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Das Amulett der Greife
Das Amulett der Greife
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eBook557 Seiten7 Stunden

Das Amulett der Greife

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Über dieses E-Book

»Wer bist du, dass du über mein Leben oder meinen Tod urteilen darfst?«
Nachdem Charly auf der Flucht von einem missglückten Date einen Unfall hat, ist für sie nichts mehr, wie es war. Als sie erwacht, findet sie sich in Aréa wieder – und sie wurde in einen Greifen verwandelt!
Gestrandet in einer fremden Welt und einem fremden Körper, muss sie um ihr Leben kämpfen. Denn das Amulett, das sie nach Aréa gebracht hat, droht sie umzubringen.

Auf ihrer Suche nach einem Ausweg begleitet sie ausgerechnet der Wolfsgreif Lero, der kein Geheimnis daraus macht, dass er sie verachtet. Doch ohne seine Hilfe ist Charly verloren ...
SpracheDeutsch
HerausgeberTalawah Verlag
Erscheinungsdatum24. Aug. 2019
ISBN9783947550364
Das Amulett der Greife

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    Buchvorschau

    Das Amulett der Greife - Janika Hoffmann

    Oberbest(i)e.

    4000 v. Chr.

    Das Rauschen von Flügeln durchbrach die Luft, fing sich zwischen den Felswänden und wurde davon zurückgeworfen. Maruk genoss das Geräusch ebenso wie den Anblick seines Schattens, der über die Felsen unter ihm huschte, gefolgt von denen seiner zwei Begleiter.

    Maruk streckte sich und reckte stolz den Schnabel in die Luft. Er war sicher, dass die beiden Greife in seinem Gefolge es genauso taten, aber er machte sich nicht die Mühe, sich nach ihnen umzusehen. Und das musste er auch nicht. Als er sich seinen Weg zwischen den Felsformationen hindurch suchte, sah er nur dann und wann ihre Schemen im Augenwinkel, als sie den Felsblöcken und ihm gleichermaßen auswichen – eine stumme Absprache, die davon zeugte, dass er sich die richtigen Begleiter für sein Vorhaben ausgesucht hatte.

    In der Ferne hinter ihnen erklangen wütende Schreie, doch keiner von ihnen kümmerte sich darum. Stattdessen schoss Maruk um eine weitere Felsnase herum, ehe er seinen Flug abbremste und in einer rundlichen Senke landete. Während er die Flügel anlegte, beobachtete er die beiden Aviden, die nach ihm landeten.

    »Diese Schnurrköpfe abzuhängen war so einfach!«, empfing er sie und lachte schnarrend. »Nun ist es mein!« Er hob ein Vorderbein und betrachtete das dunkelbraune Amulett, das er in den Klauen hielt.

    Seine beiden Artgenossen knackten zustimmend mit den Schnäbeln. »Wirst du das Tor gleich öffnen?«, fragte Karim, der kleinere der beiden. Zwischen seinen nach allen Seiten abstehenden Federn waren seine Ohren kaum zu erkennen.

    »Natürlich, was denkst du denn?« Maruk warf dem anderen Aviden einen selbstgefälligen Blick zu. Dann schloss er die Augen und konzentrierte sich.

    Eine ganze Weile geschah nichts, lediglich die wütenden Schreie waren wieder und wieder in der Ferne zu hören. Dann jedoch schien die Luft um das Greifentrio herum plötzlich zu vibrieren. Maruk hielt die Augen noch immer geschlossen, doch durch die gesenkten Lider hindurch erkannte er eine glänzende Lichtkugel, ein Blitzen aus Grün und Gelb. Langsam wurde der Schein stärker, fast als würde die Kugel anwachsen.

    Als Maruk seine Neugier nicht länger zügeln konnte, öffnete er die Augen. Triumphierend betrachtete er die wabernde Scheibe, die sich in einigen Flügellängen Entfernung gebildet hatte. Ein eigentümliches Surren ging davon aus, doch das kümmerte Maruk nicht. Das Tor, das er geschaffen hatte, war groß genug für einen Greifen. Er hatte wirklich einen Weg zwischen den Welten geschaffen.

    »Es ist soweit«, verkündete er und machte einen Schritt auf das Tor zu. »Nun beginnt eine neue Ära.«

    »Nicht, wenn ich es verhindern kann!«

    Maruk zuckte zusammen, als eine Greifin hinter einem nahen Felsen hervorsprang. Wieso hatte er sie nicht kommen hören? Es handelte sich um eine Felide; ihr Kopf war der einer Raubkatze, ihre Flügel waren nahezu golden. Sprungbereit schlich sie auf die drei Aviden zu, wobei sie ihnen den Weg zum Tor versperrte.

    Maruk brauchte einen Moment, um sich zu fangen, dann warf er der Greifin einen verächtlichen Blick zu. »Was willst du, Felide? Geh beiseite.«

    »Das werde ich nicht tun!«, fauchte die Greifin und legte die Ohren an. »Gebt es zurück!«

    »Was denn, meinst du etwa das hier?« Maruk hob das Artefakt in seinen Vorderklauen provokant ein Stückchen höher. Zugleich versuchte er angestrengt, sich weiter auf das Tor zu konzentrieren, damit es sich nicht schloss. Es fiel ihm schwer, den Pfad offenzuhalten, während die Felide ihn ablenkte, doch das durfte er sich nicht anmerken lassen. So überlegen wie möglich richtete er sich auf. »Ich glaube, du hast etwas Wichtiges vergessen.« Er machte einen Schritt vor und fächerte zugleich seine Schwanzfedern auf, ein Signal an seine Begleiter, sich an seinen Flanken zu positionieren. »Du bist allein«, warf er der Greifin drohend entgegen.

    Die Felide duckte sich noch tiefer und fauchte, doch sie wich nicht zurück. »Kehrt um. Wenn ihr diesen Schritt macht, wird es kein Zurück mehr geben.«

    »Umkehren?« Maruk lachte. »Aber meine Reise hat doch gerade erst begonnen! Ich glaube, du hast es noch nicht verstanden: Wir werden jetzt durch dieses Weltentor gehen.« Mit diesen Worten schoss er vorwärts und fiel seine Gegnerin an.

    Die Greifin fauchte und sprang ihm entgegen, die Vorderklauen vorgestreckt. Obwohl sie in der benachteiligten Position gewesen war, traf sie ihn zuerst und schnappte nach seiner Kehle.

    Maruk riss seine Vorderläufe hoch, um seine Kontrahentin auf Abstand zu halten. Dadurch drückte er das Amulett, das er weiterhin fest umklammert hielt, tief in ihr Gefieder.

    Ihr Kampfruf wandelte sich zu einem Schrei, als die Luft zwischen ihnen erbebte und die Felide zurückgestoßen wurde. Sie prallte gegen einen Felsen und rutschte daran hinab. Sofort öffnete sie die Augen wieder, doch der Ausdruck darin zeugte von Schmerz, und tatsächlich blieb sie liegen. Ein Schauer nach dem anderen überlief ihren Körper.

    Maruk baute sich über ihr auf. »Wie, war das schon alles?«, fragte er, und seine Stimme troff vor Ironie. Er wusste nicht, was genau gerade geschehen war, doch offensichtlich hatte das Amulett ihn, seinen Träger, beschützt. Die Greifin lag hilflos vor ihm, rührte noch immer keine Pfote. Stattdessen entfuhr ihr ein langer, hoher Klagelaut. Dann schlossen sich ihre Augen, und nur das schnelle Heben und Senken ihrer Flanken verriet, dass sie noch am Leben war.

    Maruk zog sich triumphierend zurück. Jetzt war er absolut sicher, dass ihn niemand würde aufhalten können. Das Amulett würde ihn beschützen und ihm helfen, über beide Welten zu herrschen. Mit dieser Gewissheit setzte er sich wieder in Bewegung und trat auf das Tor zu, das durch seine nachlassende Konzentration zu flackern begonnen hatte. Er hörte, dass seine Begleiter hinter ihm zögerten, doch nach einem Moment folgten sie ihm. Ohne sich noch einmal umzublicken, trat er in das wirbelnde Licht.

    Gleißende Sonnenstrahlen erwarteten ihn auf der anderen Seite, beinahe so hell wie die Wirbel des Tors. Er hatte nichts gespürt, als er die Schwelle zur anderen Welt überschritten hatte. Im einen Moment war er noch in Aréa gewesen, nun erstreckte sich eine fremde Landschaft vor ihm. Seine beiden Artgenossen traten an seine Seite, und hinter ihnen flackerte das Weltentor und verschwand, während Maruk den Blick schweifen ließ.

    Sie befanden sich auf einer steinernen Anhöhe, doch der Fels hatte eine andere Farbe als jenes Gestein, auf dem sie sich gerade noch befunden hatten. Er war gelblich, und als Maruk testweise die Krallen darüber zog, lösten sich sofort kleine Bröckchen davon.

    Vor ihnen lag ödes Tiefland, eine sandige Ebene, auf der nur vereinzelt karge Bäume und Büsche zu erkennen waren. In der Ferne erstreckte sich eine Bergkette über den gesamten Horizont. Diese Landschaft sah alles andere als einladend aus, doch das kümmerte Maruk nicht. Es würde fruchtbare Flecken geben, anderswo. Wer konnte schon wissen, wie groß diese Welt war?

    Mit einem Schrei des Triumphs breitete Maruk die Flügel aus und schwang sich in die Luft. Er stieg höher, um das Land gut überblicken zu können, dann schoss er über der öden Fläche dahin, trieb seine Flügel zu Höchstleistungen an und stieß immer wieder Schreie aus, die von seiner Ankunft künden sollten. Seine Begleiter vermochten kaum mit ihm mitzuhalten, doch er verlangsamte seinen Flug nicht für sie.

    »Uns gehört die Welt!«, rief der kleine Karim irgendwann; Aufregung klang in seiner Stimme mit.

    Nun nahm Maruk sich doch einen Moment Zeit, die beiden aufholen zu lassen. »Nicht die Welt«, korrigierte er den Aviden. »Beide Welten!« Sein Blick fiel auf einige Punkte am Boden der Einöde. »Seht nur, wie seltsam diese Tiere dort unten aussehen. Und die kleinen, zweibeinigen erst! Zeigen wir ihnen, wer hier ab jetzt das Sagen hat.« Er stimmte ein Kampfgeschrei an, presste die Flügel an den Körper und schoss in halsbrecherischem Tempo dem fernen Erdboden entgegen. Seine Begleiter folgten ihm, auch wenn sie stumm blieben und ihm das Recht des Kampfrufes überließen.

    Unter den dreien entstand Aufruhr. Die größeren Tiere, die einen sonderbaren Buckel auf dem Rücken hatten, stießen röhrende Angstlaute aus und ergriffen die Flucht. Auch die zweibeinigen Wesen verfielen in Hektik, drängten sich jedoch aneinander und griffen nach langen Ästen, statt ebenfalls das Weite zu suchen.

    Maruk zog seinen Artgenossen davon. Er wollte die Krallen in eines der Wesen schlagen, wollte herausfinden, wie sein Blut und sein Fleisch schmeckten. Seine Beute war jetzt bereits ganz nah. Er ließ die Schwingen aufklappen, hielt gegen den Luftwiderstand an und bremste seinen Sturzflug ab. Mit weit ausgestreckten Flügeln und noch immer beeindruckendem Tempo legte er die letzte Entfernung zum Boden zurück. Weit riss er dabei den Schnabel auf und streckte die Klauen aus, den Blick fest auf jenen der Zweibeiner gerichtet, den er als seine Beute auserkoren hatte.

    In diesem Moment schleuderte eines der Wesen seinen Ast in die Luft, ein zweites tat es ihm gleich. Ungeahnt schnell schossen die Äste heran. Ihre Spitzen waren steinern und scharf, als sie sich in sein Fleisch bohrten.

    Maruk schrie. Erst vor Schmerz und Entsetzen über die unerwartete Wendung, dann vor Wut. Er war so in Rage, dass ihm das Amulett entglitt und in die Tiefe stürzte. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie es in einem Riss in der trockenen Erde verschwand, doch vorerst galt sein ganzer Zorn den Zweibeinern. Irgendwo über ihm kreischten seine beiden Artgenossen. Gemeinsam würden sie diesen Wesen den Garaus machen.

    Einen dritten, brennenden Stich spürte er noch. Sein Sichtfeld füllte sich mit Schwärze, dann versagten seine Flügel ihm den Dienst.

    Da kommt er!« Charly boxte ihrer Freundin Sonja aufgeregt in die Seite. Mehr oder weniger unauffällig deutete sie in Richtung des Haupttors der Schule, wo soeben ein großer, dunkelhaariger Junge ins Freie getreten war. Als er sie sah, nickte er ihr lässig zu und kam in ihre Richtung.

    Sonja verdrehte die Augen und hörte kurz auf, ihre dunkelbraunen Haare einzuflechten. »Mensch, Charly, komm mal wieder runter. Was willst du von diesem Idioten?«

    »Hör auf, Marc zu beleidigen!«, erboste sie sich, bevor sie die Stimme senkte und sich vorsichtig umschaute. »Er hat dir nichts getan«, zischte sie.

    »Nein, mir nicht. Aber er wird dir etwas tun, wenn du nicht aufpasst!« Sonja verstummte, als der Junge nahe genug war, um sie zu hören. Betont desinteressiert wandte sie sich ab und widmete sich wieder ihren Haaren. Charly war das nur recht. Sollte sie doch aufhören, immer so einen Unsinn zu reden!

    Verträumt blickte sie Marc entgegen. Ihrem Marc. Dunkelbraune, gegelte Haare, grüne Augen, eine lässige, schwarze Lederjacke. Der coolste Junge der gesamten Schule, so viel stand fest.

    »Hey Charly.« Er stellte sich zu ihr und blickte sie an. Diese Augen!

    »Marc!« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. In ihrem Brustkorb flatterten tausend kleine Schmetterlinge umher.

    »Und, was machst du heute?«, säuselte Marc mit seiner rauchigen Stimme und nahm sie in die Arme. »Hast du Zeit für mich?«

    »Immer!«, rief sie eifrig aus. Dass Sonja sich im Hintergrund vielsagend räusperte, ignorierte sie. Für Geografie lernen konnten sie auch an einem anderen Tag. Marc wollte sich mit ihr treffen, das war viel wichtiger!

    »Sehr gut. Das ist meine Kleine.« Er strich ihr durchs Haar, hauchzart nur. Charly liefen Schauer über den Rücken. Sie wollte sich an ihn kuscheln, doch er schob sie von sich und zog eine Augenbraue hoch. »Oh nein. Später. Ich habe mir etwas Besonderes überlegt.«

    »Etwas Besonderes?« Aufgeregt sah sie ihn an. »Was denn? Sag schon!«

    Marc blickte sich verschwörerisch um, dann beugte er sich vor, bis seine Lippen ganz nah an ihrem linken Ohr waren. »Komm um sieben zur alten Industriehalle am Stadtrand. Wie wäre es mit einem Candlelight-Treffen der besonderen Art?« Er zeigte ihr ein umwerfendes Grinsen, dann trat er einen Schritt zurück. »Aber bis dahin muss ich noch ein paar Dinge vorbereiten. Außerdem warten meine Kumpels auf mich. Bis später, Kleine.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und schlenderte zu drei anderen Jungen, die lässig in einer Ecke des Schulhofs standen und rauchten. Charly blickte ihm verträumt hinterher. Wie unglaublich cool und selbstbewusst er doch war! Jedes Mädchen an der Schule wollte ihn – und er interessierte sich für sie, nur für sie!

    »… hallo? Hey, Erde an Charly!« Sonja musste energisch mit einer Hand vor Charlys Gesicht herumwedeln, bevor diese ihre Freundin wieder bemerkte.

    »Hm, was?«

    »Herrje, du bist wirklich ein hoffnungsloser Fall. Mach doch endlich die Augen auf, der verarscht dich nur!«

    »Was hast du nur gegen ihn?« Charly wandte sich beleidigt ab. »Nur, weil er sich für mich interessiert und nicht für dich?«

    Sonja seufzte. »Darum geht es doch überhaupt nicht. Aber er meint es nie und nimmer ernst mit dir! Für ihn bist du nur ein Spielzeug. Sobald er seinen Spaß hatte und es ihm zu langweilig wird, wird er dich wegwerfen, als wärst du Abfall!«

    »Natürlich meint er es ernst!«, erboste Charly sich. Nun drehte sie sich wieder zu ihrer Freundin um und funkelte sie an. »Wie kommst du nur auf so einen Mist? Was sagt dir, dass er nur mit mir spielt? Na? Nichts, genau. Weil er das nicht tut! Hast du ihm einmal in die Augen geschaut?« Sie hatte sich richtig in Rage geredet. Sonja versuchte etwas zu sagen, doch sie schnitt ihr sofort das Wort ab. »Nein, ich will nichts mehr hören! Eine tolle Freundin bist du. Schönen Dank auch. Lass mich einfach in Ruhe!«

    Ohne ihre Kameradin noch eines einzigen Blickes zu würdigen, fuhr Charly herum und stapfte davon. Im selben Moment ertönte die Klingel, die das Ende der Pause verkündete. Schnurstracks steuerte Charly auf das Schulgebäude zu. Den restlichen Unterricht über würde Sonja damit leben müssen, ignoriert zu werden.

    Als Charly nachmittags zu Hause ankam, hatte sie ihre Wut vergessen. Stattdessen dachte sie nur noch an Marc und das bevorstehende Treffen. Ein Candlelight-Dinner in der alten, etwas gruseligen Industriehalle am Rand der Stadt. Ein Traum!

    Die wundervollsten Fantasien geisterten ihr durch den Kopf, während sie die Treppe hinauf huschte, ihre Schultasche achtlos in eine Ecke ihres Zimmers warf und unter die Dusche hüpfte. Sie nutzte ein Shampoo mit extra fruchtiger Duftnote, anschließend föhnte sie ihre dunkelblonden Haare, bis sie ihr weich auf die Schultern fielen. Dann öffnete sie, noch im Bademantel, ihren Kleiderschrank. Suchend schob sie die Bügel mit den Klamotten hin und her. Sie musste etwas Außergewöhnliches finden, etwas, das Marc umhauen würde. Sie wollte sich für ihn besonders herausputzen – immerhin hatte er ihr ja auch ein besonderes Treffen versprochen. Konnte er vielleicht kochen? Oder hatte er ein Geschenk für sie?

    Nach langem Grübeln zog sie schließlich eine dunkelblaue Röhrenjeans und eine schwarze Bluse mit weitem Ausschnitt und silbernen Pailletten aus dem Schrank und schlüpfte hinein. Dazu zog sie schwarze Sneaker an. Prüfend stand sie vor dem Spiegel. Etwas fehlte noch. Ein Tuch vielleicht, wo der Herbst doch allmählich kühler wurde? Nein, das würde total langweilig aussehen. Eher etwas wie … ja, das war es!

    Charly huschte aus ihrem Zimmer und lauschte. Im Haus war alles ruhig, ihre Mutter arbeitete anscheinend noch. Wie sollte es auch anders sein – es zählte ja nur ihr Job. Aber immerhin würde sie so auch nicht merken, wenn einen Abend lang eines ihrer Schmuckstücke fehlte. Und irgendwie war es sogar ein gutes Gefühl, sich unerlaubt etwas von ihr auszuleihen. Eine kleine, unbemerkte Revanche für all die Male, die sie erzählte, Charly würde ihre Karriere bloß aufhalten.

    Energisch schüttelte Charly den Kopf. Sie würde sich den schönen Abend, der ihr bevorstand, nicht von solchen Gedanken kaputtmachen lassen. Vorsichtig drückte sie die Klinke zum Schlafzimmer ihrer Mutter hinunter und trat ein. Sie wusste genau, wo sie suchen musste. Der kleine Schmucksafe befand sich ganz hinten in der Ecke auf einem Regal. Sie kannte die Kombination. Eins, sechs, acht, fünf. Die Tür klackte und ließ sich anstandslos aufziehen. Zielstrebig öffnete Charly eine kleine Schublade und zog ein samtenes Säckchen heraus. Als sie den Knoten löste, fiel ihr ein kreisrundes Schmuckstück in die Hände. Es hing an einer feingliedrigen Kette und bestand aus Ebenholz, umrahmt von golden schimmerndem Metall. Keltisch anmutende Schnörkel durchzogen die dunkle Oberfläche, in der Mitte war ein Tigerauge eingelassen.

    Charly legte sich das Schmuckstück um und schloss den Haken. Kühl lag das Amulett auf ihrer Haut. Sie verschloss das Schmuckschränkchen wieder und eilte zurück in ihr Zimmer. Ja, nun war sie fertig!

    Schnell schnappte sie sich ihre Jeansjacke von der Stuhllehne, dann lief sie die Treppe hinunter. Ein Blick auf die Uhr ließ sie innerlich aufstöhnen. Es war erst kurz vor sechs. Bis zu ihrem Date mit Marc würde es noch eine ganze Stunde dauern!

    Missmutig lief sie in die Küche. Wenn sie schon warten musste, konnte sie sich ebenso gut noch einen Tee kochen. Seufzend stellte sie das Wasser an. Während der Wasserkocher leise zu zischen begann, legte sie zwei frische Salatblätter in das Terrarium der kleinen Schildkröte, die ihrer Mutter gehörte. Das arme Ding wäre ohne sie vermutlich längst verhungert.

    Anschließend summte sie eine Melodie vor sich hin, die sie am Morgen im Radio gehört hatte. Ob das das Lied von Marc und ihr werden würde?

    Als der Tee durchgezogen war, nahm sie die Tasse und setzte sich an den Küchentisch. In langsamen Schlucken trank sie das heiße Gebräu und zwang sich dabei, nicht auf die Uhr zu sehen. Plötzlich vibrierte ihr Handy in ihrer Hosentasche. Erfreut über die willkommene Ablenkung, zog Charly es hervor – verzog dann jedoch die Mundwinkel. Die Nachricht kam von Sonja. Nur widerwillig öffnete sie das Textfenster.

    Hey, es tut mir leid wegen heute. Ich mache mir doch nur Sorgen, okay? Bitte sag Bescheid, wenn du wieder zu Hause bist. Gehen wir morgen joggen?

    Mehrere Male las Charly die Nachricht, ehe sie tief durchatmete. Sonja einfach so komplett zu vergeben, dazu konnte sie sich nicht durchringen. Daher fiel ihre Antwort eher knapp aus:

    Meinetwegen. Joggen geht klar.

    Sobald sie ihren Tee ausgetrunken hatte, wagte sie es, wieder nach der Uhrzeit zu sehen. Endlich hatte sie genug Zeit totgeschlagen, um sich auf den Weg zu machen!

    Wieder begann es in ihrer Brust und ihrem Bauch zu kribbeln. Euphorie pulsierte durch ihren Körper, als sie das Haus verließ und Handy und Haustürschlüssel in ihrer kleinen Umhängetasche verstaute. Rasch holte sie ihr Fahrrad aus der Garage. Hoffentlich würden ihre Haare nach der Fahrt etwas verwegen aussehen und ihr einen cooleren Look verpassen. Voller Vorfreude schwang sie sich auf ihr Rad und fuhr los.

    Viele Leute waren nicht auf den Straßen unterwegs. Offenbar hatten an einem Freitagabend alle etwas Besseres vor. Nein, nur etwas anderes. Nichts konnte besser sein als das, was Charly bevorstand, davon war sie überzeugt. Erneut summte sie die Melodie aus dem Radio vor sich hin, während sie ins Randgebiet der Stadt radelte.

    Es dauerte nur gute zehn Minuten, bis endlich ihr Ziel in Sicht kam. Nachdenklich ließ sie ihr Rad ausrollen, dann stoppte sie. Wie sähe es denn aus, wenn sie erst umständlich ihren Drahtesel anschließen musste? Besser, sie ließ ihn hier in den Büschen stehen, dort würde ihn kaum jemand entdecken. Vorsichtig schob sie das Rad ins Grüne, dann brachte sie die letzten paar Hundert Meter zu Fuß hinter sich.

    Mit jedem Schritt wuchs ihre Aufregung. Vor ihr ragte sie auf, die alte Halle, zu der Marc sie gebeten hatte. Industriehalle Remmingen stand auf einem halb verrosteten, windschiefen Schild. Gearbeitet wurde hier schon lange nicht mehr, die angrenzenden Gebäude waren teilweise verfallen. Lediglich die große Halle schien bis auf ein paar eingeworfene Fenster noch einigermaßen intakt zu sein.

    Charly legte beide Hände an das Schiebetor und zog. Sie musste sich mit ihrem ganzen Gewicht an den Griff hängen, bis die Tür nachgab und mit einem schaurigen Quietschen zur Seite rollte. Dahinter erwartete sie Finsternis. Behutsam trat sie ein.

    Langsam tastete sie sich in die dämmrige Fabrikhalle hinein, dann zuckte sie zusammen, als das Rolltor hinter ihr mit einem Knall zufiel. Dunkelheit umgab sie, absolute Schwärze.

    Sie atmete tief durch, einmal, zweimal, um Mut zu fassen. »Marc?«, rief sie zögerlich. Ein Nachhall ihrer Stimme antwortete ihr, ansonsten blieb es still. »Marc? Bist du hier? Ich sehe nichts … wo bist du?«

    In einiger Entfernung schepperte etwas. Dieses Mal machte sie einen Satz rückwärts, bevor sie sich zusammenriss. Ihre Stimme klang etwas zittrig, doch sie zwang sich zur Kontrolle. »Bitte, das ist nicht mehr lustig. Komm raus, ja?«

    Plötzlich gingen flackernd mehrere Neonlampen an. Geblendet von der plötzlichen Helligkeit, hob Charly einen Arm vor das Gesicht. Gleichzeitig hörte sie die Stimme des Jungen.

    »Oh, ich finde es ziemlich lustig, um ehrlich zu sein. Das kleine Mädchen, das so gern cool sein möchte, aber im Dunkeln Schiss bekommt. Was meint ihr?« Gelächter erklang.

    Charly blinzelte und riskierte einen Rundumblick. Was war hier los? Wer war das bei Marc?

    Ein paar Meter entfernt stand der Gesuchte und blickte sie mit einem schwer zu deutenden Blick an. Hinter ihm standen tatsächlich drei weitere Jungen – die Mitglieder seiner kleinen Gang! Verwirrt blickte Charly zu ihnen hinüber.

    »Was soll das? Was machen die denn hier?«, fragte sie irritiert. »Ich dachte –«

    »Ich habe gesagt, dass ich etwas Besonderes mit dir vorhabe, oder nicht? Tja, dafür brauche ich nun einmal meine Jungs. Alles klar? Legt los.« Marc gab den dreien ein Handzeichen, woraufhin sie langsam auf Charly zukamen. Diese wich verwirrt ein Stück zurück, bevor sie ratlos zuließ, dass die drei sie umkreisten. Als sie jedoch an ihren Haaren und Klamotten zu zupfen begannen, machte sie sich zittrig los.

    »Marc, was ist hier los? Was hast du wirklich mit dem Besonderen gemeint?« Sie musste sich überwinden, diese Frage auszusprechen. Irgendwie hatte sich das Flattern in ihrem Inneren verändert; es war nicht mehr aufgeregt, sondern eher nervös. Wieso nur?

    »Die Klamotten gehen in Ordnung«, befand einer der drei fremden Jungen. »Eng anliegend, sexy. Da kann man nichts dran aussetzen.«

    »Der Körperbau ist ebenfalls akzeptiert«, setzte der zweite hinzu. »Schlank, aber nicht mager, Muskeln sind vorhanden, aber nicht zu viele. Die Haarlänge ist okay.«

    »Bitte was?« Charly verstand die Welt nicht mehr. »Marc!«

    Der Gerufene kümmerte sich nicht um sie, sondern blickte den letzten seiner Gangkameraden an. »Timo?«

    »Am Auftritt könnte man noch arbeiten. So verschreckt und piepsig wirkt sie wie ein Mäuschen, nicht angemessen. Aber ich denke, das ist nicht weiter wichtig.«

    »In Ordnung. Also haltet ihr sie für die Richtige?« Die drei Jungen nickten.

    »Die Richtige für was?« Nun zitterte Charlys Stimme wirklich. Der Blick, den Marc ihr zuwarf, war plötzlich ganz anders als das, was sie sonst von ihm kannte. Etwas darin jagte ihr einen Schauer über den Rücken, jedoch definitiv keinen positiven.

    »Meine liebe, kleine Charly«, hob er nun mit einer ironisch feierlichen Stimme an, »ich gratuliere dir. Du wirst ab morgen in aller Munde sein als das Mädchen, das ich hereingelegt und dann ins Bett gekriegt habe.«

    Charly erstarrte. Sie glaubte, sich verhört zu haben. »Als das Mädchen, das … was?« Mit wackligen Knien wich sie einen Schritt zurück.

    »Du hast mich schon verstanden. Sich andauernd ein neues Mädchen zu suchen, mit ihr etwas Spaß zu haben und sie dann abzuservieren, das wird einfach langweilig. Wo bleibt denn da die Herausforderung? Ich brauche etwas Neues, und du wirst da den Anfang bilden. Du solltest dich geehrt fühlen.«

    Seine Worte waren wie ein Schlag in Charlys Gesicht. Sonjas Warnung kam ihr wieder in den Sinn. Er meint es nie und nimmer ernst mit dir! Für ihn bist du nur ein Spielzeug. Sie hatte tatsächlich recht gehabt – und Charly war vollkommen blauäugig auf seine Schmeicheleien hereingefallen!

    »Nein«, wisperte sie heiser, »nein, nein! Wie konntest du?« Tränen stiegen ihr in die Augen. Wieso hatte sie nicht gemerkt, dass sie ihm die ganze Zeit über egal gewesen war? Dass er nur ein williges Opfer gesucht hatte?

    Marc reagierte nur mit einem höhnischen Lachen. »Ach komm, ist die Frage wirklich ernst gemeint? Du hast doch regelrecht darum gebettelt. Glaubst du, ich habe nicht gemerkt, wie sehr du versucht hast, zu den Coolen zu gehören? Dabei bist du Mittelstufenschülerin. Was denkst du dir nur? Und nach heute«, meinte er mit einem selbstgefälligen Grinsen, »wirst du auch keine Chance mehr haben, in der Oberstufe cool zu werden!«

    Erste Tränen flossen Charly über das Gesicht. Hätte sie doch nur auf Sonja gehört! Sie hatte nur Marcs oberflächliches Verhalten gesehen, war auf seine Täuschung hereingefallen. Nun erst erkannte sie, dass er sie vorgeführt hatte. Die Wahrheit bohrte sich in ihr Herz wie ein Messerstich.

    »Ekel!«, presste sie hervor. »Idiot! Das mache ich nicht! Ich bin nicht die Einzige hier, die nicht cool ist!« Wut mischte sich in ihre Fassungslosigkeit und ihren Schmerz, übermannte sie und brachte sie dazu, ihm kurzentschlossen vor die Füße zu spucken.

    Marcs Grinsen verschwand, stattdessen wurde sein Blick grimmig. »Kleines Biest«, zischte er.

    Mit einem Mal waren seine Freunde wieder neben Charly. Kräftige Hände griffen nach ihr. Ihre Reaktion war reiner Reflex: Bevor die Typen zugreifen konnten, duckte sie sich und fuhr gleichzeitig herum. Den Kerl direkt vor sich stieß sie vor die Brust; nach einem anderen trat sie, als er sie von hinten packen wollte. Der letzte war der, der den Namen Timo trug. Er musste erst seinen Mitstreitern ausweichen, bevor er sich auf sie stürzen konnte. Dieser kurze Augenblick reichte Charly. Sie war im Sportunterricht nicht umsonst eine der schnellsten. Mit einem Satz schoss sie vorwärts und rannte davon.

    Timo nahm die Verfolgung auf. Er war groß und schnell, doch Charly hatte den Vorteil, wendig zu sein. So entging sie ihm, als er nach ihr greifen und sie aufhalten wollte.

    Was sie nicht verhindern konnte, war, dass er sie abdrängte. Um ihm zu entgehen, musste sie nach links ausweichen und immer tiefer in die alte Industriehalle vordringen. Die Tür lag jedoch rechts!

    Marc und die anderen zwei Jungen waren nun ebenfalls hinter ihr her. Sie hatte keine Chance, ins Freie zu schlüpfen. Angst presste ihr den Brustkorb zusammen und gab ihr das Gefühl, keinen Meter weiter rennen zu können. Dennoch gab sie nicht auf. Es musste einen Weg geben! Schlimm genug, dass Marc sie so gedemütigt hatte – er durfte nicht gewinnen! Hektisch blickte sie sich um.

    Da! Am hinteren Ende der Halle entdeckte sie eine schmale Leiter, die mit einem von der Decke hängenden Gerüst verbunden war. Es war wie ein zweites Stockwerk – vielleicht war das ihre Chance! Charly sammelte ihre Kräfte, beschleunigte noch einmal und schlug einen Haken, um Abstand zu ihren Verfolgern zu gewinnen. Sie brauchte Zeit, um die Sprossen zu erklimmen!

    Als sie die Leiter erreichte, sprang sie mit einem Satz ein Stück hinauf, bevor sie zu klettern begann. Die weiße Farbe blätterte bereits ab, darunter kamen Rost und scharfkantige Bruchstellen hervor. Die dünnen Sprossen fühlten sich wenig vertrauenerweckend an, doch eine andere Wahl blieb ihr nicht. Sie schnaubte angestrengt, während sie sich auf die Plattform hievte. Sie konnte hören, dass einer der Jungen ihr dicht auf den Fersen war.

    Endlich kroch sie vollends auf die Metallgitterplatten, die diese erhöhte Ebene bildeten. Zum Durchatmen blieb jedoch keine Zeit. Sie rappelte sich auf und rannte einen Gitterweg entlang, der links und rechts von altersschwachen Geländern begrenzt wurde.

    »Bleib stehen, du kleines Biest!«, brüllte Marc wutentbrannt, doch seine Stimme kam von unten. Der Kerl hinter ihr musste also einer seiner Schatten sein.

    Abrupt kam Charly zum Stehen: Vor ihr weitete der Gitterweg sich zu einer zweiten, kleineren Plattform aus, doch dahinter war – nichts! Die Ebene endete hier!

    Entsetzt fuhr sie herum und wich zurück, während sie beobachtete, wie ihr Verfolger, Timo, abbremste. Ihm war genauso klar wie ihr, dass sie in der Falle saß. Gemächlich und mit einem triumphierenden Grinsen stapfte er auf sie zu. »Hab ich dich!«, sagte er. Charly blieb zitternd stehen, als sie das Geländer im Rücken spürte.

    Und dann ging alles ganz schnell. Ein Ächzen erklang, dann gab es einen Ruck. Schlagartig sackte die Plattform ein Stück ab und neigte sich dem Untergrund entgegen. Dem Jungen blieb gerade noch Zeit, sich auf ein stabiles Gitter zu retten, ehe das gesamte Gebilde in die Vertikale rutschte. Die ehemals ebenen Gitterplatten wiesen nun in Richtung Hallenboden.

    Der erste Ruck hatte Charly bereits aus dem Gleichgewicht gebracht; der zweite schleuderte sie gegen das Geländer, das nun den Untergrund bildete. Einen Moment lang hing sie dort, rappelte sich auf und suchte verzweifelt nach festem Halt. Dann gaben die beiden dünnen, rostigen Metallstangen nach und sie fiel.

    Ein Schrei entrang sich ihrer Kehle, Adrenalin pulsierte in gefühlter Überdosis durch ihre Adern. Während sie schrie, schien die Luft um sie herum zu erzittern und zu vibrieren. Ihr war, als würde sie in eine Welt aus Grün und Gelb fallen, die sie verschluckte und ihr die Sicht nahm.

    Sie spürte keinen Aufprall, als sie in die Schwärze der Bewusstlosigkeit glitt.

    Wie viel Zeit war vergangen, seit Charly in Richtung Hallenboden gestürzt war? Wieso war es so leise, und weshalb meinte sie, einen leichten Wind zu spüren?

    Zäh wie Kaugummi bewegten die Gedankenfetzen sich in ihrem Kopf. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sinnvolle Zusammenhänge bildeten und nach und nach ihre Erinnerungen zurückbrachten. Dennoch konnte sie nicht begreifen, was los war. Sie war aus mehreren Metern Höhe gestürzt. Der Hallenboden bestand aus Beton. Wieso also verspürte sie keine Schmerzen? Und wieso lag sie weich auf dem Bauch, statt den kalten, harten Boden im Rücken zu spüren?

    Sie versuchte die Augen zu öffnen und stöhnte, als grelles Licht sie blendete. Der Laut klang geradezu animalisch. Tief atmete sie durch, während ihr Lichtpunkte vor den geschlossenen Augen tanzten. Dabei meinte sie genau zu spüren, wie die Luft um sie herum angesogen und wieder fortgepustet wurde. Die ganze Situation wirkte vollkommen diffus. Ob sie im Koma lag? Oder Marc ihr etwas verabreicht hatte, um sie noch mehr zu demütigen?

    Marc. Er musste in der Nähe sein. Charly durfte nicht länger liegen bleiben, sie musste hier weg – egal, um welchen Preis. Erneut öffnete sie die Augen und zwang sich diesmal, zu blinzeln, bis sie etwas erkennen konnte. Nach und nach wurden aus den verschwommenen Schemen deutlichere Konturen, dann schließlich scharfe Bilder. Sie sah überall Gras, in der Ferne ein paar Büsche und kleine Bäume, dahinter den Horizont. Wie konnte das sein?

    Vorsichtig wollte sie sich auf ihre Arme stützen, um den Kopf besser drehen zu können. Hierzu musste sie die Ellenbogen vorschieben.

    Schockiert zuckte sie zurück. Sie hatte erwartet, ihre Hände zu sehen, stattdessen entdeckte sie krallenbewehrte Gliedmaßen in gräulichem Gelb. Sie sahen aus wie monströse Vogelkrallen – und sie hörten genau in dem Moment auf, sich zu bewegen, als Charly erstarrte.

    Zögerlich und unendlich langsam hob sie den Kopf, um sich die dazugehörigen, mit schuppenartiger Haut bedeckten Beine anzusehen, die auf halber Höhe mit Federn bewachsen waren. Federn? Tatsächlich! Sie hatte auf rotbraunem Gefieder gelegen. Aber von was für einem Vogel mochten die stammen, und wo kamen diese riesigen Beine her?

    Sie ließ ihren Blick weiter wandern. Was sie sah, traf sie wie ein Schlag. Die Beine gehörten zu ihr! Sie waren mit dem verbunden, was ein gefiederter Brustkorb sein musste. Aber das war doch nicht sie! Ihr Kopf fuhr herum. Ihr Körper war eindeutig nicht menschlich. Das Gefieder ging zu Beginn des Rückens in bräunlich schimmerndes Fell über. Sie hatte noch ein zweites Paar Beine, das aussah, als gehöre es einem Löwen. Reglos lag ihr Schwanz im Gras, an dessen Außenseiten je eine angelegte Federreihe zu wachsen schien.

    Was sie am meisten schockierte, waren die gewaltigen, ebenfalls rotbraun gefiederten Flügel, die auf Höhe ihrer Schulterblätter aus dem Rücken ihres fremden Körpers wuchsen und ausgestreckt auf dem Boden lagen.

    Schlagartig war Charly wach. Ihr Kopf fuhr mehrere Male herum. Überstarke Luftströme peitschten dabei auf sie ein. Sie schielte auf ihre Nase. Nein, nicht Nase – Schnauze! Sie entdeckte auch lange Schnurrhaare, die bei jeder Bewegung bebten.

    Das konnte alles nicht wahr sein! Nein, das war nicht sie! Sie musste wirklich im Koma liegen, Wahnträume haben, herumfantasieren … oder hatte sie womöglich alles nur geträumt? Vielleicht hatte sie etwas Verdorbenes gegessen, wie damals, als ihre Mutter gemeint hatte, Hähnchen sei auch nach zwei Wochen noch gesund, und Charly mit einer Lebensmittelvergiftung im Krankenhaus gelandet war? Aber warum wachte sie dann nicht endlich auf, zurück in ihrem richtigen, menschlichen Körper?

    Verzweiflung und Panik schlugen über ihr zusammen. Entsetzt legte sie den Kopf in den Nacken und schrie ihre Angst heraus. Der Laut, der aus ihrem Mund – nein, Maul! – kam, erschreckte sie nur noch mehr, sodass ihre animalisch anmutende Stimme einige Tonlagen in die Höhe schnellte. Doch auch das konnte sie nicht dazu bewegen, ihren Schrei verebben zu lassen. Die Furcht hatte sie viel zu fest im Griff.

    Sie schrie, bis ihr die Luft ausging, dann atmete sie tief und hektisch ein, nur um sofort von Neuem ihre Angst in den Himmel zu brüllen. War das eine Panikattacke? Oder fühlte es sich womöglich so an, im Koma zu liegen, während der Körper langsam starb? War sie unter Drogen gesetzt worden?

    Zeit hatte längst an Bedeutung verloren, als etwas das lautstarke Vibrieren ihrer fremden Stimme durchdrang. Das neue Geräusch kam Charly entfernt vertraut vor, sodass sie nach einem Augenblick verstummte und den Kopf senkte. Ihr Blick wanderte umher und traf den eines anderen. Erschrocken zuckte sie zurück: Nur wenige Meter entfernt stand ein Wesen, das aussah wie sie!

    Auf den zweiten Blick wurden doch einige Unterschiede erkennbar. Das fremde Wesen hatte keine Tasthaare an der Schnauze. Sein Kopf sah einem Wolf sehr ähnlich, und die Hinterpfoten schienen ebenfalls eher diesem Tier als einer Raubkatze zugehörig. Seine Schwingen waren angelegt. Das gesamte Wesen war grau, wobei das Gefieder deutlich dunkler war als das Fell.

    Charly zog den Kopf ein, bohrte ihre fremden Vorderklauen in den Boden und bemühte sich, sich damit rückwärts von dem Wesen weg zu schieben. Dieses betrachtete sie aus verengten Augen.

    »Na geht doch. Man hat ja sein eigenes Wort nicht mehr verstanden. Also, was hast du?«

    Geschockt riss Charly die Augen auf. Das Wesen hatte das Maul bewegt, wie Menschen es mit ihren Mündern taten – und sie hatte Worte gehört, ausgesprochen von einer eindeutig männlichen Stimme!

    »Du … kannst sprechen!«, krächzte sie heiser, dann verstummte sie, als sie feststellte, dass sie selbst es ebenfalls noch konnte, auch in diesem so fremden Körper.

    Der Wolfsartige senkte den Kopf und kam ein paar Schritte näher. Jede seiner Bewegungen drückte Wachsamkeit aus. »Natürlich kann ich sprechen«, brummte er. »Was ist denn mit dir geschehen, hast du dir das flauschige Köpfchen angeschlagen?«

    Einen Moment musste Charly darum kämpfen, nicht einfach die Augen zusammenzukneifen in der Hoffnung, es sei alles nur ein Traum und sie würde dadurch aufwachen. »Was bist du?«, fragte sie schließlich mit dünner Stimme.

    Ihr Gegenüber hob den Kopf, bis er aus größtmöglicher Höhe auf sie herabblicken konnte. Sein Blick wurde hart, er legte die Ohren an. Als er antwortete, schwang ein deutliches Knurren in seiner Stimme mit. »Hör mal, ich weiß nicht, ob ihr Feliden eine andere Art von Humor habt, aber ich finde das nicht lustig. Bist du nun in Not oder nicht?«

    Charly zuckte bei der Feindseligkeit in seinen Worten zurück. »Ich will doch nur nach Hause!«, wimmerte sie.

    Der Wolfsartige schien dadurch nur noch mehr in Rage zu geraten. »Nach Hause?«, blaffte er. »Jetzt sperr mal deine Ohren auf: Ich habe keine Lust, einer dahergelaufenen Mieze zuzuhören, nur weil sie nicht in der Lage ist, den richtigen Weg zu finden!«

    Er stampfte mit einem seiner krallenbewehrten Vorderläufe auf, woraufhin Charly endgültig die Fassung verlor. Voller Angst bewegte sie die Beine, kroch rückwärts, so schnell es ging. Bloß Abstand von diesem grausigen Wesen gewinnen!

    Der Fremde schien etwas sagen zu wollen, dann verfinsterte sein Blick sich schlagartig noch mehr. Im nächsten Moment sprang er ohne Vorwarnung auf sie zu. Entsetzt wollte Charly ausweichen, als sie spürte, wie der Boden unter ihren Hinterbeinen nachgab. Ein Erdbrocken brach unter ihr weg – und dahinter war nichts mehr. Ihre fremden, ungewohnten Hinterpfoten traten ins Leere, ihre sonderbaren Vorderklauen bohrten sich vergeblich in den lockeren Boden. Hilflos rutschte sie rückwärts.

    Und dann packte der Wolfsartige sie. Seine Fänge umschlossen fest das Gefieder und die Haut in ihrem Genick, seine Klauen gruben sich in den Boden. Charly erstarrte vor Furcht, doch er knurrte nur unterdrückt und zerrte an ihr. Stück für Stück wurde sie zurück über die Kante gezogen, auf sicheren Boden. Doch der Fremde schleifte sie weiter, bis sie ein gutes Stück von der Kante entfernt lag. Erst dann ließ er sie los und stand keuchend über ihr.

    Mehrere Sekunden verharrte er so, dann schnaubte er wütend. »Kannst du nicht auf dich aufpassen?«, fuhr er sie an. »Fast wärst du in die Schlucht gestürzt! Ihr Feliden habt doch angeblich so einen guten Gleichgewichtssinn. Aber einen so leichtsinnigen, lebensunfähigen Greifen habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen!«

    Charlys Blick schoss wie von selbst in die Höhe, um seinem zu begegnen. Die Angst hielt sie weiterhin fest im Griff, doch das Gehörte drang trotzdem tief in ihr Bewusstsein ein. »Gr…Greif?«, hakte sie fassungslos nach.

    »Bei allen fernen Bergen, was stimmt nicht mit dir?« Ihr Gegenüber stutzte, dann beugte er sich wachsam zu ihr herunter. Angespannt und starr blieb sie liegen, den Kopf fest auf den Boden gedrückt, als er mit seiner Schnauze in ihrem Gefieder zu wühlen begann und sie am Hals anstieß. »Steh auf«, befahl er knapp und ging einen Schritt zurück, um ihr Platz zu machen. »Los, mach schon!«

    Zittrig folgte sie seiner Aufforderung. Sie ordnete ihre Beine, ehe sie sich hochzudrücken versuchte. Das Ergebnis war, dass sie sofort vornüberfiel und unsanft aufschlug. Ihre Schnurrhaare sandten Protestwellen durch ihren Körper. Unter dem harten, unnachgiebigen Blick ihres Retters, wie man ihn wohl nennen musste, versuchte sie es gleich noch einmal. Dieses Mal stützte sie zuerst die Vorderläufe auf, dann drückte sie sich mit den Hinterbeinen in die Höhe. Diese Variante funktionierte tatsächlich. Es gelang ihr, schwankend stehen zu bleiben.

    Sofort war der Fremde bei ihr. Den Kopf erneut tief gesenkt, starrte er auf ihre Brust. Langsam beugte er sich vor, stieß etwas mit der Schnauze an. Charly versuchte zu erkennen, was er dort tat. Sie entdeckte einen runden Gegenstand, der ihr vor der Brust hing, ja, wie festgeklebt schien. Selbst, als sie einen unsicheren Schritt zurück machte, um besser sehen zu können, verrutschte er kein Stück.

    »Woher hast du das?«, grollte der Wolfsartige dunkel, ohne den Blick von dem Anhänger zu lassen. Charly erkannte diesen schlagartig wieder. Es war das Amulett, das sie ihrer Mutter stibitzt hatte!

    »Ich … ich habe es …«, setzte sie stotternd an und brach dann ab. Wie sollte sie das erklären? Sie wusste ja nicht einmal, wo sie hier war.

    Der Fremde schien nicht viel Geduld zu haben. »Wo du das herhast!«, verlangte er gereizt zu wissen. Sie zuckte zurück, stolperte und landete unsanft auf dem Hinterteil. Dabei stieß sie ein verschrecktes Fiepen aus, doch ihr Gegenüber schüttelte nur knurrend den Kopf. »Du bist wirklich eine harte Nuss. Jetzt red schon!«

    »Ich … es stammt von meiner Mutter«, flüsterte Charly verunsichert. »Bitte, ich weiß doch nicht einmal, wo ich hier bin oder was passiert ist … ich will nur zurück nach Hause!«

    »Und woher stammst du?«, fragte der Wolfsartige augenrollend.

    »Aus Remmingen.«

    »Bitte woher?«

    »Remmingen«, wiederholte Charly verzweifelt. »Ich bin kein … Greif oder wie du mich genannt hast. Das hier ist alles falsch! Ich war in

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