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Zensiert: Wie europäische «Hassrede»-Gesetze die Meinungsfreiheit bedrohen
Zensiert: Wie europäische «Hassrede»-Gesetze die Meinungsfreiheit bedrohen
Zensiert: Wie europäische «Hassrede»-Gesetze die Meinungsfreiheit bedrohen
eBook327 Seiten3 Stunden

Zensiert: Wie europäische «Hassrede»-Gesetze die Meinungsfreiheit bedrohen

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Über dieses E-Book

Was ist das Recht auf Meinungsfreiheit noch wert - wenn es jederzeit durch «Hassrede»-Gesetze eingeschränkt werden kann? Paul Coleman hat eine alarmierende Sammlung europäischer «Hassrede»-Gesetze zusammengetragen. Die mehr als 50 realen Rechtsfälle zeigen: Die Grenzen des Sagbaren werden enger. Wer freiheraus spricht, sitzt schnell auf der Anklagebank. Und da sitzen sie dann gemeinsam: die Politikerin, die aus der Bibel zitiert hat, der Journalist, der das Thema deutlich ausdrückt, der Priester, der die Wahrheit seines Glaubens nicht widerrufen will, oder auch der Polizist, der twittert, was er über Gendergerechtigkeit denkt. Denn eines haben alle diese Gesetze gemeinsam, gegen die die Angeklagten verstoßen haben: Eine klare Definition angeblicher «Hassrede» gibt es nicht. Doch wenn nicht mehr klare Tatsachen, sondern verletzte Gefühle vermeintlicher Opfer zählen, verschwimmen die Grenzen zwischen Meinung, Beleidigung, Spott und tatsächlich strafrelevantem Hass. Damit bestimmen neuerdings laute Lobbygruppen, beleidigte Minderheiten, einzelne Richter und die vielzitierte «politische Korrektheit» darüber, was man noch offen sagen, lehren, fordern oder glauben darf. Ein falsches Wort, ein falscher Tweet, und man ist schnell als Fundamentalist oder Diskriminierer angeklagt. «Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand», lautet ein Sprichwort. Dieses Buch zeigt: Es ist besser, wenn Sie dazu auch einen guten Anwalt haben.

Paul Coleman ist Engländer und leitet die Menschenrechtsorganisation «ADF International» in Wien. Als Experte für Menschenrechte und Internationales Recht war er an mehr als zwanzig Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beteiligt und verantwortete zahlreiche Beschwerden vor anderen internationalen Instanzen, wie etwa dem UN Menschenrechtsausschuss.
SpracheDeutsch
HerausgeberFontis
Erscheinungsdatum16. Sept. 2020
ISBN9783038486725
Zensiert: Wie europäische «Hassrede»-Gesetze die Meinungsfreiheit bedrohen
Autor

Paul Coleman

Paul Coleman ist Engländer und leitet die Menschenrechtsorganisation «ADF International» in Wien. Als Experte für Menschenrechte und Internationales Recht war er an mehr als zwanzig Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beteiligt und verantwortete zahlreiche Beschwerden vor anderen internationalen Instanzen, wie etwa dem UN Menschenrechtsausschuss.

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    Buchvorschau

    Zensiert - Paul Coleman

    Paul Coleman

    Zensiert

    www.fontis-verlag.com

    Hinweis

    Alle in diesem Buch zitierten Gesetze und Fälle entsprechen, soweit nicht anders vermerkt, dem zeitlichen Stand der 2. englischen Ausgabe von 2016.

    Paul Coleman

    Zensiert

    Wie europäische «Hassrede»-Gesetze die Meinungsfreiheit bedrohen

    Logo_fontis_neu

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

    Die englische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel «Censored. How European Hate Speech Laws are Threatening Freedom of Speech» im Verlag «Kairos Publications» Wien.

    © Paul Coleman

    © 2020 by Fontis-Verlag Basel

    Übersetzung: Alexandra Maria Linder M.A., Viersen

    Umschlag: René Graf, Fontis-Verlag

    E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel

    E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg

    ISBN (EPUB) 978-3-03848-672-5

    ISBN (MOBI) 978-3-03848-673-2

    www.fontis-verlag.com

    Inhalt

    Vorwort von Ralf Schuler, BILD

    Für die deutsche Auflage zum Geleit

    Einleitung

    TEIL EINS:

    Die Entstehung von Europas «Hassrede»-Gesetzen

    Kapitel 1: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

    Kapitel 2: Nachfolgende Menschenrechtsabkommen

    Kapitel 3: Umsetzung in nationales Recht

    TEIL ZWEI:

    Die Auswirkungen der europäischen «Hassrede»-Gesetze

    Kapitel 4: Polizeiliche Ermittlungen

    Kapitel 5: Gerichtsverfahren

    Kapitel 6: Verurteilungen

    TEIL DREI:

    Warum solche Gesetze? Grundgedanken und Motive

    Kapitel 7: «Hassrede» und Gewalt

    Kapitel 8: Schutz vor Kränkung und Wahrung der Würde

    TEIL VIER:

    Die Zukunft der europäischen «Hassrede»-Gesetze

    Kapitel 9: Eine Zukunft der Zensur?

    Kapitel 10: Eine Zukunft der freien Rede?

    Anhang A

    Internationale «Hassrede»-Regelungen

    Anhang B

    Regionale «Hassrede»-Regelungen (Europa)

    Anhang C

    Nationale «Hassrede»-Gesetze in der Europäischen Union

    Ausgewählte Bibliografie

    Danksagung

    Endnoten

    Vorwort von Ralf Schuler

    Leiter der Parlamentsredaktion von BILD

    Am 15. Juni 2020 erschien in der linksalternativen «tageszeitung» (TAZ) ein Beitrag, der empfahl, Polizisten auf Müllhalden «unter ihresgleichen» zu entsorgen. Anstelle eines Fazits hieß es am Schluss des Textes wörtlich: «Spontan fällt mir nur eine geeignete Option ein: die Mülldeponie. Nicht als Müllmenschen mit Schlüsseln zu Häusern, sondern auf der Halde, wo sie wirklich nur von Abfall umgeben sind. Unter ihresgleichen fühlen sie sich bestimmt auch selber am wohlsten.»

    Menschen als Müll und Unrat auf einer Deponie, wo die Gesellschaft ihren Abfall zum Verrotten ablädt. Sogleich brach ein Sturm der Entrüstung los. Man muss keine Assoziationen und Bilder von befreiten Konzentrationslagern der Nationalsozialisten bemühen, um zu zeigen, dass die «unantastbare Würde des Menschen», wie das deutsche Grundgesetz es in Artikel 1 garantiert, hierbei mehr als nur angetastet wird. Sie wird schlicht aberkannt. Wenn hier nicht ein lupenrein definierter Hass- und Hetz-Kommentar vorliegt, wann dann?

    Doch die Entrüstung rund um diesen in vielfacher Hinsicht misslungenen Meinungsbeitrag richtete sich weniger gegen den Kommentar selbst oder die Autorin des Textes, sondern drehte sich im Gegenteil zu großen Teilen darum, dass und warum dieser Text möglich, öffentlich und erlaubt sein müsse und warum eine angedrohte Strafanzeige des Bundesinnenministers nicht etwa folgerichtig, sondern geradezu ein Anschlag auf die Pressefreiheit darstellen würde. Verkehrte Welt. Verirrte Welt.

    Statt auf die Autorin schossen sich erst einmal alle auf den Bundesinnenminister ein, der sie kritisierte. Wessen hatte er sich nun schuldig gemacht? Er hatte weder die Redaktion stürmen oder schließen, noch die Autorin mit Drangsal belegen lassen, sondern sie lediglich einem rechtsstaatlichen Verfahren zur Feststellung unterziehen wollen, ob hier Beleidigung, Hass oder Hetze vorliegen, wenn jemand pauschal alle Polizisten als Müll bezeichnet.

    Die Debatte rund um diesen Fall ist ein Paradebeispiel für nahezu alle Problemlagen, die im vorliegenden Buch rund um die Versuche des Gesetzgebers entstehen, Hass und Hetze juristisch mit Hilfe von Gesetzgebungen zu unterbinden.

    Für den Kampf gegen «Hassrede» ist der Vorgang in doppelter Hinsicht interessant: Zum einen hat die mit Web-Links und Zitaten angereicherte Netz-Debatte über diesen Hass-Text (Polizisten auf den Müll) meiner Kenntnis nach keinerlei Reaktion seitens der Netzwerk-Betreiber wie Twitter und Facebook ausgelöst. Weder Löschungen noch Sperrungen sind bekannt geworden, bei denen auf die «gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit» gegenüber der Polizei Bezug genommen worden wäre. Mit anderen Worten: Wer auch immer Regie führt beim Kampf gegen «Hass und Hetze», stieß sich hier offenbar nicht im Geringsten am offensichtlichen und auch pauschalen Hass auf die Polizei und der Hetze gegen sie.

    Der zweite interessante Aspekt betrifft die Debatte selbst, die nach gängigem Demokratieverständnis selbstverständlich geführt werden musste und die für die gesellschaftliche Selbstvergewisserung von großer Wichtigkeit war. Kurz: Das ansonsten allgegenwärtige «Anti-Hass-Edikt» wirkte beim taz-Casus offenkundig aus willkürlichen Gründen nicht. Tatsächlich war es aber auch gut, dass es nicht wirkte, weil solche Debatten über Hass und vermeintliche Hetze sonst gar nicht führbar wären. Wer die Grenzen des Sagbaren diskutieren will, muss das «Unsägliche» erst einmal aussprechen und zur Debatte stellen dürfen.

    Hinzu kommt auch im taz-Fall das Problem, dass Hass und Hetze vielfach allzu billig im Schatten konkurrierender Rechtsstaatsprinzipien wie Presse-, Kunst- und Satirefreiheit gedeihlich ihr Dasein fristen können, ohne dass sie als das benannt werden, was sie tatsächlich sind. Schnell war auch beim Text «Polizei auf den Müll» das Verteidigungsargument zur Hand, es habe sich hier um einen satirischen Text gehandelt, deswegen sei es kein Hass, sondern Humor. Nur lachte niemand.

    Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, die schriftlichen Urteilsbegründungen in ähnlichen Fällen durchzusehen, die in der Vergangenheit für aufgebrachte Diskussionen in Medien und Politik gesorgt haben. So durfte die AfD-Politikerin Alice Weidel laut einem Gerichtsurteil «satirisch» als «Nazischlampe» bezeichnet werden, weil das hohe Gut der Kunst- und Satirefreiheit juristisch dergestalt wirkt, dass mit maximalem Gutwillen nach inhaltlichen Anknüpfungen der vermeintlichen Schmähung an die Person gesucht wird. Das Gericht begründete damals, da Weidels Partei sowohl geschichtsrevisionistische Vorstöße unternommen als auch auf Geburtenraten von Migranten Bezug genommen habe, sei eine Überhöhung von «Nazi» (für Nationalsozialist) und «Schlampe» (umgangssprachlich für Dirne) eine zulässige Pointierung.

    Im Fall der Grünen-Politikerin Renate Künast, die zunächst erfolglos gegen die Beschimpfung etwa als «Drecksfotze» durch einen Twitter-Nutzer vorgegangen war, wurde zum einen die «Pressefreiheit» als Verteidigung der Beleidigung herangezogen, da der Kurznachrichtendienst Twitter gewissermaßen als öffentliches Medium gesehen wird. Zum anderen begründete die Berliner Kammer den Freispruch des Angeklagten damit, dass in der heutigen Umgangssprache sich der ursprüngliche Sinngehalt von Worten und Metaphern auflöse und diese lediglich im Sinne einer sehr starken Ablehnung verwendet würden.

    Beide Beispiele zeigen auf, dass man entweder ganz neue Justiz-Apparate aufbauen müsste, um bei einigermaßen gleich verteiltem Verfolgungs- und Ermittlungsdruck die hass- und hetzverdächtige Kommunikation im Netz zeitnah (inklusive Anhörungen, Gutachten, Plädoyers etc.) aufarbeiten zu können, oder aber jeden privatwirtschaftlichen «Hass und Hetze»-Kontrolleur vor nahezu unlösbare Konflikte stellt. Lässt man schon jetzt strafbewehrte Delikte wie Aufruf zum Mord oder glasklare Beleidigungen einmal außen vor, so müssten institutionalisierte Sittenwächter der Internetplattformen wohl mit einer gehörigen Portion Willkür unterwegs sein, um dem landläufigen Verständnis von aggressionsarmer Kommunikation zu dienen, und sich hernach mit Klagen und Verfügungen für Fehllöschungen und -sperrungen herumschlagen, wenn man vorschnell und fälschlich Kommentare oder ganze Nutzerprofile als «Hass» deklariert hatte. Das kann eigentlich niemand wollen.

    ♦ ♦ ♦

    Wer könnte auch etwas dagegen haben, intensiver gegen «Hass und Hetze» im Netz und wo auch immer vorzugehen? Jedem fallen Gelegenheiten ein, bei denen man selbst und andere böswillig missverstanden oder missinterpretiert wurden, wo niedere Gesinnung und Gesittung anderen offen Schlechtes, Schmerz und Vertreibung an den Hals wünscht oder durch Kettenbildung wüster Beschimpfungen im Netz Menschen über Tage angefeindet, angegiftet und zur Verzweiflung getrieben werden. Es kann also nur darum gehen, wie und mit welchen Mitteln sich eine inhumane Entgrenzung von Kommunikation bekämpfen lässt, ohne dass dabei grundlegende und für die Demokratie lebenswichtige Freiheitsrechte nachhaltig beschädigt oder zerstört werden.

    Hass wird gemeinhin als «intensives Gefühl der Ablehnung und Feindseligkeit» definiert. Bei Hetze oder, wie manche Gesetze es formulieren, bei «Anstachelung», kommt noch eine aktivisch-appellative Komponente hinzu, die der Wortherkunft aus der Jägersprache («Hetzjagd») entstammt. Vermischt mit Verunglimpfung, Verleumdung oder falschen Fakten bleibt es in jedem Falle eine ungute, böse, unversöhnliche Emotionslage. Wir wissen es augenblicklich, wenn wir ihr begegnen. Leicht einzugrenzen sind diese Phänomene dennoch nicht.

    Es beginnt schon damit, dass eine zulässige Meinung durch die Wahl von Formulierung und Tonlage je nach Gesinnung des Rezipienten zu Hass und Hetze werden kann. So kann etwa die Wendung «Grenzen dicht, und alle zurückschicken» in sozialen Netzwerken als fremdenfeindlicher Hass mit Löschung und Sperrung belegt werden. Wer dagegen von «Begrenzung und Steuerung von Migration» spricht, bewegt sich unzweifelhaft im legalen und legitimen Bereich des Verfassungsbogens, obwohl Grenzschließung und Zurückweisung damit ebenfalls gemeint sein können. Ist es also gerechtfertigt, gegen das erste Zitat aufgrund des geringen Abstraktionsgrades und der bildhaften Aufladung der Formulierung vorzugehen?

    Als der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) im Zuge des Corona-Skandals beim Fleischbetrieb Tönnies davon sprach, dass Leiharbeiter aus Rumänien und Bulgarien nach ihrer Rückkehr aus den Heimatländern das Virus eingeschleppt hätten, brach ein Sturm der Entrüstung ob dieser «fremdenfeindlichen Hetze» über ihn herein. Niemand machte sich die Mühe, die Behauptung sachlich zu prüfen. Kamen die Arbeiter tatsächlich am Wochenende zuvor aus dem Heimaturlaub zurück? Lässt sich die Infektionskette nachvollziehen? Damit hätte man Laschet klar widerlegen können. Oder beginnen «Hass und Hetze» bereits bei der Nennung von Tatsachen, die Migranten und Migration in einem ungünstigen Licht erscheinen lassen?

    Da all diese Debatten und Kampagnen sich auch im Netz abspielen, hängt die Beantwortung dieser Fragen direkt mit dem Thema dieses Buches und der Frage zusammen, ob und wann ein Zensor eingreifen kann und soll. Es geht um die Frage, ob sich die Aufsichts- und Kuratierungspflicht der Plattform-Betreiber wie YouTube, Facebook oder Twitter auf einen sehr engen, unumstritten strafrechtlich relevanten Bereich kommunikativer Grenzüberschreitungen erstreckt, oder ob der Denk-Korridor des Zulässigen von beiden Seiten durch subjektive Leitplanken verengt wird, die auch Missliebiges und vermeintlich Unzeitgemäßes aussperren. Tendenzen zu Letzterem sind bei der jetzigen Praxis überdeutlich erkennbar. Immer wieder finden sich unter den Löschungen bzw. Sperrungen Postings, etwa aus christlichen Kreisen, die gegenläufig zum Mainstream-Diskurs laufen. Ablehnung der Homo-Ehe, Kritik an der aktuellen Migrationspolitik oder islamkritische Wortmeldungen sind zwar grundsätzlich zulässig, werden aber offenbar vielfach eliminiert, weil man sie für dem gesellschaftlichen Klima nicht zuträglich hält. Nur ist genau das nicht Aufgabe von Hass-und-Hetze-Bekämpfung. Ganz offensichtlich gehen die Mitarbeiter, die mit der Sichtung der Inhalte in meist ausgelagerten Firmen betraut sind, nach einem weniger juristisch als vielmehr subjektiv basierten Empfinden von Unrecht, Gut und Böse aus. Ein vergleichbarer Eingriff ohne juristische Grundlage in die analoge Pressefreiheit hätte längst zu nationalen Skandalen und Empörung geführt.

    Man kann die verschiedenen staatlichen Bemühungen im Kampf gegen «Hass und Hetze» gar nicht kritisch und skeptisch genug begleiten. Der deutsche Rechtsanwalt Joachim Steinhöfel hat sich unter anderem auf Fälle spezialisiert, bei denen Meinungsäußerungen im Internet willkürlich und zu Unrecht gelöscht oder gesperrt wurden. Die von ihm gesammelten Fälle¹ sind durchaus interessant, weil an den Beispielen klar wird, dass entweder kontextlos aufgrund von Schlagwortlisten gelöscht wurde oder die Zensoren der Materie, die sie prüften, intellektuell nicht gewachsen waren. So wurde beispielsweise die wissenschaftliche Debatte über das Buch «Hitlers Volksstaat» des Historikers Götz Aly gelöscht, obgleich dieses frei zugänglich und völlig unanstößig ist. Man unterband aber auch mehrfach die Verbreitung von offen zugänglichen Texten aus der Schweizer «Weltwoche» bei Facebook, deren Meinungstendenz vom gängigen Diskurs abwich.

    Die Verlockung zum Missbrauch von Meinungsmacht ist nicht nur bei politischen Instanzen groß, sondern auch bei privatwirtschaftlichen Administratoren, die das gesetzliche Mandat von Anti-Hass-Gesetzen als individuelle, ganz subjektive Meinungsmacht ausleben.

    Noch heikler wird es, wenn, wie reale Beispiele zeigen, die vermeintlich «sozialen» Netzwerke ihre Administratoren dazu nutzen, Freundschaften, Follower und andere Vernetzungen der Nutzer auf den Plattformen nach eigenen Kriterien zu trennen (oder neue herzustellen?). Hier bewegen wir uns an der Grenze zu gesellschaftlichen Milieu- und Meinungsmanipulationen, die man sich professionalisiert in falschen Händen gar nicht auszumalen vermag. In den Händen jener, die von sich selbst glauben, die «Richtigen» zu sein, allerdings auch nicht. Wo unsichtbare Administratoren in Freundesnetzwerke, Meinungsblasen, Informationsketten oder einfach auch nur in Reichweitenpotenziale leise lenkend eingreifen, muss jedem wachen Freigeist ganz schwummerig werden.

    Die einzig mögliche Forderung an Plattformbetreiber und Gesetzgeber kann hier nur lauten: Eingriffsbeschränkung auf hart und unzweifelhaft juristisch angreifbare Tatbestände und maximale Transparenz! Sowohl Algorithmen, die Verbreitung und Vernetzung beeinflussen, gehören offen erklärt, als auch die Regeln für Moderation, Löschung und Sperrung in Netzwerken. Denkbar wäre etwa die Pflicht, jeden Eingriff der Plattform zu dokumentieren und entweder öffentlich oder zumindest den Betroffenen zugänglich zu machen. Wo gelöscht oder gesperrt wird, muss ein Link zur Dokumentation des Vorgangs hinterlegt werden, wo die Begründung, die Rechtsgrundlage und eine Art Rechtsmittelbelehrung für möglichen Widerspruch oder Anfechtung hinterlegt ist.

    Das macht es für die Plattformen nicht leichter und billiger, ist für Kommunikation und Informationsaustausch in einer freiheitlichen Gesellschaft aber unerlässlich.

    ♦ ♦ ♦

    Der institutionalisierte Eingriff in die freie Meinungsäußerung kann und darf in freiheitlichen Demokratien immer nur Ausnahme bleiben und muss sich, wenn irgend möglich, auf strafrechtlich unzweifelhafte Tatbestände beschränken. Das ist nicht nur eine Frage der politischen Hygiene, sondern im Grunde auch eine gesellschaftspolitische Selbstverständlichkeit. Immer wieder sitzen Politiker, aber auch andere engagierte Vertreter von Medien, Verbänden, aus Kunst und Kultur dem Missverständnis auf, dass sich anstrengende Zeiten zum Besseren wenden, wenn man die eigentlich mündigen Bürger lediglich mit einer vorgefilterten Auswahl an Fakten, Informationen und Meinungen konfrontiere. Eine Idee, die, zu Ende gedacht, in gelenkter Demokratie endet, aber auch ganz grundsätzlich nicht funktioniert. Die Realität ist immer stärker als medial vermittelte Wunschbilder. Im Gegenteil: Je deutlicher sich erlebte Wirklichkeit und mediale Widerspiegelung unterscheiden, desto gefährlicher steigt der Druck im gesellschaftlichen System und sucht nach einem Ventil, um sich zu entladen.

    Auch die immer wieder direkt oder indirekt bemühte Theorie, wonach Denken und Wirklichkeit sich ändern, wenn man nur die Sprache ändert, führt in die Irre und allenfalls zu immer enger geführter Sprach-Normierung, wie es die vielerorts praktizierte Einführung der sogenannten «Gender-Sprache» gerade eindrücklich beweist. Wo Migration als Problem wahrgenommen wird, verschärft druckvoll verlangte Kultursensibilität eher noch die Dissonanz zwischen Realität und verordnetem Schein. Kurz: Um Hass und Hetze zu bekämpfen, ist politischer Alltagsdialog mit den Menschen und die Lösung der realen Probleme viel wichtiger als die Bereinigung des Diskurses von vermeintlicher Hassrede. Was nicht gesagt werden soll, wird dennoch gedacht. Gelöschte und gesperrte Meinungen verschwinden nicht. Ein Menschenbild, welches davon ausgeht, dass mündige Bürger willenlos und latent anfällig seien für die Infektion mit falschen Informationen und bösen Gesinnungen, stellt Aufklärung und Humanismus indirekt in Abrede.

    Zu guter Letzt sei darauf hingewiesen, welch seltsame Blüten der Kampf gegen Hass und Hetze schon heute treibt. So drängten unlängst mehr als neunzig Firmen, darunter große Weltkonzerne wie etwa der Brause-Abfüller Coca-Cola, der Verbrauchsgüter-Hersteller Unilever oder die Kaffee-Kette Starbucks das Netzwerk Facebook durch einen Anzeigen-Boykott, verstärkt gegen Hass und Hetze vorzugehen. Selbst wenn man löblichste Absichten unterstellt, sollten die Alarmglocken der Meinungsfreiheit unüberhörbar schrillen: Wirtschaftsunternehmen setzen ihre Finanzkraft ein, um inhaltliche Eingriffe in die Kommunikation freier Bürger zu erzwingen?

    Der öffentliche Aufschrei blieb aus. Der mediale und politische Aufschrei auch. Antisemitismus, Kriegstreiberei oder Kinderpornografie sollten schon jetzt bei Facebook auf dem Index stehen. Löschungen, die gewissermaßen von der Industrie erzwungen sind, bieten Stoff für neue Verschwörungstheorien und dienen sicher nicht der Vertrauensbildung. Man darf gespannt sein, welche politische Agenda die marktmächtigen Konzernlenker als Nächstes umtreibt. Die Verlockung dürfte wachsen, nicht nur zur Unterdrückung bestimmter Inhalte die merkantilen Hebel anzusetzen, sondern bei passender Gelegenheit womöglich auch proaktiv die Info-Agenda zu bestimmen. Wir sollten dem von Anfang an wehren.

    Berlin, im Juli 2020

    Ralf Schuler (geb. 1965) ist Leiter der Parlamentsredaktion von BILD und hat sich in seinem Buch «Lasst uns Populisten sein – 10 Thesen für eine neue Streitkultur» (Herder) auch mit den politischen Folgen der Digitalisierung beschäftigt.

    Für die deutsche Auflage zum Geleit

    Vor fünf Jahren beendete ich die Arbeiten zur englischen Ausgabe dieses Buches zur damaligen Lage rund um die «Hassrede»-Gesetze in Europa. Ich hatte bereits damals in Kapitel 9 des Buches einige Voraussagen über die Zukunft formuliert – heute muss ich sagen, zum Erscheinen der deutschen Ausgabe haben sich leider alle diese Prognosen erfüllt. «Leider», weil es für den gesellschaftlichen Diskurs besser wäre, ich hätte mich in meinen Vorahnungen zur Entwicklung der Redefreiheit geirrt.

    Die damaligen fünf Voraussagen waren, kurz zusammengefasst, dass sich erstens der Geltungsbereich der «Hassrede»-Gesetze wahrscheinlich ausweiten würde. Dass zweitens die Schwelle der «Hassrede»-Gesetze herabsinken würde. Dass drittens eine neue Kultur der Zensur geschaffen würde. Dass es viertens steigende und von der Regierung unterstütze Überwachung und Berichterstattung geben und dass fünftens der Schutz der Redefreiheit gerichtlich zunehmend verwässert würde.

    Wie die Entwicklungen in zahlreichen europäischen Ländern, aber auch in den USA in den vergangenen Jahren eindrücklich zeigen, werden alle diese Prognosen gerade in unterschiedlichen Ländern mit diversen Maßnahmen und Gerichtsentscheidungen forciert, hat sich die Lage der Redefreiheit massiv verschärft und spitzt sich die Einschränkung der Redefreiheit derzeit zu. Gehen wir die fünf Voraussagen einmal einzeln durch:

    Ich hatte erstens vorausgesagt, dass der Geltungsbereich der sogenannten «Hassrede»-Gesetze ausgeweitet wird. Ein klassisches Beispiel dieser Entwicklung kann man in der Schweiz beobachten. Im Frühjahr 2020 stimmte dort die Bevölkerung in einem Referendum mit Mehrheit für eine Erweiterung des Diskriminierungsverbotes, um eine neue Art von «Hassrede» unter Strafe zu stellen. Die Ausweitung der sogenannten «Anti-Rassismus-Strafnorm» im Paragrafen 261bis des Schweizer Strafgesetzbuches² besagt seitdem, dass auch Diskriminierung und Aufruf zum Hass gegen Personen aufgrund ihrer «sexuellen Orientierung» verboten sein soll. Bisher waren dort Kriterien wie Religion, Ethnie und Rasse vermerkt. Kritiker des Gesetzes monierten von Anfang an, dass sowohl der Begriff der «sexuellen Orientierung» als auch die fehlende Konkretisierung zwischen Hass und legitimer, aber abweichender Meinung dazu einladen, die neue Regelung als eine Art Zensur-Gesetz zu missbrauchen, und die Gefahr bestehe, dass jeder Widerspruch ab sofort mit Strafanzeigen wegen angeblicher Hassrede beantwortet werden könnte. Betrachtet man die Erfahrungen aus Großbritannien, Spanien oder den USA zum Umgang mit Kritikern, ist diese Befürchtung leider nicht von der Hand zu weisen.

    Auch in Schottland wird seit dem Frühjahr 2020 ein neues Gesetz zur Verhinderung von «Hassrede» im Parlament diskutiert. Die sogenannte «Hate Crime and Public Order Bill»³ soll die bereits bestehenden «Hassrede»-Gesetze zusammenfassen, neue Gruppen unter den Schutz vor Diskriminierung und Vorurteilen stellen, aber auch einen neuen Straftatbestand schaffen, nämlich jenen, «Hass zu schüren» gegen andere. Nicht zuletzt soll bei der Gelegenheit der Straftatbestand der Blasphemie abgeschafft werden, weil er seit über 175 Jahren nicht angewandt wurde. Bereits bisher darf laut geltender Anti-Diskriminierungs-Gesetze in Schottland niemand aufgrund von Behinderung, Rasse, Religion, sexueller Orientierung und Transidentität diskriminiert werden. Diese Liste soll um die Faktoren «Alter» und «Geschlecht» erweitert werden.

    Problematisch ist in Schottland auch die schwammige Formulierung der Anstachelung zum oder auch des Schürens von Hass, weil nicht einmal ansatzweise geklärt ist, welche Aussagen damit noch «sagbar» bleiben und was bereits dem Vorwurf von «Vorurteilen» oder «Hass» unterliegt. Man kann positiv bewerten, dass Blasphemie abgeschafft werden soll, wenn aber gleichzeitig zum Beispiel Kritik am Islam oder an anderen Religionen neuerdings als das Schüren von Hass unter Strafe gestellt wird, wäre dadurch wenig gewonnen, sondern eher legitime Kritik an Religionsgemeinschaften oder religiösen Praktiken faktisch sogar erschwert.

    Zweitens sah ich bereits vor fünf Jahren kommen, dass die inhaltliche Schwelle zur Definition von «Hassrede» sinken würde, so dass nicht nur extreme Ansichten als «Hass»

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