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Das schwarze Kreuz von Benissa: Ein Krimi von der Costa Blanca
Das schwarze Kreuz von Benissa: Ein Krimi von der Costa Blanca
Das schwarze Kreuz von Benissa: Ein Krimi von der Costa Blanca
eBook358 Seiten4 Stunden

Das schwarze Kreuz von Benissa: Ein Krimi von der Costa Blanca

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Über dieses E-Book

Tödliche Siesta unter der Sonne Spaniens

Die verträumte spanische Kleinstadt Benissa thront abseits des touristischen Trubels auf einer Anhöhe inmitten einer lieblichen Landschaft sanfter Hügel und Täler.
Aber die Idylle findet eines Tages ein jähes Ende, als eine männliche Leiche auf dem historischen Holzfußboden der öffentlichen Bibliothek gefunden wird. Auf der Stirn des Toten prangt das Symbol eines schwarzen Kreuzes.
Die ersten Recherchen von inspector Marzal von der policia nacional ergeben, dass der Tote, ein vermeintlich harmloser Oberstudienrat, ein Doppelleben geführt hat. Im Zuge der Ermittlungen findet Marzal heraus, dass es bereits in der Vergangenheit andere Morde mit ähnlich kryptischen Symbolen gegeben hat.
Es mehren sich die Anzeichen dafür, dass hier womöglich jemand auf einem blutigen Rachefeldzug ist. Und das schon seit vielen Jahren …
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum26. Juni 2019
ISBN9783954414857
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    Buchvorschau

    Das schwarze Kreuz von Benissa - Cia Born

    Kapitel

    1. Kapitel

    Damals

    Xabi Azorla sortierte mit gewohnter Routine sein überschaubares Angebot an Salatköpfen, Tomaten und Zwiebeln auf dem wackeligen Holztisch und beobachtete das rege Treiben auf dem Marktplatz.

    Junge und alte Menschen liefen an den Tischreihen entlang, prüften die angebotenen Waren, verglichen Preise. Ausgelassene Kinder sausten zwischen unrasierten alten Männern, schnatternden Hühnern und grunzenden Schweinen im Zickzack über den Platz.

    Eine arglose, heitere Kulisse.

    Nachdenklich stand Xabi im Schatten einer Arkade an einen Steinpfeiler gelehnt. Vorsichtig zog er an seiner Zigarette, die so dünn war wie ein Zahnstocher, und ließ dabei den Blick ziellos in die Ferne schweifen. Er fragte sich, wie er in diesen unsicheren Zeiten und mit seinen kargen Einkünften eine Familie würde ernähren können. Das war nicht der rechte Moment, um ein Kind in die Welt zu setzen.

    Xabi biss in den Apfel. Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte er nach oben in den tiefblauen Himmel und genoss die wärmenden Strahlen der Nachmittagssonne auf seinem Gesicht.

    Die alte Frau, die an seinen Stand herantrat, war ihm bekannt. Während sie eine Tomate nach der anderen in ihre runzligen Hände nahm, plapperte sie irgendeinen Unsinn. Dann wählte sie aus.

    Als sie in ihrem Korb nach dem Geldbeutel kramte, kam der Tod.

    Heute

    »Liebling!«

    »Si, cariño?«

    »Hast du schon einen Blick in die Zeitung geworfen?«

    »Nein, noch nicht.«

    »Dieser Artikel ist so typisch!« Liz Fellner war unausgeschlafen und genervt. Zum einen von dem Inhalt des Artikels und zum anderen von der bereits zweiten gewaltigen Hitzewallung an diesem Morgen.

    »Das erwähnte ›typisch‹, ist das diesmal typisch deutsch oder typisch spanisch?« Mit einem geschickten Schlag aus dem Handgelenk köpfte Ricardo Albelda sein Frühstücksei. Er bedachte seine Frau mit einem kurzen, fragenden Blick und mit einem unüberhörbaren Hauch honigsüßer Ironie in der Stimme.

    Mit hochgezogener linker Augenbraue und der Brille auf der untersten Nasenhälfte musterte Liz ihr iberisches Ehegespons über den Rand der Zeitung hinweg. »Weder noch.«

    »Welche Nation erbost an diesem schönen Morgen mein Eheweib?«

    »Die englische!«

    »Aha! Ich hoffe nicht, dass sich die Queen ein Bein gebrochen hat. Oder hat es jemand gewagt, das britische Empire zu stürzen?«

    »Spotte du nur. Aber mich regt die Tatsache auf, dass immer wieder einige Engländer mit ihrem angeborenen Linksfahren uns Festland-Europäern permanent vor die Haube kutschieren. Hier schon wieder. Der elfte Unfall innerhalb eines halben Jahres!« Während dieser Schilderung hatte sich Liz’ Stimmlage um einige Oktaven nach oben gesteigert. »Man sollte ihnen mit der Einbürgerung sofort ein paar Fahrstunden aufbrummen. Was meinst du?« Diese Frage war natürlich rein rhetorisch und bedurfte keiner Antwort.

    Elisabeth Fellner, von allen nur Liz genannt, und Ricardo Albelda Oltra waren seit dreißig Jahren glücklich verheiratet. Wie sie das zustande gebracht hatten, wussten sie beide nicht so genau. Ricardo war ein zufriedener Rentner mit der ruhigen Wesensart eines Berner Sennenhundes. Liz hingegen durchlitt im Augenblick eine Phase, die geprägt war von sich kontinuierlich abwechselnden Hochs und Tiefs. Kurzum – eine Frau in den Wechseljahren! Nana, die hübsche schwarz-weiß-beige Mischlingshündin, liebte Frauchen und Herrchen bedingungslos und war fraglos der familiäre Mittelpunkt.

    Vor drei Jahren waren sie an die Costa Blanca gezogen. Ricardo hatte nach fünfundvierzig Jahren Deutschland in jedem einzelnen Knochen seines Körpers das Bedürfnis verspürt, den beginnenden Lebensabend in heimischen, warmen Gefilden zu verbringen. Liz war sofort damit einverstanden gewesen.

    So hatte es sie auf den Berg nach Benissa verschlagen.

    Hoch oben thronte dieses Dorf mit seiner imposanten Kathedrale und seiner römisch-arabischen Vergangenheit über einer Landschaft sanfter Hügel und Täler. Zwischen Schatten spendenden Pinienwäldchen, majestätischen Palmenhainen und knorrigen, verwachsenen Olivenbäumen entdeckte man immer wieder riesige Weinfelder, deren Trauben nach der Lese und in ausgepresstem Zustand eine Anzahl sehr interessanter Tröpfchen zuwege brachten.

    Das war die Marina Alta, die nördlichste Region der Provinz Alicante. Die Menschen waren warmherzig wie ihr Klima und ein bisschen spröde wie ihre Sprache, denn sie sprachen Valenzianisch, das nur noch ganz entfernt an das hochspanische Kastilisch erinnerte.

    Liz und Ricardo hatten mit viel Glück direkt im Zentrum der mittelalterlichen Altstadt ein neues Heim gefunden, es ein wenig renoviert und bezogen.

    Sie fühlten sich wohl und – angekommen.

    Außer in der Zeit von Mitte April bis Anfang Mai!

    In diesen beiden Wochen feierte die jugendliche Einwohnerschaft das Fest der Puríssima Xiqueta, ihres Zeichens Schutzpatronin von Benissa.

    Die älteren Bewohner packten stillschweigend ihre Köfferchen und übersiedelten in ihre Landhäuser. Andere, ohne das Glück einer Zweitimmobilie, so wie auch Liz und Ricardo, mussten bleiben und ausharren.

    Tagsüber beschränkten sich die Aktivitäten auf Umzüge, wohlklingende Musikkapellen und offenbar gehörlose Rowdies, die ohrenbetäubende Knallkörper durch die Gegend schleuderten. Das war die Ouvertüre.

    Denn jede Nacht, zu einer Zeit, da sich der betagte Teil der Bevölkerung rechtschaffen müde und erschöpft zu Bett begab, demonstrierte ein DJ auf der Plaça Rei Jaume I die unbegrenzte Kapazität und monströse Lautstärke seiner Anlage. In den Genuss dieser Beschallung kam man bis circa fünf Uhr morgens!

    Diese Festivitäten dauerten exakt zwei Wochen. Danach kamen die erholten Landhausbesitzer zurück und bedauerten mit falschem Mitleid die greisenhaft aussehenden Daheimgebliebenen.

    An diesem Morgen hatten sie – gottlob – die erste Hälfte der Tortur überstanden. Es war der 26. April, es war zehn Uhr, und es herrschte absolute Stille.

    10.15 Uhr – er fühlte sich müde und erschöpft. Obwohl ihm in diesem Augenblick bewusst wurde, dass er kurz vor dem Ziel stand.

    Dieser Gedanke war beruhigend.

    Mit leerem Blick starrte er in das Glas, das er mit beiden Händen fest umklammert hielt. Er sah seine Augen, die sich in der rubinroten Flüssigkeit widerspiegelten. Die Augen eines Mörders. Dieses Wort – von ihm nur gedacht, nie laut ausgesprochen – lastete bleischwer auf seiner Seele. Verrückt, eigentlich hatte er gedacht, dass diese sich schon vor langer Zeit aus seinem Körper verabschiedet hatte.

    Apathisch drehte er den Kopf und blickte auf den alten, schäbigen Leinenrucksack, den er zuvor achtlos neben sich auf den Stuhl geworfen hatte. Harmlos und unscheinbar sah er aus, über die Jahre mit Flecken übersät wie der Knochenpanzer einer Schildkröte und mit zig losen Fäden an allen Ecken. Einem Außenstehenden wäre niemals der Gedanke gekommen, dass sein Inhalt so todbringend sein konnte wie der Biss einer Kobra.

    »Willst du?«, fragte Liz und streckte Ricardo die zusammengefaltete Zeitung hin.

    »Ich möchte im Moment eigentlich nur eines: in Ruhe dieses herrliche Croissant genießen. Apropos genießen, kann es sein, dass dein Handy klingelt?«

    »Scheint so«, knurrte Liz. »Fragt sich jetzt nur noch, wo ich diesen Nervtöter gestern Abend deponiert habe?«

    »Dieses Schicksal des Verlorengehens teilen sich dein Handy und deine Fächer.«

    »Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich dieses Ding hasse!« Liz biss in ihr Croissant, stürmte kauend ins Wohnzimmer und begann mit der Suche. Als sie endlich mit dem Handy in der einen und dem Fächer in der anderen Hand zurück auf den Balkon kam, hatte es inzwischen schon circa zwanzigmal geläutet.

    So geduldig war nur eine Person in ganz Benissa.

    »Nun mach schon.« Liz wurde nervös, legte den Fächer beiseite und klopfte mit ihrem Zeigefinger auf der Handyoberfläche herum. »Hola? Hola, Fanny.«

    Ricardo trank genüsslich einen Schluck Kaffee und beobachtete amüsiert seine telefonierende Frau. Liz und Handys, das war ungefähr so wie englische Haut und spanische Sonne im August – ein zutiefst gestörtes Verhältnis.

    »Wo steckst du? – Schon wieder im Büro.« Liz tauschte Fächer gegen Kaffeetasse und nahm einen kräftigen Schluck. »Wir? Du weißt doch, bei unserem geheiligten Frühstück auf dem Balkon.«

    Ricardo griff nach Brille und Zeitung.

    »Nein, ich habe nur vor, ein paar Einkäufe zu machen. Wenn du Lust hast, können wir uns so gegen zwölf im Temps de Café treffen. – Passt? – Perfekt – Hasta luego, cariño.« Liz schaltete ihr Handy aus und warf es achtlos in den Zeitungskorb neben der Balkontür.

    »Der ideale Platz, um ein Handy zu lagern.« Ricardo ließ die Zeitung sinken. »Du hast ein Treffen mit der Guardia Civil?«

    »Hm«, murmelte Liz und blickte verschlafen auf die mächtige Eiche der Plaçeta Vella.

    Es stimmte, ihre Freundin Fanny Soler war Mitglied der Guardia Civil und verpasste dem cuartel, der Polizeiwache von Benissa, mit seiner traditionell männlichen Dominanz ein wenig weibliche Ausgewogenheit.

    Fanny bewohnte mit ihrem imposanten Mischlingsrüden Poco ein hübsches kleines Appartement in der carrer Sant Josep. Zwei Zimmer im zweiten Stock, mit einer Miniküche und einem winzigen Balkon nannte sie ihr eigen. Sie war Single, fünfunddreißig Jahre alt, eine klassische, spanische Schönheit und – ehrgeizig. Bei der Arbeit steckte ihr durchtrainierter Körper in einer eher schlecht sitzenden, olivgrünen Uniform, die schmalen Hüften zierten rechts eine Baretta FS 92 und links ein Funkgerät und Handschellen.

    Das Problem mit dem ›passenden Lebenspartner‹ erklärte sich Fanny damit, dass sie mit dem heimischen Produkt so ihre Schwierigkeiten hatte. Alternativ dazu gab es die ausländischen Exemplare, die allerdings überwiegend im fortgeschrittenen Alter waren oder zu den kaffeebraun gerösteten Gigolo-Typen zählten, die man nicht einmal seiner ärgsten Feindin zugemutet hätte.

    »Sag mal, weißt du schon, womit sie uns heute quälen werden?«, fragte Liz.

    »Geplant ist kurz vor zwölf der Hühnerlauf«, antwortete Ricardo.

    »Also einen Wettlauf für junge Leute finde ich ja generell toll, aber als Preis ein Suppenhuhn!?«

    »Tradition, mi vida, Tradition.«

    »Auf alle Fälle ist es mit wenig Lärm verbunden«, konstatierte Liz.

    »Na ja, du kennst doch inzwischen meine Landsleute – ohne Schwarzpulver keine spanische Feier.«

    »Stimmt. Und ab wann beginnt die nächtliche Folter?«, fragte Liz und fühlte, wie die nächste Hitzewallung von den Füßen nach oben kroch.

    »Zweiundzwanzig Uhr.«

    »Somit wäre dann nur noch die Frage zu klären, wie hoch in Spanien das Strafmaß bei einem aus Übermüdung begangenen Mord ist?«

    »Was hältst du davon, wenn ich dich nach Altea zu einem romantischen Abendessen entführe?«, schlug Ricardo vor.

    »Danach müssten wir doch wieder ins Bett. Ich schlage vor, dass wir schön zu Hause bleiben und ausnahmslos alle Fenster verbarrikadieren. Wir schlucken jeder eine hübsche rosa Schlaftablette und hoffen auf Morpheus’ Erbarmen.«

    Wie spät mochte es sein? Irgendwann hatte er das Gefühl für die Zeit verloren.

    Bedächtig zog er die Uhr an der langen Silberkette aus seiner linken Jackentasche. Er besah sie sich mit einem Anflug von Zärtlichkeit. Es war eine schlichte Uhr, die Uhr seines Vaters. Darüber hinaus war sie auch der einzige Gegenstand, der ihm von dem Mann geblieben war, den er nie kennengelernt hatte. Liebevoll strich er mit dem kräftigen Daumen seiner rechten Hand über das Glas. Es war nach all den Jahren matt geworden und voll unschöner Kratzer.

    10.56 Uhr. Noch knapp sechs Stunden Zeit.

    Hastig kippte er den restlichen Wein hinunter und bestellte noch ein Glas.

    Während Ricardo sich mit seinen Jungs vom cuarteto de jubilados, dem Rentnerquartett, traf, beschloss Liz, ihre Einkäufe zu erledigen.

    Auf der Plaça Rei Jaume I wäre sie fast Frau Schneider in die Arme gelaufen. Diese thronte, als Vorsitzende des deutschen Wanderclubs, inmitten ihrer Gefolgschaft im Café Pa de Sucre, und man schwelgte noch einmal in den wunderbaren Eindrücken der letzten Wanderung.

    Um nicht erkannt zu werden, zog Liz energisch ihren Strohhut tiefer ins Gesicht, schob die verrutschte Sonnenbrille nach oben und marschierte am Café vorbei in Richtung Pescaderia Ifach Calpe, dem ortsansässigen Fischladen.

    Hinter der langen Tischreihe wuselte eine junge Dame in steril weißem Kittel und Häubchen geschäftig hin und her. Ein wunderbares Stück Lachsfilet war schnell gefunden, eingepackt und bezahlt.

    Liz trat wieder hinaus in die Sonne und bog strammen Schrittes um die Ecke.

    Der Zusammenstoß war gewaltig und mit Sicherheit nicht Gott gewollt, denn hier stießen zwei religiöse Gegensätze aufeinander, die größer nicht hätten sein können: Liz Fellner und Pfarrer Don Alejandro.

    Don Alejandro, Pfarrer in der Kathedrale Marina Alta, war eine imposante Erscheinung. Er pflegte mit seiner pastoralen Korpulenz, eingehüllt in eine bodenlange, schwarze Soutane, mit gewichtigen Schritten und stets streng katholischer Miene durch die Gassen Benissas zu stapfen. Seine Physiognomie erinnerte ein wenig an Don Camillo, nur war Don Alejandro nicht annähernd so charismatisch und sympathisch wie sein italienisches Pendant.

    Bevor Don Alejandro seinem empörten Blick noch die entsprechenden salbungsvollen Worte hinzufügen konnte, hatte ihm Liz mit einem kurzen Nicken zu verstehen gegeben, dass sie daran keineswegs interessiert war. Energisch rückte sie ihren verrutschten Strohhut zurecht und eilte erhobenen Hauptes davon.

    11.35 Uhr – Er musste weg von hier. Menschenmassen waren ihm jetzt unerträglich.

    Er zahlte, hängte sich den Rucksack über die Schultern und wandte sich in Richtung Convento de los Padres Franciscanos.

    Gemächlich, mit gesenktem Kopf, setzte er mechanisch einen Fuß vor den anderen. Nur nicht denken!

    Eine Gruppe Kinder kam lärmend auf ihn zu gerannt, lachend, fröhlich, unbeschwert. Er blieb stehen und verfolgte mit neidvollen Blicken die lustige Bande.

    Auf der Rückseite der Kathedrale lag das Temps de Café. Geführt wurde es von Teresa, Mitte fünfzig, und ihren bezaubernden Töchtern Maite und Pili. Hier traf man die illustre Gesellschaft von Benissa, und nun, um die Zeit des späten Frühstücks, herrschte reges Treiben.

    Teresa hatte bei diesem herrlichen Wetter schon die Tische und Stühle auf die Plaça Rector Salvador Fuster gestellt. Die rot-weiß gestreiften Sonnenschirme waren im April noch nicht geöffnet und lehnten, wie Zinnsoldaten, nebeneinander an der Rückwand der Kathedrale.

    Einige englische Touristen schienen beglückt ob der leichten Brise und ließen ihre blasse britische Haut erste zaghafte Kontakte mit der spanischen Sonne aufnehmen. Die einheimischen Gäste beurteilten die Außentemperaturen als noch etwas zu kühl und zu windig und hatten sich ins Innere des Cafés zurückgezogen.

    Am ersten Tisch des länglichen Raums hockte Manfred Eberl. Er saß täglich auf demselben Stuhl, am selben Tisch und studierte die hiesige Tageszeitung Información. Dies tat er seit Jahren. Bei Manfred Eberl waren Beruf und sein äußeres Erscheinungsbild im Laufe der Jahre zu einer Einheit verschmolzen. Er war Oberstudienrat für Germanistik und Geschichte, und er sah aus wie ein solcher. Adjektive wie hager, sehnig, drahtig und spitz musste man für ihn kreiert haben, denn sie beschrieben exakt seine Optik. Sein eher zurückhaltendes und phlegmatisches Wesen hatte ihn nicht davor bewahrt, sich unsterblich in Liz zu verlieben und sie bedingungslos anzuhimmeln. Und seit einem halben Jahr gehörte er zum erweiterten Kreis von Ricardos Rentnerquartett.

    Kaum dass er Liz erblickte, wechselte seine Mimik von verbissen-konzentriert zu euphorisch-verzückt. Seine zusammengefalteten ein Meter neunundachtzig schnellten blitzartig in die Höhe, und gefühlte drei Meter lange Arme wickelten sich um Liz und ihre Einkaufstüten.

    »Manfred, Hilfe! Ich bekomme keine Luft!« Liz schlängelte sich aus seiner Umarmung und stellte erst einmal die Tüten auf einen freien Stuhl.

    Sie blickte sich suchend um, konnte aber weder den braunen Wuschelkopf noch eine Uniform der Guardia Civil ausmachen. Also wandte sie sich erst einmal an Manfred. »Es bleibt doch bei Freitagabend neun Uhr?«, fragte sie und setzte sich auf einen der Barhocker.

    »Du weißt doch, meine Liebe, deine monatlichen Einladungen zum Abendessen sind das Lebenselixier meines bescheidenen Daseins«, säuselte Manfred, und ein feuchter Glanz legte sich auf seine grau-grünen Augen.

    Die Ankunft Fannys löste ein mehrstimmiges ›Hola‹ aus. Sie hopste auf den freien Barhocker neben Liz und legte ihre Mütze auf den Tresen. »Ich weiß, ich bin etwas zu spät, aber ich kam einfach nicht weg aus diesem Büro.«

    »Was möchtest du?«

    »Eine tostada, einen cafe con leche und frischen Orangensaft«, kam es wie aus der Pistole geschossen.

    »Mir scheint, da hat jemand Hunger.« Liz wandte sich an Maite. »Für mich ein Glas Cava.«

    Nach einer halben Stunde, dem Austausch der letzten Neuigkeiten und Unwichtigkeiten musste Fanny zurück auf die Wache.

    Liz schnappte sich ihre Tüten, Fanny drückte Manfred ein Küsschen auf die Wange, und nach einem überschwänglichen ›Adios‹ traten sie hinaus auf die Straße.

    »Hast du Lust, um drei zum Essen zu kommen?«, fragte Liz.

    »Gerne, denn mein Mittagessen sieht nicht gerade vielversprechend aus«, antwortete Fanny.

    »Also dann bis später.«

    »Si, hasta luego und – koch’ schön.«

    13.13 Uhr – Diesem Scheißkerl gegenüberzusitzen und freundlich lächeln zu müssen, würde ihn Überwindung kosten. Am liebsten hätte er dem Ganzen jetzt, hier und sofort, ein Ende gesetzt. Aber für sein Vorhaben gab es Regeln, gab es ein System, gab es eine Uhrzeit.

    Seine verkrampften Muskeln begannen zu schmerzen. Verstohlen sah er auf die Uhr. Dreieinhalb Stunden musste er noch ausharren.

    Alleine der Gedanke, diesen Menschen endlich tot zu sehen, verlieh ihm die nötige Motivation.

    »Auch wenn mir jetzt jemand eine Million Euro bieten würde, ich könnte keinen Bissen mehr hinunterbringen. Ihr erlaubt?« Fanny saß erschöpft zurückgelehnt auf ihrem Stuhl und öffnete ungeniert den obersten Knopf ihrer Uniformhose, zog ihr Handy aus der Hosentasche und legte es auf den Tisch.

    »Ricardo, sag du doch auch mal was!«

    »Ich kann dir nicht antworten, ich bin einfach zu satt. Mein Geist liegt im kulinarischen Koma, und mein armer Körper ist damit beschäftigt, die gewaltige Verdauung in Angriff zu nehmen.«

    »Banausen, das nächste Mal serviere ich euch Pellkartoffeln mit Quark«, erwiderte Liz.

    »Pellkartoffeln mit Quark? Was ist das?«, fragte Fanny.

    »Sehr einfach, sehr schmackhaft«, erklärte Ricardo kurz und knapp und ließ die schweren Lider über die müden Augen gleiten.

    »Was ein Glück, dass Benissa so ein ruhiges Pflaster ist. Stell dir vor, du müsstest jetzt, mit dem vollen Bauch, irgendwelchen bösen Buben hinterherrennen«, sinnierte Liz, schmunzelte und sah aus dem Fenster.

    Diese göttliche Ruhe war wunderbar. Während dieser Zeit der Siesta schienen all die ansonsten so lauten Geräusche wie in Watte gepackt.

    Sie lauschte den Glocken der Kathedrale und zählte unbewusst die Schläge. Halb fünf.

    16.55 Uhr – Es war vollbracht. Ein Gefühl der Erleichterung, der Befreiung breitete sich in seinem Innern aus.

    Er hatte Rache geschworen und – er hatte sich gerächt.

    Würde die Ruhe in sein Leben zurückkehren? Vielleicht sogar ein wenig Frieden?

    Fast hätte er Tomás, seinen kleinen Freund, über den Haufen gerannt. Nachdem er mit dem Jungen ein paar Worte gewechselt hatte, hastete er mit gesenktem Kopf und großen Schritten die carrer de la Purísima hinunter. Unversehens rempelte er einen jungen Mann an, der ihm schwatzend im Weg stand. Er stieß eine Verwünschung aus, da ihm bei dem Zusammenstoß fast der Rucksack von den Schultern geglitten wäre.

    Dann eilte er weiter.

    Liz saß mit einem kühlen Glas Weißwein auf ihrem Balkon und genoss die Ruhe vor dem Sturm.

    Auf der hölzernen Bank unter den ausladenden Ästen der Steineiche hatten zwei ältere Herren Platz genommen und diskutierten äußerst motiviert und lebhaft die allgegenwärtige Korruption der führenden Politiker und die herausragende Qualität des diesjährigen Moscatelweins.

    In diesem Augenblick kam Penélope de las Villas, Benissas allwissende Bibliothekarin, auf ihrem Fahrrad um die Ecke gebraust.

    Doña Penélope beeindruckte ihre Mitmenschen nicht nur durch den unerschöpflichen Fundus ihres breit gestreuten Wissens, sondern auch durch ihr voluminöses Erscheinungsbild. Jeder, der sie erblickte, empfand sofort ein wenig Mitleid mit ihrem drahtigen Gefährt, das fast zur Gänze unter ihrer Korpulenz verschwand. Die runden, strammen Waden, die unter dem Saum eines kolossalen Faltenrocks hervorlugten, traten eifrig in sehr zierlich wirkende Pedale. Rhythmisch ächzten die Federn des Fahrradsattels unter dem Gewicht der Bibliothekarin. Da sie vorsichtshalber unverhoffte Zusammenstöße vermeiden wollte, betätigte sie ausdauernd und leidenschaftlich die kleine Fahrradklingel.

    Vor dem Centro Cultural vollführte sie eine geschickte Wendung, glitt überraschend flink vom Fahrrad herunter und lehnte das Gefährt vorsichtig gegen die ehrwürdige, historische Steinmauer.

    Was wollte sie heute und um diese Uhrzeit in der Bibliothek? Dienstag war Ruhetag! Aber Liz kannte Doña Penélope recht gut und wusste, dass Pflichterfüllung für sie stets an oberster Stelle stand. Vermutlich hatte sie nur vergessen, eine Schublade abzuschließen, und wollte dies nun umgehend nachholen.

    Liz nahm ihr Weinglas zur Hand und betrachtete amüsiert Tomás, einen sechsjährigen Jungen aus der Nachbarschaft, der auf dem Boden hockte und vollkommen in sein Spiel mit den bunten gläsernen Murmeln versunken schien.

    Plötzlich ging alles sehr schnell.

    Der erste Schrei war markerschütternd – aber kurz. Dann wurde der rechte Flügel eines der Fenster der Bibliothek aufgestoßen, und im Rahmen erschienen der Oberkörper und die verstörten Gesichtszüge Doña Penélopes. Ihr Anblick erinnerte Liz sofort an das Gemälde ›Der Schrei‹ von Munch. Offenbar unfähig, auch nur ein einziges klares Wort zu formulieren, kam aus dieser Mundhöhle nur ein anhaltend schmerzvoller Laut.

    Bereits der erste schrille Schrei hatte einige Anwohner der Plaçeta Vella ans Fenster oder auf den Platz gelockt. Die betagten Schwestern Bertomeu hielten sich ängstlich bei den Händen gefasst, und ihre fein frisierten Häupter zitterten damenhaft wie Espenlaub.

    Dem spielenden Kind war vor Schreck die letzte Murmel aus der Hand geflutscht, und diese kullerte nun auf dem abfallenden Gelände langsam Richtung Kanaldeckel.

    Auch die beiden Senioren hatten reagiert. Sie stellten ihre altgedienten Spazierstöcke zwischen ihre Beine, legten gelassen ihre verschränkten Hände auf den Knauf und blickten neugierig nach oben.

    Liz krabbelte mühsam auf dem Boden herum und klaubte mit der rechten Hand Glasscherben auf, denn sie hatte beim ersten Schrei vor Schreck ihr Weinglas fallen lassen.

    Mit der Linken hielt sie das Handy ans Ohr. »Fanny, hier Liz. Komm so schnell du kannst zum Centro Cultural. In der Bibliothek muss etwas Schreckliches passiert sein. Beeilt euch!«

    Auch Ricardo hatte dieser erste Schrei von seiner Arbeit am Computer weggelockt. Eilig rannte er zum Balkon, wo er beinahe über sein kriechendes germanisches Eheweib gestolpert wäre.

    »Ich muss sofort da rüber«, sagte Liz, drückte ihm das Papiertuch mitsamt der Glasscherben in die Hand, stopfte sich ihr Handy in die Hosentasche und entschwand seinen Blicken.

    Äußerst vorsichtig bewegte Ricardo sich zwischen dem Tisch und den Stühlen hin zur Brüstung und sah gerade noch, wie seine Frau über den Platz hechtete und im Eingang des Centro Cultural verschwand.

    Penélope de las Villas schrie immer noch, in der gleichen Lautstärke, mit der gleichen Verzweiflung und Hilflosigkeit.

    Liz rannte die valenzianisch gekachelten Treppenstufen nach oben in den ersten Stock. Kurz darauf landete sie in den mächtigen Armen und wogenden Brüsten der Señora de las Villas, die sich vom Fenster entfernt hatte und nun im Türrahmen stand. Liz blickte leicht benommen in das Gesicht der Bibliothekarin, die völlig überraschend mit den infernalischen Schreien aufgehört hatte und nun in eine Art Schockstarre verfallen war.

    Vorsichtig befreite sich Liz aus der Umarmung und ergriff Penélopes linke Hand. Deren feuchte, heiße Finger umklammerten sofort wie ein Schraubstock die ihren mit der klaren Absicht, diese so schnell nicht wieder loszulassen.

    Liz atmete ganz tief ein, schob die Bibliothekarin vorsichtig etwas von sich und blickte an ihr vorbei ins Innere der Bücherei.

    Was sie sah, war zunächst einmal nur Rot!

    Normalerweise hatte sie kein Problem mit Blut, mit ihrem eigenen Blut wohlgemerkt und in nicht nennenswerter Menge. Auf eine Lache dieses Ausmaßes war sie allerdings nicht vorbereitet. Sie fühlte, wie sich ihr Mageninhalt Richtung Speiseröhre bewegte. Der Zustand ihrer Knie wechselte von stabil zu gallertartig, und sie war froh über den Halt, den ihr der feste Griff der Bibliothekarin bot.

    Als Nächstes registrierte sie wie durch einen Nebelschleier die bizarre Haltung des am Boden liegenden Mannes. Er lag nicht etwa zusammengesackt in seinem Blut, nein – man hatte ihn regelrecht drapiert. Der Tote lag auf dem Bauch, die Beine geschlossen und die Arme im rechten Winkel ausgestreckt.

    Es sah so aus, als hätte man ihn am Boden gekreuzigt!

    »Das war Mord!«, flüsterte Liz, die am blutverschmierten Hinterkopf des Opfers deutlich eine lange, schmale Wunde entdeckt hatte.

    Als sie nach einigen Minuten spürte, dass sich ihre Magensäfte wieder an Ort und Stelle befanden und auch ihre Atmung zu einem normalen Rhythmus zurückgefunden hatte, näherte sie sich dem Opfer. Zu ihrem beruhigten Magen und der gleichmäßigen Atmung hatte sich Neugierde gesellt.

    Sie beugte sich hinunter.

    Als Fanny mit zwei Kollegen den Raum

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