im Namen des »Respekts vor den Religionen« oder der Vermeidung jeder Form – moralischer, geistiger, literarischer – »Verletzung«, die inzwischen als unzumutbar gilt, vor allem, wenn sie sich gegen die Religion des Anderen richtet?
Der Elan des 11. Januar ist schnell verpufft. Zweifellos saß das Trauma zu tief, als dass man es auf Anhieb in seinem ganzen Ausmaß erkannt hätte. Über Monate zog Frankreich es vor, sich mit anderen Themen zu beschäftigen. Was jedoch tatkräftig beitrug zu dieser Art »nationaler Verdrängung«, die auf die nationale Empörung folgte, waren jene Stimmen, die sich bald erhoben, um den Demonstrationen zugunsten der Meinungsfreiheit mit der Forderung nach dem weitaus wichtigeren Verbot jeder Beleidigung der Religion entgegenzutreten. Nach und nach sahen sich die Attentatsopfer in den Hintergrund gedrängt durch jene, die sich in ihrem Glauben verletzt fühlten.
Im Schatten dieser Tiraden über den »Respekt vor den innersten Überzeugungen« tauchte ein Wort wie eine Moorleiche aus den Sümpfen einer fernen, längst überwunden geglaubten Vergangenheit auf: Blasphemie. Man begann es zu beschwören, als gäbe es, um uns über unsere Situation klar zu werden, keine geeigneteren Methoden, als zu mittelalterlichen Kontroversen zurückzukehren. Ein antiquierter Begriff, der seit Jahrhunderten aus unseren Denkroutinen verschwunden war, machte somit erneut seine Aufwartung, um das Verdrängte einer krisengeschüttelten Nation heimzusuchen. Diese Wiederkehr ist umso irritierender, als man die Frage eigentlich für erledigt hielt, seit die Konstituante 1791 den Straftatbestand der Blasphemie abgeschafft hatte, infolge des Voltaire’schen Kampfes gegen ein Vergehen, das seinen Zeitgenossen bereits als Ding aus einer anderen Zeit erschienen war.
Wissen diejenigen überhaupt, die heute, übrigens in verschiedenen Lagern, die Frage der Blasphemie zum Symbol der Glaubensfreiheit erheben, woher sie stammt? Der Begriff ist zu heikel, seine Geschichte zu bewegt, als dass man ihn verständlich machen könnte, ohne sein langes Vorleben in der Vergangenheit unseres Landes zu rekapitulieren, vom Mittelalter, wo Blasphemie als Majestätsbeleidigung galt, bis zum Pressegesetz von 1881, das dazu beitrug, ihre letzten Überreste dauerhaft aus der öffentlichen Debatte zu verbannen.
Der Begriff Blasphemie stammt von einem griechischen Wort ab, das mit blasphemia ins Kirchenlatein übersetzt wurde. Bei den Autoren der Antike bezeichnete er eine Art »Verletzung«. Und tatsächlich ist er in unserer säkularisieren Welt drauf und dran, seine heidnische Bedeutung wiederzuerlangen, bei Gläubigen und Ungläubigen gleichermaßen: Erneut gilt er als unzumutbar. Auf diesem Wege holt uns eine Geschichte ein, von der wir uns befreit zu haben glaubten. Im Übrigen tolerierte die Kirche, sogar im Mittelalter, die »einfache Blasphemie«, wie die Theologen sagten, die nicht die Religion zu beleidigen trachtete, sondern einen flüchtigen Zorn ausdrückte, mehr Schmerz als Feindseligkeit. Seither wurde sie stets als der Preis betrachtet, der für den Vorzug der Freiheit zu zahlen ist.
Wir wollen die aufeinanderfolgenden Transformationen der Blasphemie nachzeichnen und uns im Zuge dessen auf die Wesensmerkmale unserer politischen Kultur, ihre Konstanten und Veränderungen, zurückbesinnen, um zu verstehen, welchen Platz sie heute wieder im öffentlichen Raum einnimmt und vor welche Herausforderungen sie unsere Demokratien im Allgemeinen und unsere republikanische Tradition im Besonderen stellt. Das ist das Thema des vorliegenden Werkes.
Wie ist die Blasphemie heute zu definieren? Es gibt eine Vielzahl hochspezialisierter wissenschaftlicher Werke, die zu größter Vorsicht raten, wenn es darum geht, die »garstigen Worte« zu studieren.¹ Methodenfragen stellen sich, angefangen mit der Identifizierung des Gegenstandes. Manchen Juristen zufolge ist die Blasphemie eine Verletzung »religiöser Überzeugungen, Gottheiten oder religiöser Symbole«; sie äußert sich in »Worten, Schriften oder jeder Ausdrucksform, die durch einen Gesetzestext mit Strafen belegt wird«. Das zeigt, dass dieser Gegenstand womöglich schwer zu fassen ist, aufgrund eben der Quellen, über die man verfügt: Über die Fülle der Texte, die die Blasphemie verdammen – Predigten, Erlasse, Beichthandbücher usw. –, lässt sich die Reichweite des Phänomens nicht mit Gewissheit bestimmen, geschweige denn, dass sie es ermöglicht, die Seelen zu erforschen.
Es war mir weder ein ethnologisches noch ein seelsorgerisches Anliegen, diese kurze Geschichte der Blasphemie zu schreiben, jenes »imaginären Verbrechens« (crime imaginaire), wie man im 18. Jahrhundert zu sagen pflegte. Vielmehr wollte ich einen Rahmen zur politisch-rechtlichen Interpretation der Blasphemie erstellen.² Der Leser wird darin das langsame, im Laufe unserer Bürgerkriege und ideologischen Konflikte vonstattengegangene Verschwinden einer »Zungensünde« erkennen, die heute so unerwartet zu neuer Prominenz gelangt.
1Beispielhaft seien hier genannt: Cabantous, Histoire du blasphème en Occident; Leveleux-Teixeira, La Parole interdite; Delumeau (Hg.), Injures et blasphèmes; Dartevelle u.a., Blasphèmes et libertés; sowie für einen weiteren, bis 1789 reichenden Rahmen, Le Bras, La Police religieuse dans l’ancienne France.
2Ein erster Entwurf dieser Überlegungen findet sich in meinem Beitrag zum Dossier »L’effet Charlie« der Zeitschrift Le Débat (»Du blasphème dans la République«, Nr. 185, Mai-August 2015, S. 11–20). Ich danke Pierre Nora und Marcel Gauchet, dass sie mich zur Teilnahme eingeladen haben.
I
»Du sollst den Namen Gottes nicht missbrauchen«
Das Verbot des »garstigen Schwurs«, wie man im Mittelalter sagte, geht dem Islam offenkundig weit voraus. Diese spezielle Vorschrift spielte eine bedeutende Rolle bei der Entstehung des jüdisch-christlichen Europas. Sie geht auf das hebräische Gesetz zurück: »Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht« (Dt 5, 11; Ex 20, 7). Im Alten Testament ist das Verbot der Gotteslästerung eine strenge und unerlässliche Regel. Man findet sie namentlich im Buch Levitikus, wo es heißt: »Jeder, der seinem Gott flucht, muss die Folgen seiner Sünde tragen. Wer den Namen des Herrn schmäht, wird mit dem Tod bestraft; die ganze Gemeinde soll ihn steinigen. Der Fremde muss ebenso wie der Einheimische getötet werden, wenn er den Gottesnamen schmäht« (Lev 24, 15–16). Man mag sich kurz nach den Gründen dieses mächtigen Verbots fragen. Bei den Hebräern werden nicht nur diejenigen der Blasphemie bezichtigt, die »Gott geschmäht« haben (Dan 3, 29), vielmehr bezieht das Wort sich auf Taten, die die Gottheit verurteilt, wie die Weigerung, sich beschneiden zu lassen, Sabbatschändung, Verrat usw.
Die Blasphemie nimmt in der monotheistischen Religion eine neue Dimension an, die sie in der heidnischen Welt nicht hatte. Dabei war den Griechen die Bedeutung, die ihr die Hebräer und später die Christen gaben, nicht gänzlich unbekannt. In Der Staat kommt Platon ihr vermeintlich nahe. Ganz im Sinne seiner Abscheu vor der Dichtkunst schreibt er: »Auch sollen sich die Mütter von diesen [den Dichtern] nicht überreden lassen und ihren Kindern Angst machen, indem sie die Märchen auf unpassende Weise erzählen, daß irgendwelche Götter bei Nacht herumgehen […], damit sie nicht gleichzeitig die Götter lästern und die Kinder furchtsamer machen.«³ Doch meinten griechische und christliche