Hilfe, ich bin deutsch
Von Mel DeCiel
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Über dieses E-Book
Suche nach Identität in einer Gesellschaft, die zerrissen zwischen spießiger Bürgerlichkeit, repressiver Staatsräson und dem Streben nach Freiheit eher einem Schlachtfeld als einer Heimat gleicht.
Das Buch schildert die Suche nach Orientierung aus dem Blickwinkel eines Kindes, das in einem Land aufwächst, dessen Traditionen und Werte kaum als Leitschnur taugen, sondern Abscheu und Widerstand hervorrufen.
Im vorliegenden Buch nimmt der junge Ich-Erzähler die Lesenden mit in eine gesellschaftliche und persönlich Wirklichkeit, in der das Selbstverständnis deutscher Identität unsicher erscheint und von der Rivalität unterschiedlicher Weltanschauungen und Werthaltungen bestimmt wird.
Der scharfe kindliche Blick durchschaut die zahlreichen Lügen und unglaubwürdigen Konstrukte auf allen Seiten und ist auf der Suche, nach einer Vorstellung, einem Ideal, das trägt.
In all den gesellschaftlichen Zerwürfnissen des deutschen Herbst erlebt der Protagonist gleichzeitig das Zerbrechen seiner Familie, in welcher die Zerrissenheit deutscher Realität sich gnadenlos widerspiegelt.
Mel DeCiel
Mel DeCiel lebt, schreibt, zeichnet, macht Radio, komponiert Musik und Krach in Freiburg im Breisgau. Mels Kunst beschäftigt sich häufig mit Fragen des persönlichen Auf- und Ausbruchs, mit Kämpfen um die persönliche und kollektive Freiheit und um das Bemühen um Emanzipation von Zuschreibungen und Zwängen. Im bürgerlichen Teil des Lebens arbeitet Mel DeCiel als promovierte Fachkraft in einer Kinder- und Jugendpsychiatrischen Praxis.
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Buchvorschau
Hilfe, ich bin deutsch - Mel DeCiel
Eine bundesdeutsche Kindheit: Aufwachsen in einem Land, dessen jüngere Geschichte für Faschismus, Rassenwahn, Bücherverbrennungen und Völkermord steht.
Suche nach Identität in einer Gesellschaft, die zerrissen zwischen spießiger Bürgerlichkeit, repressiver Staatsräson und dem Streben nach Freiheit eher einem Schlachtfeld als einer Heimat gleicht.
Das Buch schildert die Suche nach Orientierung aus dem Blickwinkel eines Kindes, das in einem Land aufwächst, dessen Traditionen und Werte kaum als Leitschnur taugen, sondern Abscheu und Widerstand hervorrufen.
Im vorliegenden Buch nimmt der junge Ich-Erzähler die Lesenden mit in eine gesellschaftliche und persönlich Wirklichkeit, in der das Selbstverständnis deutscher Identität unsicher erscheint und von der Rivalität unterschiedlicher Weltanschauungen und Werthaltungen bestimmt wird.
Der scharfe kindliche Blick durchschaut die zahlreichen Lügen und unglaubwürdigen Konstrukte auf allen Seiten und ist auf der Suche, nach einer Vorstellung, einem Ideal, das trägt.
In all den gesellschaftlichen Zerwürfnissen des deutschen Herbst erlebt der Protagonist gleichzeitig das Zerbrechen seiner Familie, in welcher die Zerrissenheit deutscher Realität sich gnadenlos widerspiegelt.
Umschlagentwurf und Illustrationen: Mel DeCiel
Mel DeCiel lebt, schreibt, zeichnet, macht Radio, komponiert Musik und Krach in Freiburg im Breisgau. Mels Kunst beschäftigt sich häufig mit Fragen des persönlichen Auf- und Ausbruchs, mit Kämpfen um die persönliche und kollektive Freiheit und um das Bemühen um Emanzipation von Zuschreibungen und Zwängen.
Im bürgerlichen Teil des Lebens arbeitet Mel DeCiel als promovierte Fachkraft in einer Kinder- und Jugendpsychiatrischen Praxis.
Deutschland, das sind wir selber (Heinrich Heine)
Samstag: Auf dem Tagesprogramm steht, wie fast an allen Wochenenden, ein Besuch bei den Großeltern. Bereits beim Reinstürmen in die kleine Wohnung im 4. Stock des heruntergekommenen Siedlungsblocks mit hässlichem braunem Anstrich empfangen mich verführerische Gerüche, es gibt irgendwas mit Fisch. Ich lasse Großmutters Pias feuchte Küsse über mich ergehen, bevor ich zu Großvater Jean eile, der in einer dicken Zigarrenwolke auf dem Sofa lümmelt. Die immer gleichen Ermahnungen, mich anständig zu verhalten, erreichen mich nur von ferne, dann sind die Eltern in ihren freien Samstagnachmittag verschwunden. Sie kaufen Sachen ein, was eine der langweiligsten Beschäftigungen darstellt, die sich Erwachsene ausgedacht haben. Gut, wenn sie es alleine tun, sie können mir so faszinierende Dinge wie eine neue Schlafanzughose ja mitbringen.
Während die Tür ins Schloss fällt, bin ich schon beim Kitzeln mit Opa Jean. Bis es aus der Küche zu Tisch ruft, habe ich einen roten Kopf vor lauter Lachen und Strampeln. Dampfende Fischsuppe wartet in etwas altmodischen Tellern auf uns. Sie schmeckt ungewohnt, aber wie immer bei Oma auf eine schwer beschreibbare Weise lecker.
Durch den wabernden Dampfschwaden meines Suppentellers fällt mein Blick auf das Plakat an der grün gestreiften Wand gegenüber. Ein kräftiger Mann bearbeitet mit einem Hammer ein Werkstück auf einem Amboss. Er wirkt sehr entschlossen, seine Gesichtszüge sind fest, beinahe hart, sein Blick ist konzentriert auf das Metall gerichtet. Seine angespannten Muskeln, sein fester Stand, seine ganze Haltung drücken Kraft, Stärke und Unbeugsamkeit aus. Ich kenne das Plakat schon lange, seit ich denken kann hing es in der Küche der Großeltern. Irgendwas steht in großen, dunkelroten Lettern auf Französisch drunter. Ich habe nie gefragt, was es bedeutet, denn ich habe mir meine eigene Geschichte zu dem Bild ausgedacht, da brauche ich den offiziellen Text nicht.
Endlich Nachtisch! Ich löffle noch meinen zweiten Pudding, während Großvater Jean sich die Verdauungszigarre anzündet und zum Plattenspieler geht. Nach dem Essen legt Opa gerne Musik auf, heute beginnt es mit einem Lied das La Revolte heißt. Die Männer auf der Platte singen französisch, wie oft bei Großvaters Platten. Ich verstehe leider nichts bis auf ein paar Worte, die immer wieder vorkommen: revolte, liberté, lutte. Auf dem Plattencover ist ein Bild, das einen Mann mit roter Fahne und nacktem Oberkörper zeigt, der über am Boden liegende, altmodisch gekleidete Soldaten hinwegstürmt. Opa Jean hat mir erklärt, es sei ein Bild aus der Zeit der Pariser Kommune, als sich die Arbeiter gegen die Herrschenden erhoben haben. Kommune, die Franzosen und Opa sagen dazu lieber Kommün, bedeutet, dass alles allen zusammen gehört und alle auch alles zusammen erledigen – also gemeinsam. Dieser Aufstand in Paris, bei dem die Menschen dafür sorgen wollten, dass allen alles gemeinsam gehört, fand nach einem Krieg zwischen Deutschland und Frankreich statt, irgendwann vor über 100 Jahren. Die beiden Länder haben häufig Krieg geführt, während des letzten, der bei den Erwachsenen meist nur der Krieg heißt, ist Opa Jean nach Deutschland gekommen.
Zu dem Krieg gehören oft zwei weitere Begriffe, die in vielen Gesprächen der Erwachsenen auftauchen und ebenfalls meist mit einem Artikel davor genannt werden: die Nazis und der Hitler. Wenn diese drei bedeutungsschwangeren Begriffe fallen, entsteht nach meinen Empfindungen fast immer eine bedrohliche und negative Schwingungen, irgendetwas Angst erzeugendes liegt in der Luft.
Bei Krieg ist das eigentlich ziemlich logisch, schließlich sterben dabei tausende Menschen oder werden verstümmelt, das kann keine gute Sache sein. Wobei sich die Erwachsenen trotzdem nicht so ganz eindeutig festlegen – nicht alle Kriege scheinen falsch: Wenn zum Beispiel für die Freiheit oder eine gerechte Sache gekämpft wird, dann kann das dennoch in Ordnung gehen. Der Krieg, den der Hitler und die Nazis begonnen hatten, war in jedem Fall schlecht, denn er diente nicht der Freiheit, sondern der Unterdrückung. Derselbe Krieg, den die Franzosen zusammen mit den Amerikanern und weiteren Verbündeten gegen die Nazis geführt haben, war aber aus ihrer Sicht ein guter Krieg, denn er stellte die Freiheit wieder her.
Es ist also selten etwas eindeutig, es ist immer davon abhängig, wie es den Leuten gerade in den Kram passt. Jedenfalls ist Opa Jean mit der französischen Armee nach Deutschland gekommen, um die Nazis zu besiegen und hat dann Oma Pia kennengelernt. Aus Liebe zu ihr ist er nach Ende seiner Armeezeit hier in Karlsruhe geblieben und die beiden haben meine Mama bekommen.
Großvater hat die Platte gewechselt und singt in seiner Qualmwolke lauthals mit. Es ist ein französisches Arbeiterlied, der Refrain klingt richtig klasse, nur leider verstehe ich mal wieder nichts. Ein paar Teile des Textes kann ich inzwischen dennoch auswendig, denn Mama spielt das Lied manchmal auch auf der Gitarre – Mama singt schöner als Großvater.
In vielen Liedern in Opas Plattensammlung geht es um die Revolution und den Kampf der Arbeiter gegen die Kapitalisten und Faschisten. Zum Abschluss darf ich eine Platte auswählen. Ich krame in dem Stapel und finde schließlich die mit den Edelweißpiraten. Die Musik ist ziemlich traurig, aber auch sehr schön und hat ein tolles Plattencover, das die Piraten am Lagerfeuer sitzend, Gitarre spielend und singend zeigt.
„Wer waren denn die Edelweißpiraten?", erkundige ich mich bei Opa, als das Lied zu Ende ist.
„Edelweißpiraten? Gar nicht so einfach zu erklären. Es waren verschiedene Jugendgruppen, die gerne in der Natur waren und sogenannte Fahrten unternahmen. Ein wenig wie die Pfadfinder heute, aber doch anders. In jedem Fall waren es junge Leute, die keine Lust hatten, bei der Hitlerjugend mitzumachen und sich mit den Angehörigen der Nazi-Organisationen prügelten."
„Hitlerjugend?"
„Die Nazis wollten schon die Kinder und Jugendlichen darauf trainieren, später Soldat zu werden und im Krieg zu sterben. Daher haben sie die Jungs in die Hitlerjugend gesteckt. Dort mussten die Tag und Nacht marschieren, strammstehen, Befehle brüllen und so weiter – solange bis deren Gehirn ausgeschaltet war, wie bei jedem guten Faschisten."
„Puh – darauf hätte ich auch keine Lust gehabt. Ich wäre auch zu den Piraten gegangen!", behaupte ich.
„Das war gar nicht so einfach. Wer nicht bei der Hitlerjugend mitmachte, bekam eine Menge Probleme. Wer richtig gegen die Nazis aufmuckte, konnte auch als Jugendlicher leicht ins Lager kommen oder noch Schlimmeres. Viele der Edelweisspiraten haben die Nazizeit nicht überlebt", stellte Opa Jean mit trockener Stimme fest und zog heftig an seiner Zigarre, wohl um den unangenehmen Gedanken im Rauch zu ersticken.
Uff – da war es wieder! Die Deutschen haben eine ganz schlimme Geschichte. Überall herrscht Unterdrückung und Schrecken und wer nicht mitmacht, wird in ein Lager gesteckt oder umgebracht. Irgendwie macht mir die Platte jetzt keinen Spaß mehr.
Nach der Musik schauen wir fern, denn meine Großeltern haben im Gegensatz zu meinen Eltern eine Glotzkiste. Mama findet Fernsehen reaktionär!
Reaktionär bedeutet, soweit ich es verstanden habe, irgendwie das Gegenteil von fortschrittlich und freiheitlich. Vereinfacht kann man auch sagen, dass Dinge, die Mama nicht passen, im Allgemeinen reaktionär sind.
Beim Fernsehen scheint das Problem zu sein, dass die Regierung darüber ihre Lügen verbreitet und das Volk verdummt. Mama sagt, die Nazis haben dafür früher das Radio benutzt, heute ist das Fernsehen natürlich moderner und viel effektiver. Ich schaue trotzdem gerne fern und freue mich, wenn wir samstags die reaktionäre Kiste anmachen.
Opa ist heute ebenfalls nicht einverstanden, was das Fernsehen so in die Wohnzimmer der Deutschen sendet. Wir sind noch etwas zu früh dran für das Kinderprogramm und es laufen davor noch irgendwelche Wochen-Nachrichten. Es dauert nicht lange, bis Opa sich über die Meldungen aufregt und auf die Kapitalisten und die Regierung schimpft. Ich verstehe nicht genau, was ihm nicht passt, ist aber auch egal. Die Nachrichten sind gleich darauf zu Ende und nach dem Wetter beginnt endlich das Kinderprogramm, allerdings mit der Rappelkiste. Das ist eine blöde Sendung, denn jeder merkt, es soll für Kinder gemacht sein und alles wird so erklärt, als ob wir nicht auf drei zählen könnten. Erwachsene müssen Kinder für ganz schön doof halten. Ich freue mich auf die Sendung danach, die Kleinen Strolche, denn sie verüben lustige Streiche und es gibt einen tollen Hund namens Sparky. Ich hätte auch sehr gerne einen Hund, ich würde nahezu alles dafür tun. Am liebsten wäre mir so ein toller wie Sparky, aber meine Eltern sind strikt dagegen. Sie haben keine Zeit und trauen mir nicht zu, dass ich mich ausreichend darum kümmere.
Mein Großvater ist inzwischen auf dem Sofa eingenickt und schnarcht laut vor sich hin. Großmutter klappert in der Küche, bald gibt es Apfelkuchen, der leckere Duft von Apfelaromen und gerösteten Mandeln zieht schon durch die Wohnung.
Abends holen mich meine Eltern ab. Ich klettere auf die Rücksitzbank und schiebe einige Tüten mit Einkaufsbeute beiseite, um mir meinen Stammplatz in der Mitte freizuräumen und meinen Kopf zwischen den Vordersitzen durchzustecken. Wir wollen losfahren, aber der Wagen springt nicht an, Papa flucht und schlägt ärgerlich auf das Lenkrad. Wir haben einen alten verbeulten Renault R4, der häufig zickt und eigentlich jede Woche neuen Ärger macht. Meine Eltern wollen sich, sobald sie Geld haben, einen neuen Wagen kaufen. Mir würde ja der BMW unserer Nachbarn gefallen, er hat tolle Lampen, vier Stück vorne, das sieht richtig schnell aus. Aber wir werden keinen BMW bekommen: Meine Eltern haben nicht genug Geld und außerdem ist dies nach Mamas Ansicht eine Angeberkarre.
Endlich springt unsere Rostlaube an und wir fahren los. Sehr weit kommen wir nicht, denn wir laufen nach wenigen Ampeln auf eine Autoschlange auf. Papa steckt den Kopf aus dem Seitenfenster, um zu sehen, was los.
„Schon wieder so eine Straßensperre, verdammte Bullen!", schimpft er.
„Was wollen die jetzt schon wieder? Stehen die Büttel dieses verdammten Polizeistaats inzwischen an jeder Straßenecke? Haben die gar nichts anderes mehr zu tun?" Die Stimme meiner Mutter klingt aufgeregt, hektisch kramt sie nach ihren Ausweispapieren.
Vor ein paar Tagen haben Terroristen in der Stadt einen Ober-Staatsanwalt umgebracht. Staatsanwälte sorgen dafür, dass die Menschen, die nicht so funktionieren, wie die Regierung oder die Kapitalisten es wollen, im Gefängnis gebessert werden. Daher vertreten Staatsanwälte nicht die Interessen der Bürger, sondern des Staates, weshalb sie wahrscheinlich auch so heißen.
Wer die Terroristen genau sind und was sie vorhaben, habe ich noch nicht wirklich verstanden. Ihre Gesichter hängen auf hunderten von Plakaten überall in der Stadt, darauf sehen sie ziemlich fies aus und ich habe Angst vor ihnen. Ob sie wirklich so schlimm sind, ist nicht sicher, denn die Fahndungsplakate stammen von der Polizei. Die Terroristen heißen auch RAF, was das bedeutet, habe ich noch nicht herausbekommen, aber viele Menschen auf der Straße sprechen davon und in den Zeitungen prangen die 3 großen Buchstaben sehr häufig auf der Titelseite. Die RAF hat ein Logo mit einem Stern und einem Maschinengewehr, das oft im Fernsehen gezeigt wird und ziemlich gefährlich aussieht. Es ist enorm schwierig für mich, zu kapieren, um was es dabei eigentlich geht. Auf jeden Fall führen die Polizisten und die RAF gegeneinander Krieg. Wegen