Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch: Die politische Verantwortung eines Konzernherrn 1908 - 1942
Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch: Die politische Verantwortung eines Konzernherrn 1908 - 1942
Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch: Die politische Verantwortung eines Konzernherrn 1908 - 1942
eBook1.477 Seiten17 Stunden

Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch: Die politische Verantwortung eines Konzernherrn 1908 - 1942

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Die politische Verantwortung des Konzernherrn der GHH in Oberhausen: Paul Reusch in der Zeit von 1908-1942

Das E-Book Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch wird angeboten von Karl Maria Laufen Buchhandlung und Verlag und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Ruhrgebiet, Wirtschaftspolitik, GHH, Regionalgeschichte, Industriegeschichte
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum24. Juni 2019
ISBN9783874683913
Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch: Die politische Verantwortung eines Konzernherrn 1908 - 1942

Ähnlich wie Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch

Ähnliche E-Books

Biografien – Geschichte für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch - Peter Langer

    1942.

    „Ich habe mir, solange ich im wirtschaftlichen Leben stehe, stets die größte Mühe gegeben, der Sozialdemokratie und den sozialdemokratischen Gewerkschaften das Wasser abzugraben." (Paul Reusch am 22. 12. 1913)

    1.Der neue Vorstandsvorsitzende der GHH im Kaiserreich

    Gemessen an der Zahl der Beschäftigten (21.657) behauptete die Gutehoffnungshütte (GHH) 1907 ihren dritten Platz unter den Firmen der Schwerindustrie an der Ruhr, weit hinter dem Marktführer Krupp (64.354) und knapp hinter der Gelsenkirchener Bergwerks-AG (31.252), aber noch vor Thyssens Gewerkschaft Deutscher Kaiser im benachbarten Hamborn.¹ Aus dieser Position der Firma ergab sich aber nicht zwangsläufig ein gleichrangiger persönlicher Einfluss des neuen Vorstandsvorsitzenden der GHH. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gaben im Kreis der Ruhr-Barone neben der überragenden Figur des Hugo Stinnes Emil Kirdorf, August Thyssen und der neue Krupp-Direktor Hugenberg den Ton an, sowohl wirtschaftlich und verbandspolitisch als auch hinsichtlich des direkten politischen Einflusses auf staatliche Institutionen.² Es war für den neuen, noch sehr jungen Generaldirektor der GHH gewiss nicht leicht, gegenüber diesen machtbewussten Gestalten die Stellung zu behaupten bzw. sich überhaupt erst eine unabhängige Machtposition zu erkämpfen. Wenn er für sein Unternehmen und für die Stadt Oberhausen einen „Platz an der Sonne" reklamierte, so war dies nicht nur eine rhetorische Verbeugung vor Kaiser Wilhelm, sondern hatte seinen realen Hintergrund im Konkurrenzkampf mit den mächtigen Unternehmen in der Nachbarschaft.

    Innerhalb des Unternehmens jedoch und auf lokaler Ebene lagen die Dinge anders. Spätestens Reuschs Auftritt bei der 50-Jahr-Feier der Stadt Oberhausen, drei Jahre nach seiner Ernennung, zeigte, dass es nicht die Eigentümer der Gutehoffnungshütte waren, die als Großunternehmer im öffentlichen Leben in Erscheinung traten, sondern der angestellte Vorstandsvorsitzende. Dies setzte bei der GHH eine lange Tradition fort: Auf die Luegs im 19. Jahrhundert folgten im 20. Jahrhundert die Reuschs. Die Verlagerung der Macht hin zu den angestellten Unternehmern entsprach dem Trend, der generell in den Werken der Schwerindustrie zu beobachten war.³ Nicht zufällig berief auch die Konkurrenzfirma in Essen in diesem Jahr 1909 einen neuen Vorstands-Vorsitzenden: Alfred Hugenberg übernahm diese Funktion bei Krupp. Anders als bei der GHH jedoch überließ Gustav Krupp von Bohlen und Halbach seinen angestellten Managern die Unternehmensführung keineswegs in alleiniger Zuständigkeit.

    Als Reusch 1909 Generaldirektor der GHH wurde, dominierten in der deutschen Industrie wirtschaftlich – nicht politisch – längst die „neuen Führungssektoren" Großchemie, Elektrotechnik und Maschinenbau, die alle sehr stark exportorientiert waren.⁴ Diese Ausrichtung auf die Weltmärkte begründete objektiv ein Interesse am freien Zugang zu den internationalen Märkten, an niedrigen Zöllen, an der Freiheit der Verkehrswege auf den Weltmeeren, d. h. an einer internationalen Verständigung zumindest mit den benachbarten Großmächten, langfristig also an der Erhaltung des Weltfriedens. Es wäre somit naheliegend zu vermuten, dass Reusch seine Unternehmensstrategie ganz auf das weitere Wachstum des friedlichen internationalen Warenaustausches ausrichtete, als er zu Beginn einer langen Hochkonjunkturphase die Führung übernahm. Der politische Kontext dieser Jahre war aber nicht durch friedliche Verständigung sondern durch wachsende Spannungen geprägt. Reuschs Ernennung zum Generaldirektor fiel in „jene fatale imperialistische Hochrüstungsepoche, die 1914 folgerichtig „in einem schrecklichen Kriegsgemetzel mündete.⁵ In diesem Kontext machte vor allem die Firma Krupp glänzende Geschäfte. Die „Waffenschmiede" des Deutschen Reiches sonnte sich wie kein anderes Unternehmen in der Gunst des Monarchen. Daneben musste die viel kleinere GHH versuchen, sich zu behaupten.

    Der Expansionskurs des neuen Generaldirektors

    Einer aus dem Kreis der Autoren, die an Reuschs Mythos zimmerten, sah ab 1909 einen „neuen Geist in Oberhausen walten. Unter Reuschs Führung habe sich die GHH, das Ziel „restloser Rohstoffautarkie im Blick, „unter die ganz Großen" eingereiht.⁶ Die Kundschafter der GHH schwärmten in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in die ganze Welt aus auf der Suche nach zusätzlichen Rohstoffquellen, in Europa neben Frankreich auch in Spanien und Portugal, in Griechenland, Norwegen und vor allem in Schweden, dem für die Zukunft wichtigsten Lieferanten von Eisenerz. Der wichtigste sachverständige Ingenieur bei der Rohstoffsuche war schon vor dem ersten Weltkrieg neben Bergrat Mehner Bergassessor Kipper, der ein Vierteljahrhundert später von seinem Chef Paul Reusch gedrängt werden würde, als Experte für Eisenerz in Görings Vier-Jahresplan-Behörde mitzuarbeiten.⁷

    Die GHH erwarb 1911 Mehrheitsbeteiligungen an großen Erzgruben in der Normandie. Reusch engagierte sich bei diesem Projekt persönlich sehr stark. Er machte später im Krieg diesen Besitz, wie die anderen Konzernherren der deutschen Schwerindustrie auch, zum Ausgangspunkt der Annexionsforderungen, die bis in den Spätsommer 1918 hinein alle Bemühungen um die Beendigung des längst aussichtslos gewordenen Kriegs torpedierten.

    Allerdings erschien die GHH erst auf dem Schauplatz in Nord-Frankreich, als die deutschen Konkurrenzfirmen dort schon mehrere Jahre aktiv waren. Seit 1901 bemühte sich der Thyssen-Konzern um Eisenerzkonzessionen in der Normandie und in Lothringen, stieß aber auf große Schwierigkeiten bei den französischen Behörden. Ein aggressiver Konfliktkurs, bei dem August Thyssen zeitweise von der Reichsregierung Repressalien gegen französische Firmen in Deutschland verlangte, brachte keinen Erfolg.⁸ Es muss ihm bald klar geworden sein, dass eine Konfrontation weder der französischen noch der deutschen Industrie nützen würde. Der erfahrene Industrie-Stratege August Thyssen, gewiss keiner pazifistischen Neigungen verdächtig, wies deshalb 1907 darauf hin, dass sich Frankreich und Deutschland wirtschaftlich hervorragend ergänzen könnten: „Sie haben in Lothringen ungeheuer viel Eisen, aber gar keine Kohle, während wir einen Überfluss an Kohle besitzen, aber gar kein Eisen. Deshalb ist es durchaus notwendig, dass unsere beiden Länder nicht nur friedlich, sondern auch freundschaftlich miteinander stehen.⁹ Krupp, vor dem Krieg der größte Ruhr-Konzern, arbeitete gleichzeitig bei der Erschließung von Erzfeldern in Marokko und Algerien eng mit der französischen Firma Le Creusot zusammen. Die von Fritz Fischer zitierte bemerkenswerte Äußerung von August Thyssen stand also am Ende einer Phase „gegenseitiger Durchdringung der Interessen. Die „französisch-deutsche Solidarität, wie sie die Eisenhüttenleute anstrebten, [wurde jedoch] von den französischen Behörden gebremst."¹⁰

    Was die Wirtschaft anging, so gab es also in der Phase zwischen 1906 und 1910 durchaus Chancen für einen Interessenausgleich zwischen der französischen und der deutschen Seite.¹¹ Die Marokkokrise beendete 1911 jedoch alle Ansätze einer Verständigung zwischen den Nachbarn. Ein wirtschaftlicher Interessenausgleich wurde generell durch den „assymetrischen¹² Charakter der deutsch-französischen Beziehungen erschwert: Dem massiven Eindringen der deutschen Schwerindustrie in Nord-Frankreich stand nämlich kein auch nur annähernd gleichwertiges Engagement französischer Firmen in Deutschland gegenüber. Auf die zweite Marokkokrise folgte denn auch eine „Ära der Schwierigkeiten 1911–1914; in der französischen Öffentlichkeit brach – spiegelbildlich zum fanatischen Nationalismus in deutschen Massenmedien – eine „Kampagne gegen die germanische Invasion los.¹³ Die deutsche Schwerindustrie ihrerseits nahm in den letzten Friedenswochen 1914 die französische Eisenindustrie als zunehmend unangenehme Konkurrenz war. Reusch beauftragte seinen Stellvertreter Woltmann, ihm für einen Vortrag bei Minister Delbrück Material mit dieser Akzentuierung zusammenzustellen.¹⁴ In dieser aufgeheizten Atmosphäre sucht man vergeblich nach nüchternen, die wirtschaftliche und politische Vernunft betonenden Stellungnahmen aus den Kreisen der deutschen Schwerindustrie. Von Reusch ist auch für die früheren Jahre nirgends ein auf Verständigung mit Frankreich drängender, gegen den fanatischen Nationalismus gerichteter Ausspruch überliefert. Reuschs Vortrag bei Delbrück fiel bereits in die ersten Kriegswochen. Für seinen Vortrag bei der Reichsregierung würde er deshalb das Thema „Konkurrenz beiseite schieben und dem Geist der Zeit entsprechend nur noch über „Annexionen" sprechen. Doch greift dies der Entwicklung vor. Zunächst zurück zum Eindringen der GHH in der Normandie.

    Im 1871 annektierten „Deutsch"-Lothringen betrieb die GHH bereits Eisenerzgruben gemeinsam mit der Phoenix AG.¹⁵ Reusch strebte die Verhüttung des französischen Erzes in eigenen Anlagen vor Ort in Lothringen an, konnte aber dieses Projekt vor dem Krieg nicht mehr realisieren.¹⁶

    Sein Hauptaugenmerk richtete Reusch jedoch auf die Erzfelder in der Normandie, ein Vorhaben, bei dem er sich persönlich außerordentlich stark engagierte. In den Jahren 1911 bis 1913 reiste er zehn Mal nach Paris, um die Verhandlungen mit den französischen Geschäftspartnern selbst in die Hand zu nehmen.¹⁷ Bis Ende 1913 nahm er an neun Sitzungen des Aufsichtsrats in Paris persönlich teil.¹⁸ Im Frühjahr 1911 lag Reusch ein ausführlicher Bericht über die südlich von Caen liegenden Erzgruben Barbery, Estrées-la-Campagne, Urville und Gouvix vor. Da nach französischem Recht keine Person oder Gesellschaft zwei Konzessionen erhalten durfte, musste zur Verschleierung der Besitzverhältnisse die „Société anonyme d’Extraction de Minerais mit Sitz in Paris gegründet werden.¹⁹ Dies geschah am 13. März 1911. Alle Aktien waren im Besitz der GHH. Diese durfte aber zunächst offiziell nicht in Erscheinung treten, weshalb für die Leitung dieser Firma die folgende bemerkenswerte Regelung gelten sollte: „Der Aufsichtsrat besteht vorläufig aus Herrn Schickardt und zwei Franzosen als Strohmännern. Nach Erledigung der Formalitäten werden die beiden Franzosen durch die Herren Reusch und Mehner ersetzt.²⁰ Dies war eine sehr durchsichtige Taktik, die denn auch vom französischen Präfekten sofort durchschaut wurde. Er erteilte die Abbau-Konzessionen für Gouvix nicht.²¹ Die GHH gehörte somit zu den deutschen Firmen, die nach der Marokkokrise von 1911 die Verschlechterung des Geschäftsklimas sofort zu spüren bekamen.²²

    Im April 1911 hatte Bergassessor Kipper seinem Chef eine detaillierte Zusammenstellung der Eisenerzanalysen für die Gruben in der Normandie vorgelegt. Die Verhandlungen mit den französischen Behörden über die Abbau-Konzessionen, vor allem über die Besteuerung, gingen nach dem Misserfolg von 1911 bis Ende 1912 weiter.²³ Begleitmusik waren während der ganzen Zeit die von der deutschen Industrie als „willkürlich und schikanös²⁴ empfundenen Ausfuhrbestimmungen und Zölle der Franzosen und 1914 schließlich die angeblich überhöhten Frachttarife der belgischen Eisenbahnen, die für den Erztransport dringend benötigt wurden.²⁵ Die Konkurrenzfirma Thyssen wollte dieses Problem durch die Verlagerung der Massentransporte auf Schiffe umgehen. Um kostengünstig Erz aus der Normandie nach Rotterdam und auf dem Rhein weiter ins Ruhrgebiet transportieren zu können und für den Kohletransport in der Gegenrichtung wollte Thyssen große Hafenanlagen in der Normandie bauen. In der Nähe der Erzgruben sollte ein großes Hüttenwerk entstehen. Auf diese gigantischen Investitionspläne der Konkurrenzfirma reagierte Reusch nervös. Um bei den Eigentümern nicht den Eindruck entstehen zu lassen, dass die GHH gegenüber Thyssen ins Hintertreffen geraten könnte, betonte er, dass „unser Erzbesitz in der Normandie nach aller Voraussicht wesentlich bedeutender ist als der Thyssen’sche.²⁶

    In den langwierigen Verhandlungen mit den französischen Geschäftspartnern und dem französischen Staat verließ sich Reusch weitgehend auf den Präsidenten der Société des Mines de Barbery, Albert Taraud. Drei Jahre lang, bis zum Juli 1914, pflegten Reusch und Taraud in ihrer Korrespondenz einen persönlichen, ja freundschaftlichen Stil. Taraud schrieb dem „Directeur Général de la Gutehoffnungshutte" viele Briefe in gestochen schöner Handschrift. Reusch revanchierte sich im April 1912 mit einer Sendung deutscher Qualitätsweine von der Mosel. Im November 1912 lud Taraud Reusch zur Hochzeit seiner Tochter ein; Reusch war jedoch verhindert und sagte telegraphisch ab. Noch am 10. Juli 1914 einigte sich Reusch persönlich mit Taraud über den Ausbau der Bahnlinie längs des Orne-Kanals zum Erzhafen bei Caen.²⁷ Die Niederschrift einer Besprechung mit den französischen Geschäftspartnern vom Juli 1914 endet mit der folgenden Terminabsprache: „Nächste Sitzung 15. September 1914 in Paris."²⁸

    Abb. 1:Taraud an Reusch, 8. 5. 1911, in: RWWA 130-300193006/16

    Die Verhandlungen über die Erzgruben in der Normandie, besonders die freundschaftlichen Kontakte mit dem Geschäftspartner Taraud, mussten Reusch an sich deutlich machen, welch großes Interesse international tätige Firmen wie die GHH an einem friedlichen politischen Umfeld, besonders an einer Verständigung mit Frankreich, hatten. Der Krieg drohte die in langen Verhandlungen erworbenen Rechte an den Eisenerzfeldern in der Normandie mit einem Schlage wertlos zu machen. Der abrupte Abbruch der Geschäftsbeziehungen musste einem nüchtern denkenden Unternehmer eigentlich Anlass zur Sorge geben. Von Reusch sind jedoch keinerlei sorgenvolle oder auch nur nachdenkliche Äußerungen über die riskante, den Krieg in Kauf nehmende oder gar bewusst provozierende Politik der kaiserlichen Regierung überliefert. Er ließ sich im August 1914 vom blinden Begeisterungstaumel mitreißen und entwickelte sofort Pläne für die Enteignung der französischen Schwerindustrie nach dem deutschen Sieg. Den deutschen Grubenbesitz in der Normandie wollte er gegen entsprechende Erzfelder in Lothringen, das nach dem Sieg natürlich vollständig zu annektieren war, tauschen.²⁹

    Vergleichsweise geringe Probleme stellten sich dem neuen Generaldirektor beim anderen wichtigen Rohstoff der Schwerindustrie, der Kohle. Reusch setzte den Ausbau der Zechen im eigenen Konzern konsequent fort.³⁰ Reusch trieb gleichzeitig die vertikale Expansion in die verarbeitende Industrie voran.³¹ Verglichen mit dem Erwerb der Deutschen Werft und vor allem der MAN nach dem Kriege waren dies jedoch nur erste kleine Schritte.

    Schon bevor Reusch die Leitung des GHH-Konzerns übernahm, hatte die Schwerindustrie im Bündnis mit der Groß-Landwirtschaft gegen die Interessen der stark exportorientierten verarbeitenden Industrie die Wiedereinführung stark überhöhter Schutzzölle durchgesetzt.³² Als im Frühjahr 1914 die Frage der Schutzzölle wieder auf die Tagesordnung kam, „arbeiteten Schwerindustrie und Landwirtschaft wieder „Hand in Hand gegen die im Bund der Industriellen (BdI) zusammen geschlossene Fertigwarenindustrie, den Handel und die Banken. Alle bedeutenden Industriellen des Reviers (Hugenberg, Kirdorf, Stinnes, Reusch u.a.) waren beteiligt, als im März 1914 die „Auslands GmbH" zur Verteidigung der speziellen handelspolitischen Interessen der Schwerindustrie ins Leben gerufen wurde.³³

    Während sie einerseits den deutschen Markt rigoros abschotteten, verlangten die Ruhrbarone gleichzeitig den freien Zugriff auf die Eisenerzlager in aller Welt. Diesen Anspruch sollte die kaiserliche Regierung durch eine energische imperialistische Politik durchsetzen, z. B. 1911 in der Marokko-Krise. Denn der „Anteil am Erzreichtum Marokkos ist für [die deutsche Schwerindustrie] eine Lebensfrage."³⁴ Paul Reusch, der noch sehr junge Nachkömmling unter den Ruhrbaronen, sah die Dinge offenbar genauso; er sah die Interessen der Schwerindustrie durch eine hoch riskante Politik der Konfrontation mit den benachbarten Großmächten am besten gewahrt.

    Der nach außen gerichteten Expansionsstrategie des Konzerns entsprach im Innern die Konfrontation mit den Gewerkschaften.

    Wachsende Spannungen mit Gewerkschaften und den Interessenverbänden der Angestellten

    Der neue Generaldirektor Paul Reusch hatte seinen Posten in einer Situation verschärfter Spannungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften angetreten. Die freien Gewerkschaften hatten nach dem großen Streik von 1905 erheblich an Selbstbewusstsein gewonnen und waren deshalb spätestens 1910 nicht mehr bereit, die Reallohnverluste der vorausgegangenen Jahre seit der Hochkonjunktur 1907 hinzunehmen. Die Arbeitgeber der Schwerindustrie versteiften sich jedoch nach 1905 auf einen kompromisslosen Herr-im-Haus-Standpunkt; durch ihre Ablehnung jeglicher Verhandlungen mit den Gewerkschaften versuchten sie, die noch unorganisierten Arbeiter von einem Beitritt zur Gewerkschaft abzuschrecken. Noch vor der nächsten großen Kraftprobe mit den Gewerkschaften im Bergarbeiterstreik von 1912 jedoch ging die GHH unter Reuschs Führung gegen die Verbände der Techniker in die Offensive.

    Der wachsende Einfluss der Interessenverbände der Angestellten alarmierte die Arbeitgeber fast noch mehr als das Anwachsen der streikbereiten Gewerkschaften der Arbeiter. Denn die unerschütterliche Gemeinsamkeit der Interessen von „Beamten" und Werksleitung geriet dadurch ins Wanken. In den Verbänden der Techniker und der kaufmännischen Angestellten regte sich ein neuer Mittelstand; deshalb gab es in den liberalen Parteien große Sympathien für diese Bestrebungen, was die Schwerindustriellen veranlasste, umso härter gegen die unabhängigen Organisationen in ihrem Mittelbau vorzugehen.³⁵

    Die GHH erregte im Herbst 1911 durch die Maßregelung organisierter Techniker im Werk Sterkrade landesweit Aufsehen. Seit einer Resolution beim „Gautag des Bundes der technisch-industriellen Beamten (Butib) am 28. Mai 1911 in Duisburg stand dieser Verband unter verschärfter Beobachtung, weil seine Mitglieder es in diesem Beschluss abgelehnt hatten, sich als Streikbrecher einsetzen zu lassen. Dies – so der Duisburger Beschluss – sei mit der Standesehre der technisch-industriellen Beamten nicht vereinbar. Noch Monate später auf der Hauptversammlung von „Arbeitnordwest³⁶ wetterten die Unternehmer gegen diesen Beschluss als Wurzel allen Übels.³⁷ Reuschs Stellvertreter Woltmann schrieb den Werksleitern der GHH in „streng vertraulichen Briefen, dass der Butib seitdem „völlig in radikalem Fahrwasser schwimme. Beim „Gehaltskampf im September 1911 in Berlin werde dies besonders deutlich. Ausdrücklich im Auftrag von Reusch wurden die Werksleiter verpflichtet, festzustellen, wer diesem Verband angehörte, und die Listen mit der Aufschrift „privat auf dem Umschlag Woltmann zukommen zu lassen.³⁸

    Die Erfassung der Verbandsmitglieder konnte nicht geheim bleiben, was den „Deutschen Techniker-Verband zu einem besorgten Brief an den Konzernherrn persönlich veranlasste. Schon der Stil der Anrede lässt erkennen, dass hier niemand „in radikalem Fahrwasser agierte: Der Geschäftsführer des Verbandes in Dortmund wandte sich an den „Hochwohlgeboren Herrn Generaldirektor P. Reusch, Königlicher Kommerzienrat in der Hoffnung, „bei Ihrem bekannten Wohlwollen den Angestellten gegenüber keine Fehlbitte zu tun. In den Werken der GHH seien die Angestellten von den Abteilungsdirektoren einzeln vernommen worden, zum Teil seien sie zum Austritt aus dem Techniker-Verband gedrängt worden, „mit der gleichzeitigen Androhung, dass im Weigerungsfalle gekündigt werden würde. Der Verband glaubte, dass hier ohne Reuschs Kenntnis „übereifrige Vorgesetzte den Staatsbürgerrechten der Angestellten zu nahe getreten sind, und bat Reusch, Vertretern ihres Vorstandes „gütigst eine Unterredung gewähren zu wollen".³⁹ Reusch war wohl nicht „gütig in dieser Sache. In den Akten findet sich kein Antwortschreiben und auch kein Hinweis auf die höflich erbetene Unterredung, stattdessen ein Schriftstück, in dem ein Beamter in gestochener Sütterlin-Handschrift „ergebenst seinen Austritt aus dem Technikerverband mitteilt.⁴⁰

    Abb. 2:Deutscher Techniker-Verband, Geschäftsstelle Rheinland-Westfalen, Dortmund, an Reusch, 24. 10. 1911, in: RWWA 130-3001038/1b

    Die angedrohten Entlassungen wurden zu diesem Zeitpunkt bereits eingeleitet. Bei dieser Aktion zeichnete sich Direktor Häbich im Werk Sterkrade durch besondere Härte aus. Dieser hatte in einer Konferenz mit den Abteilungsleitern die Vorgehensweise genau festgelegt. Der Nordwestlichen Gruppe des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller teilte er konkrete Details mit: Die Verbandsmitglieder würden in Einzelgesprächen „zunächst mündlich dahin belehrt, dass sie durch ihre Berufsverbände irre geleitet und auf den Weg des Klassenkampfes gedrängt würden". Man ließ ihnen nur die Wahl zwischen dem Austritt aus dem Verband und der Kündigung. Wenn sie sich weigerten, sofort eine Austrittserklärung zu unterschreiben, folgte die Entlassung. Von 44 so behandelten Technikern blieben nur sechs standhaft. Die Namen der Entlassenen wurden, mit Geburtsdatum, Geburtsort und genauer Berufsbezeichnung, dem Arbeitgeberverband mitgeteilt, damit alle Mitgliedsfirmen unterrichtet werden konnten.⁴¹ Bei Einstellungen mussten die Bewerber eine schriftliche Erklärung abgeben, dass sie keinem Berufsverband angehörten. Von Seiten der Firma sei, „zur Pflege der Geselligkeit, die Gründung eines Beamten-Vereins in die Wege zu leiten.⁴² Die Direktoren ließen also keinen Zweifel daran, dass zwischen betriebsinterner Wohlfahrtspflege und Disziplinierung ein enger Zusammenhang bestand. Es wurde genau Buch geführt, welche Gehaltszahlungen den „ausgesperrten Technikern noch zustanden. Gleichzeitig erhielten sie ihre Beiträge zur Pensionskasse zurück vergütet. Alle Schritte der Sterkrader Werksleitung waren mit der Hauptverwaltung der GHH bis in alle Einzelheiten abgestimmt.⁴³ Die GHH ließ also keinen Zweifel daran, dass eine Wiedereinstellung ausgeschlossen war.

    Der harte Kurs der GHH stieß selbst in Unternehmerkreisen nicht überall auf Beifall. Reusch berichtete über die Maßnahmen seiner Firma bei einer Sitzung des Gesamtverbandes Deutscher Metallindustrieller in Berlin. Kein Geringerer als sein Unternehmerkollege Borsig kritisierte bei dieser Gelegenheit die Entlassungen als zu weitgehend. Er befürchtete negative Rückwirkungen bei den bevorstehenden Reichstagswahlen. Reusch beharrte aber auf seinem Standpunkt; der „Missstimmung in Beamtenkreisen" glaubte er durch positive innerbetriebliche Maßnahmen entgegenwirken zu können.⁴⁴

    Die Maßregelung der Angestellten bei der GHH löste einen Sturm der Entrüstung aus. Die „Deutsche Industriebeamten-Zeitung erschien am 3. November 1911 mit der Schlagzeile „Der Tag von Sterkrade und kommentierte die Ereignisse auf der Titelseite, wie folgt: „Der Tag von Sterkrade ist ein schwarzer Tag in der Angestelltenbewegung. Mit Hilfe eines brutalen Gewissenszwanges hat die Gutehoffnungshütte einer Anzahl Kollegen ihr gesetzlich gewährleistetes Koalitionsrecht abgepresst. … Rücksichtslos, großartig. Bewundernswert, wenn solche Energie einmal für den Fortschritt der Menschen aufgewandt würde; verdammenswert, und alles Edle im Menschen zum Kampfe herausfordernd, wenn, wie hier, von dem Throne eines viele Millionen zählenden Aktienkapitals herunter Menschen, die nichts als ihr bisschen Ehre und Selbstachtung besitzen, auch dieses noch geraubt, die Menschenwürde mit Füßen getreten wird. … Was nun? Was tun?"⁴⁵ Der Techniker-Verband und der Butib riefen zu großen öffentlichen Protestversammlungen in Köln, Düsseldorf, Elberfeld und Essen, aber auch in weit entfernten Städten wie Hamburg, Breslau oder Nürnberg auf.⁴⁶

    Eine besondere Wirkung versprachen sie sich von der Versammlung in Köln, da dort die Stadtverordnetenwahlen anstanden und das neue Stadtparlament über den Auftrag für den Bau einer neuen Rheinbrücke würde zu entscheiden haben. Bei der Ausschreibung lag die GHH gut im Rennen. Daher bestand bei den Techniker-Verbänden die Hoffnung, „dass die Versammlung die Kandidaten für die Stadtverordnetenwahlen veranlassen wird, ihr Amt von vorneherein mit dem festen Entschlusse anzutreten, der Gutehoffnungshütte, die das Recht ihrer Angestellten so schmählich mit Füßen getreten hat, den Auftrag auf keinen Fall zukommen zu lassen".⁴⁷

    Für die Versammlung in der Düsseldorfer Tonhalle liegt ein ausführlicher „Stenographischer Bericht vor, wobei offen bleiben muss, auf welchem Weg dieses aufschlussreiche Dokument in die Akten der Konzernleitung der GHH gelangte. Der Hauptredner beschrieb die Vorgänge im Werk Sterkrade höchst anschaulich: „Es lässt der Direktor den Vorsitzenden der dortigen Ortsverwaltung des Deutschen Technikerverbandes zu sich kommen und gibt ihm auf, eine gemeinsame Austrittserklärung seiner Mitglieder einzureichen. Dem Vertrauensmann, dem die Mitglieder dieser Gruppe doch anvertraut sind und der ihre Rechte doch zu wahren hat, dem gibt man so kaltlächelnd den Auftrag, sammel mal die Austrittserklärungen deiner Mitglieder ein (Lachen!), die 22 Jahre dem Bunde angehört haben, ältere Leute, Familienväter, die sich freuen, dass sie versorgt sind, durch die Organisation mit dem ganzen Gros der Deutschen Techniker Fühlung zu haben. Für die Mitglieder des Bundes technisch-industrieller Beamten ging es etwas anders zu, für die hatte man hektographisch vervielfältigte Erklärungen ,Sterkrade, den 25. Oktober 1911. Ich verpflichte mich hiermit, sofort meinen Austritt aus dem Bunde anzumelden.’ Gleich für alle hergestellt.⁴⁸ Der „Gauleiter und andere Verbandsvertreter seien noch am gleichen Tag nach Sterkrade gefahren. „Wir fanden 37 Kollegen vor, die sich in außerordentlich gedrückter Stimmung befanden und sich immer fragten, was könnten wir tun gegen diese übermächtigen Geldmenschen. Nur 50 Minuten war Zeit zum Verhandeln. … Im Übrigen war allen gesagt worden, dass kein Zappeln etwas helfen würde, die Direktion hat es beschlossen und der Vorstand hat es beschlossen und was der Vorstand beschließt, das geschieht. Es ist ein sehr trauriges Kapitel, dass das alles geschieht. … Die Kollegen sahen sich sehr gedrückt gegenseitig an, sie hatten wenig Hoffnung, der Gutehoffnungshütte gegenüber etwas machen zu können.⁴⁹ Nachdem die Verbandsvertreter ihre Unterstützung versprochen hatten, wurde in geheimer Abstimmung beschlossen, dem Druck der Betriebsleitung nicht nachzugeben. 31 Unterschriften standen unter einer entsprechenden Erklärung, die die Verbandsvertreter dem Vorstandsvorsitzenden Reusch übergeben wollten. Der jedoch habe es abgelehnt, sie „zu empfangen.⁵⁰ Danach fiel einer nach dem anderen um. „Man holte den jüngsten herein. Man schnauzte ihn an, er unterschrieb. … Die Verhältnisse in diesen Werken sind dazu angetan, Charaktere zu fällen, wer einmal in diesem Betriebe gewesen ist, wer einige Jahre Beobachtungen gemacht hat, der weiß, dass dort Charaktere gebrochen wurden, systematisch, planmäßig. Man hat mit den Jüngsten angefangen, man hat ihnen einfach befohlen, sie haben unterschrieben. Sie fühlen sich nicht berufen, Vorkämpfer für andere zu werden. ,Wir setzen Sie einfach auf die schwarze Liste, und Sie werden nie wieder Arbeit finden’ (Pfui!).⁵¹ Besonders hervorgehoben wurde danach sogleich der Mut der Wenigen, die dem Druck standgehalten hatten und sofort entlassen worden waren. Im Spektrum der gewiss nicht gewerkschaftsfreundlichen Schwerindustrie hatte sich die Konzernleitung der GHH mit dieser Aktion als besonders reaktionär profiliert. „Die Herren von der Gutehoffnungshütte vergessen aber … eins, dass nicht alle Betriebe so sind wie die der Gutehoffnungshütte. Dass nicht in allen Betrieben jener Geist umhergeht, der die Menschen, die Angestellten einander gegenüber misstrauisch macht, der es nicht dazu kommen lässt, sich zu verständigen. So sieht es aus. Aber Gott sei Dank nicht überall, und wo sie hinfassen werden mit tückischer Hand, die Geldleute, da werden sie sich das nächste Mal die Finger verbrennen."⁵²

    Weitere Redner prangerten die Vorgehensweise der GHH an. In teilweise sehr pathetischem Stil beriefen sie sich auf die Menschenrechte, verlangten das Eingreifen des Staatsanwaltes zum Schutz des Koalitionsrechtes der Angestellten und forderten immer wieder dazu auf, bei der kommenden Reichstagswahl, Kandidaten zu unterstützen, die für die Rechte der Arbeitnehmer eintraten. Kein Redner ließ sich die Gelegenheit entgehen, durch Wortspiele mit dem Namen der GHH zu punkten: „Es ist ein eigentümliches Wort, das sich die Gutehoffnungshütte genommen hat (Lachen). Gute Hoffnung. Die Hoffnung, die wir hatten, dass es endlich im Deutschen Vaterlande anders gehen sollte mit den Menschenrechten, gerade diese Gutehoffnungshütte hat uns die gute Hoffnung und den Glauben daran gründlich versalzen. … Wem liegt nicht daran einzutreten für Menschenrecht, wem liegt nicht daran, für Staats- und Bürgerrecht einzutreten? Diejenigen, die nicht davon überzeugt sind, dass wir uns unser Recht erkämpfen müssen, können gestrichen werden wie die Umgefallenen von Sterkrade, sie gehen heute als Knechte einher und das in einem Werke, das sich Gutehoffnungshütte nennt."⁵³ Auch wenn man rhetorische Überspitzungen in Betracht zieht, so drängt sich doch der Eindruck auf, dass in den Betrieben der GHH, und dort wiederum vor allem in Sterkrade, unter Reuschs Führung ein extrem harter Kurs gegen die Arbeitnehmer gefahren wurde. „Sterkrade wurde zum Symbol für die kompromisslose Durchsetzung des Herr-im-Haus-Standpunktes: „Was wird aus uns werden, wenn in dem Kampf das Arbeitgebertum Sieger bleibt, das sich den Scherz von Sterkrade geleistet hat. Was wird aus uns werden, wir alle werden Nummern und bleiben Nummern in dem bewegten großen Betrieb, der uns beherrscht. Wird unser Schicksal glücklicher sein, wenn wir willenlos alles mit uns geschehen lassen müssen, was die Großindustrie mit uns vor hat?⁵⁴ Ein Redner nach dem anderen kritisierte die extreme Härte des „Arbeitgebertums in der GHH, wetterte „gegen das Herrentum von Sterkrade⁵⁵, auch gegen Reusch ganz persönlich: „Mag Sterkrade einen Direktor haben, der Kommerzienrat oder wer weiß was ist, wir werden ihm zeigen, dass unsere Organisation stark ist.⁵⁶ Niemand jedoch rief zum Umsturz des wirtschaftlichen und politischen Systems auf. Im Gegenteil: Es sollte im Rahmen des bestehenden Systems bei der Vergabe von Staatsaufträgen Druck ausgeübt werden: „Ich frage Sie, wie stellen sie sich dazu, soll der Bau der neuen Rheinbrücke [in Köln] der Gutehoffnungshütte übertragen werden?⁵⁷

    Es muss noch einmal daran erinnert werden, dass diese Reden nicht von Arbeitern oder Gewerkschaftsführern gehalten wurden. Dies waren keine marxistisch orientierten Sozialdemokraten, sondern Vertreter des „neuen Mittelstandes. Sie waren nicht auf Umsturz aus, sondern wollten, wie gerade die Vorgehensweise in Köln zeigt, die vorhandenen halb-demokratischen Institutionen auf legalem Wege nutzen. Ihre Kritik und Strategie war also ganz „systemimmanent. Reusch war offenbar unfähig, dies zu erkennen. Er sah sich, wie er wenig später in selbstgefälligem Ton bemerkte, im Kampf mit umstürzlerischen Reichsfeinden.

    Die Zeitungen der Region und darüber hinaus berichteten ausführlich über die Kundgebungen. Der Arbeitgeberverband seinerseits registrierte aufmerksam, welchen Widerhall der Konflikt in der Öffentlichkeit fand. Reusch wich trotz der schlechten Presse jedoch keinen Millimeter von seiner harten Position ab; er bestand darauf, dass auch Beamte mit langfristigen Verträgen zu entlassen seien.⁵⁸ Gleichzeitig versuchte der Arbeitgeber-Verband, seine Sicht der Dinge in die Presse zu lancieren, was sich jedoch selbst bei Industrie-abhängigen Blättern als schwierig erwies. Der Geschäftsführer von „Arbeitnordwest schickte Reusch deshalb zur Entschuldigung die Abschrift eines Schreibens, in dem der Chefredakteur der „Rheinisch-Westfälischen Korrespondenz die Probleme erläuterte: „Der Fall der Gutehoffnungshütte contra Bund technisch-industrieller Beamten hat die öffentliche Meinung sehr erregt. Bei der Kundgebung in der Tonhalle in Düsseldorf habe sich der Reichstagsabgeordnete Haberland von der SPD „rückhaltlos auf die Seite der Techniker gestellt. Unter denen, die ihm „lebhaft zustimmten, seien „nicht etwa nur kleine Techniker, sondern auch sehr angesehene Ingenieure und Betriebsführer in großer Zahl gewesen. „Würden nun nationalliberale und konservative Blätter im gegenwärtigen Augenblick gegen den Bund technisch-industrieller Beamten und gegen das Koalitionsrecht der Techniker und Ingenieure Stellung nehmen, so würde die direkte Folge die sein, dass auch diese bedeutsamen Kreise des Mittelstandes … bei den bevorstehenden Wahlen in Scharen der Sozialdemokratie zugeführt werden.⁵⁹ Daher sei die Redaktion einstimmig der Meinung gewesen, dass die „Rheinisch-Westfälische Korrespondenz den Artikel der Arbeitgeber nicht veröffentlichen sollte.

    Reusch aber wich keinen Jota zurück. Er nahm die Öffentlichkeitsarbeit nun eben selbst in die Hand. Der Kölner Oberbürgermeister Wallraf erhielt eine 11-seitige Darstellung des Standpunktes der GHH. Der „Kölnischen Zeitung schickte Reusch persönlich einen 7-seitigen Artikel über den Techniker-Verband: „Ich nehme an, dass die ,Kölnische Zeitung’ das ,audiatur et altera pars’ in der Techniker-Bewegung nicht übersehen wird.⁶⁰ Wegen des Auftrages für die neue Rheinbrücke war die Kölner Presse für die GHH besonders wichtig. In der Öffentlichkeit wurde vermutet, dass bei der Stadtverwaltung in Köln die „Neigung besteht, die starke wirtschaftliche Macht der Stadt bei einer großen Auftragserteilung (ein Brückenbau, um den die Gutehoffnungshütte-Sterkrade konkurriert) für die Arbeitnehmer in die Waagschale zu werfen."⁶¹

    Ganz offen verlangten die Interessenverbände der Angestellten, „dass in den Lieferungsverträgen der Stadt Cöln eine Bestimmung aufgenommen wird, wonach bei Vergebung von Arbeiten nur solche Firmen berücksichtigt werden, die das Koalitionsrecht der Angestellten und Arbeiter achten; ferner bei der Vergebung der zu erbauenden neuen Rheinbrücke die Gutehoffnungshütte in Sterkrade nicht zu berücksichtigen."⁶² Die Technikerverbände beriefen sich auf ein Gesetz, das schon 1869 alle Koalitionsverbote aufgehoben habe. Es liege deshalb „ein öffentliches Interesse vor …, eine derartige Herrenmoral, wie sie von der Gutehoffnungshütte bestätigt worden ist, als unsittlich zu brandmarken. Die Proteste der Öffentlichkeit bleiben auf Arbeitgeber vom Schlage der Leiter der Gutehoffnungshütte und auf Werke von dieser Größe so lange ohne Eindruck, dass [sic!] ihnen die Missbilligung ihres Verhaltens nicht an der Stelle fühlbar gemacht wird, wo sie am empfindlichsten sind, nämlich an ihrem Gewinn."⁶³

    Reusch schickte den Direktoren Häbich (Sterkrade) und Woltmann, seinem Stellvertreter, sofort eine Abschrift dieser Eingabe und ordnete an, „sämtlichen Stadtverordneten von Cöln in einer ruhig und sachlich gehaltenen Zuschrift die Verhältnisse auseinander[zu]setzen. Unsachlich waren natürlich nur Reuschs Gegner: „Auf die Tatsache, dass das Gros der Techniker die maßlose Agitation und Verhetzung selbst auf das allerschärfste verurteilt sei besonders hinzuweisen. Bei den Techniker-Organisationen hätten „die sozialdemokratischen Tendenzen … Oberwasser bekommen".⁶⁴ Sozialdemokratische Tendenzen – dies war ins Reuschs Augen die schlimmste Sünde.

    Wenige Tage später ging das Erwiderungsschreiben der GHH an 52 Kölner Stadtverordnete, zwölf Beigeordnete – u. a. an den Beigeordneten Konrad Adenauer – und an den Oberbürgermeister. Es enthielt keinerlei Signale der Kompromissbereitschaft, es enthüllte vielmehr erneut die gewerkschaftsfeindliche Gedankenwelt, in der die Konzernleitung der GHH offenbar stärker als andere Unternehmer gefangen war. Die Techniker seien „die Vertrauensleute des Unternehmers im Verkehr mit der Arbeiterschaft. Gleiten diese Vertrauensleute in das Fahrwasser des zielbewussten Klassenkampfes, so ist damit die Fortdauer des ganzen Betriebes überhaupt in Frage gestellt. Es ist daher einfach Pflicht des Unternehmers, Verbände, welche die Techniker durch systematische Verhetzung aus Vertrauensleuten zu Gegnern der Betriebsleitung machen wollen, energisch zu bekämpfen. Der Unternehmer dürfe nicht „untätig zusehen, dass die in seinem Betriebe beschäftigten Beamten Verbänden angehören, die nicht davor zurückschrecken, durch Anwendung der allerschroffsten Kampfesmittel wie Ausstand und Verhängung der Sperre ein ganzes Werk zum Stillstand zu bringen und damit die Arbeiter erwerbslos zu machen. Als Beleg wird auf den Beschluss verwiesen, in dem die Techniker es abgelehnt hatten, sich als Streikbrecher einsetzen zu lassen. Der GHH gehe es nicht „um einen Angriff auf die Koalitionsfreiheit, sondern um die rechtzeitige Abwehr gefährlicher Ausschreitungen in der deutschen Techniker-Bewegung und um den Schutz der größeren Mehrzahl unserer Beamten gegen den Koalitionszwang und den Gewerkschaftsterrorismus. Im Schatten des Kölner Doms erschien der preußisch-protestantischen Konzernleitung am Ende des Appells auch der Hinweis auf einen Artikel in der katholischen „Oberhausener Volkszeitung angebracht, in dem die „katholischen Techniker und ihre evangelischen Kollegen" vor dem Butib gewarnt wurden.⁶⁵ Die „Kölnische Zeitung", die in den Dezembertagen davor den Arbeitgebern und den Technikerverbänden auf der Titelseite viel Raum gegeben hatte, widmete Reuschs Eingabe an die Kölner Stadtverordneten nur eine kurze Notiz.⁶⁶

    Alle Mühen waren vergebens. Am Bau der Dombrücke (Eisenbahn- und Straßenbrücke), die 1911 endgültig dem Verkehr übergeben worden war, war die GHH beteiligt. Bei der Deutzer Brücke – um die drehte sich der Streit – erhielten nach zweimaligem Wettbewerb MAN (Werk Gustavsburg) und die Klöckner-Humboldt AG den Zuschlag für die Stahlarbeiten. Für die Stadt Köln federführend war dabei der Beigeordnete Adenauer. Die Bauarbeiten an der Deutzer Brücke begannen 1913. Am 15. Juli 1915 wurde sie dem Verkehr übergeben.⁶⁷

    In der liberalen Presse blies Reusch der Wind ins Gesicht, selbst industriefreundliche Blätter neigten zur Zurückhaltung, im Kreise der Unternehmer aber fand sein harter Kurs an einigen Stellen sofort Nachahmer. Im Bezirk der Nordwestlichen Gruppe des VdESI machten jetzt auch andere Werke Front gegen die „arbeitgeber-feindlichen Anschauungen und die angeblich „sozialistischen Tendenzen in den Verbänden der Angestellten.⁶⁸ Gleichzeitig erhöhten die Arbeitgeber des Ruhrbergbaus den Druck auf die Steiger. Ein Polizeispitzel in Essen hatte dem Zechenverband die Postversandsliste der Zeitschrift des Deutschen Steigerverbandes besorgt. Aufgrund dieser Liste wurden ca. 500 Steiger zum Austritt gezwungen; allen anderen wurde mitgeteilt, dass die Zugehörigkeit zum Steigerverband ein Entlassungsgrund sei. Die Mitgliederzahl dieses Verbandes schrumpfte unter diesem Druck von 1.600 bis zum Ende des Jahres 1911 auf 200.⁶⁹ Generell verschärft wurde die Konfrontation durch den lange vor 1912 einsetzenden Reichstagswahlkampf.⁷⁰ Reusch erhielt auf der Jahresversammlung der Deutschen Arbeitgeberverbände im Dezember 1911 einen Vertrauensbeweis, als er demonstrativ in den Ausschuss der Hauptstelle gewählt wurde.⁷¹

    Auch außerhalb des Reviers und der Schwerindustrie wurde Reuschs Kampf mit den Verbänden der Angestellten aufmerksam verfolgt. Im folgenden Februar informierte der Geschäftsführer des Vereins der Hamburger Reeder die GHH über einen ähnlich gelagerten Arbeitskampf auf den Schiffen der Hamburger und Bremer Reeder. Diese meinten, beim „Verein Deutscher Kapitäne und Offiziere der Handelsmarine" eine gefährliche Radikalisierung festzustellen: Die Offiziere hätten sich auf den Schiffen mit den Seeleuten solidarisiert. Wenn sie das hingenommen hätten, wäre den Reedern die Verfügung über ihre Schiffe auf See entzogen worden. Daher hätten die Reeder alle ihre Kapitäne und Offiziere verpflichtet, aus dem Verein auszutreten. Nur ca. 40 Männer hätten sich geweigert und seien deshalb sofort entlassen worden. Der Vergleich mit der See-Schifffahrt und der uneingeschränkten Kommandogewalt des Kapitäns und letztlich der Reederei muss Reusch besonders gefallen haben. Er hatte den Hinweis auf die Verpflichtungserklärung und die Entlassung in diesem Schreiben dick angestrichen.⁷²

    Beim Spitzenverband der Arbeitgeber würde man sich noch sechs Jahre später, im November 1917, an den Konflikt der GHH mit dem Butib erinnern. Woltmann schickte der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände das gedruckte Schreiben der GHH an die Kölner Stadtverordneten.⁷³

    Reuschs Härte im Umgang mit den Angestellten wurde ein Vierteljahr später beim Bergarbeiterstreik erneut auf die Probe gestellt. Die erschreckende Kompromisslosigkeit, mit der er allen gewerkschaftlichen Bestrebungen entgegen trat, mag teilweise darauf zurückzuführen sein, dass er im Vorfeld der Reichstagwahlen gerade die Erfahrung gemacht hatte, dass auch die Gremien der Nationalliberalen Partei sich von den Großunternehmern nicht einfach herumkommandieren ließen. Auch in der Parteipolitik profilierte sich der junge Generaldirektor auf dem äußersten rechten Flügel des politischen Spektrums.

    Politisches Engagement in nationalistischen und erzkonservativen Gruppen: Die „Deutsche Vereinigung"

    Reusch sondierte zunächst sorgfältig, wo im bürgerlich-nationalen Lager für ihn als Spät-Starter die besten Profilierungschancen bestanden. Im Alldeutschen Verband dominierte der Chef seiner Konkurrenzfirma Krupp Alfred Hugenberg. Dort wurde Reusch folglich nicht aktiv.

    Auch im „Hansabund", am 12. Juni 1909 in Berlin gegründet, um die Interessen von Handel und Industrie bei der Reichsfinanzreform gegen die großagrarischen Junker zur Geltung zu bringen, überließ Reusch das Feld den alten Recken der Schwerindustrie. Auf der Liste des Direktoriums finden sich so prominente Namen wie Kirdorf, Springorum von der Hoesch-AG in Dortmund, Franz Haniel und natürlich Hugo Stinnes, nicht aber Paul Reusch.⁷⁴ Die Mitarbeit der Schwerindustrie in dem gemäßigten bürgerlich-liberalen Hansabund war von Anfang an eher taktisch motiviert. Man wollte verhindern, dass politische Aktivitäten im bürgerlichen Lager bzw. in der Nationalliberalen Partei in ein allzu „links-orientiertes Fahrwasser gerieten. Sobald jedoch klar wurde, dass sich der Hansabund nicht „als politisches Instrument der Großindustrie … nutzbar machen⁷⁵ ließ, kam es, noch vor der Reichstagswahl von 1912, zum Bruch: Die Schwerindustrie beteiligte sich an der Gründung der „Niederrheinisch-Westfälischen Bezirksgruppe zum Schutz und zur Förderung der Interessen von Gewerbe, Handel und Industrie", einer Organisation, die offen zum Austritt aus dem Hansabund aufforderte. Kirdorf übernahm in diesem Konkurrenzverband den Vorsitz; im geschäftsführenden Ausschuss war die gesamte Crème der westlichen Industrie vertreten; Reusch delegierte seinen Stellvertreter Woltmann in dieses Gremium.⁷⁶

    In der Folgezeit unterband der GHH-Chef jeglichen Kontakt seiner Firma zum liberalen Hansabund, selbst wenn dieser sich für die Interessen der Schwerindustrie einsetzte, so z. B. während des Bergarbeiterstreiks im März 1912, als der Hansabund Maßnahmen zum besseren Schutz der „Arbeitswilligen ankündigte und zur Vorbereitung um Material zu diesem Thema aus den betroffenen Firmen bat. Reusch vermerkte auf diesem Schreiben lediglich: „nicht antworten!⁷⁷. Nach dem Streit über die Reichsfinanzreform, bei der die konservativen Adeligen im Bündnis mit dem Zentrum jegliche Ausdehnung der Erbschaftssteuer hatten abblocken können, näherte sich die Schwerindustrie den großagrarischen Junkern wieder an und trat gemeinsam mit ihnen für Schutzzölle und die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts ein. Dies war offenbar ganz in Reuschs Sinn: Schon 1910 und 1911 hatte es die GHH abgelehnt, Beiträge für den Wahlfonds der Nationalliberalen Partei oder des Hansabundes zu leisten. In schroffem Ton ließ Reusch dem Präsidenten des Hansabundes mitteilen, „dass die Gutehoffnungshütte keine Veranlassung hat und sich nach Lage der Verhältnisse nicht entschließen kann, für den Wahlfonds des Hansabundes irgend welche Beiträge zu leisten".⁷⁸

    Reusch selbst war schon im März 1909, noch vor der Gründung des Hansabundes, der erz-konservativen und stramm nationalen „Deutschen Vereinigung" beigetreten. Dort stand ihm keine der prominenten Gestalten der Schwerindustrie im Wege, so dass er bereits zwei Jahre später Mitglied des Reichs-Vorstandes werden konnte.⁷⁹

    Die „Deutsche Vereinigung (DV) war 1907 von katholischen Gegnern der „ultramontanen Ausrichtung des Zentrums gegründet worden. Das Zentrum, so der Vorwurf der nationalistischen Kritiker, sei „immer mehr ins demokratische Fahrwasser geraten, habe sich den „dringendsten nationalen Forderungen der Reichsregierung verweigert und sich im Wahlkampf 1907 „teils offen auf die Seite der Sozialdemokratie gegen das Bürgertum" gestellt.⁸⁰ 1907 war das Jahr der sogenannte „Hottentottenwahl, die durch die ungezügelte nationalistische Agitation der Rechts-Parteien geprägt wurde. Es kennzeichnet die Mentalität der Konzernherren der GHH wenn der Aufsichtsratsvorsitzende Franz Haniel und der langjährige Generaldirektor Carl Lueg in dieser nationalistisch aufgeheizten Stimmung den Gründungsaufruf der „Deutschen Vereinigung mit unterzeichneten. Ihre Unterschrift stand neben der von 32 Rittergutsbesitzern, 58 Gutsbesitzern, 25 Kommerzienräten, 4 Bankiers, 57 Fabrikanten, 56 Kaufleuten, 16 Offizieren und 326 Beamten.⁸¹

    Reusch hatte sich zuvor genau erkundigt und dabei erfahren, dass sich die Rechtskreise von der „Deutschen Vereinigung" die Abwerbung national denkender Katholiken vom Zentrum erhofften.⁸² Die Satzung legte als Hauptzweck die „kraftvolle Förderung der vaterländischen Interessen fest. Dem dienten die „Sicherung und Stärkung der politischen und wirtschaftlichen Machtstellung des Deutschen Reiches, … die Pflege des christlichen und deutschen Charakters unseres Staats- und Volkslebens, … der Ausgleich der konfessionellen Gegensätze, … die Erhaltung eines lebens- und leistungsfähigen Mittelstandes und „die Bekämpfung der Sozial-demokratie".⁸³ In direkter Konfrontation mit dem Zentrum agitierte die DV in ländlichen Regionen vor allem des Ostens gegen das Koalitionsrecht der Landarbeiter und für die Unterdrückung der Polen.⁸⁴ Diese Themen spielten naturgemäß in der Industrieregion an der Ruhr nur eine untergeordnete Rolle.

    Das Aufblühen der Deutschen Vereinigung machte gleichzeitig den „Reichsverband gegen die Sozialdemokratie überflüssig. Paul Reusch blieb zwar vorerst Mitglied in diesem „Reichsverband, zahlte aber nur einen Beitrag von 20 Mark im Jahr und akzeptierte, dass die meisten leitenden Angestellten der GHH ihren Austritt erklärten. Bergassessor Kellermann führte genau Buch darüber.⁸⁵

    Reusch war nach seinem Beitritt zur „Deutschen Vereinigung" intensiv bemüht, in Oberhausen eine eigene Ortsgruppe ins Leben zu rufen. Am 15. Januar 1911 waren mehr als 100 sorgfältig ausgewählte Honoratioren zur Gründungsversammlung ins Beamten-Gesellschaftshaus der GHH eingeladen. 109 Anwesende trugen sich in die Mitgliederliste ein. Kein Arbeiter war darunter und natürlich keine Frau. Es wurde ein 15-köpfiger Vorstand gewählt mit Reusch als 1. Vorsitzendem.⁸⁶

    Zwei Monate später kam der Reichsvorsitzende, Seine Excellenz Graf zu Hönsbröch, nach Oberhausen, um im Saal des Herrn in der Beek über Zweck und Ziel der Deutschen Vereinigung zu referieren. Reusch betonte bei seiner Begrüßung, dass es ihm zuallererst um die „Förderung des konfessionellen Friedens gehe. „Man habe nur einen Wunsch, Frieden zu stiften. Möge es gelingen, diesen Frieden zu fördern nicht nur zum Wohle unserer Stadt, sondern auch zum Segen unseres gesamten deutschen Vaterlandes.⁸⁷ Der Hauptredner Graf Hönsbröch machte dann deutlich, auf welcher Grundlage nach den Vorstellungen der Herren in der Deutschen Vereinigung der erstrebte „Friede nur möglich war: Die Forderungen der rechts-konservativen Kreise in der Verfassungsfrage bezüglich Elsass-Lothringens, beim Schutz der sogenannten „Arbeitswilligen gegen den „Terrorismus der Sozialdemokratie", beim Protektionismus zugunsten von Schwerindustrie und Groß-Landwirtschaft und allgemein bei der Weiterentwicklung der Sozialpolitik seien zu erfüllen.⁸⁸ Seine Excellenz ließ es sich nicht nehmen, gegen den politischen Katholizismus zu polemisieren und löste dadurch in der Stadt eine heftige Kontroverse mit dem Zentrum aus.

    Der ihm nachfolgende Redner, Pfarrer Wessel aus dem benachbarten Mülheim an der Ruhr, heizte mit überschäumendem nationalistischem Schwulst die Emotionen noch stärker auf. Nach der Warnung der deutschen Katholiken vor der „roten Flut verweilte er lange beim Thema Elsass-Lothringen: „Das gemeinsame für unsere Ostmarkenpolitik und für unsere Verbeugungspolitik in Elsass-Lothringen ist, dass wir vergessen, dass wir da etwas überkommen [sic!] haben als ein Erbe von unseren Vätern, das sie uns hinterlassen haben, um dafür einzusetzen alles, was wir haben (Bravo): Gut und Blut, Weib und Kind, Heimat und Herd. Für dieses Elsass haben deutsche Männer geblutet und haben im Feld gestanden, der evangelische neben dem katholischen und haben einander die Hände gereicht, wenn das tödliche Blei den einen zur Seite riss, und haben sich ins Auge gesehen und nicht gefragt, bist du evangelisch oder katholisch, sondern sie haben einander begrüßt, und wars mit dem letzten Lächeln: ,Ich hatt’ einen Kameraden.’ Und darum ist es ein gemeinsames Gut, und das sollten wir den Französlingen ausliefern? Möchte der schwächlichen Regierung noch einmal im letzten Augenblick der furor teutonicus, der echte deutsche Zorn, den Weg zurückweisen.⁸⁹ Nachdem alle stehend „Deutschland, Deutschland über alles geschmettert hatten, „schloss Kommerzienrat Reusch die Versammlung mit dem Wunsche auf ein weiteres Blühen der Deutschen Vereinigung.⁹⁰ Drei Monate später wurde Reusch in den Vorstand der Deutschen Vereinigung für das Industriegebiet berufen.⁹¹

    Er war am 2. November 1911 bei einer vertraulichen Besprechung der Ausschussmitglieder für das Rhein-Ruhr-Gebiet anwesend, als für die bevorstehende Reichstagswahl vereinbart wurde, die nationalen Parteien zu unterstützen und sich bei einer Stichwahl notfalls hinter den Zentrumskandidaten zu stellen, wenn nur so die Wahl eines Sozialdemokraten verhindert werden konnte.⁹² Ergebnis der Duisburger Besprechung war ein äußerst polemisch formulierter Wahlaufruf gegen die SPD: Die Sozialdemokratie sei eine „internationale vaterlandslose Partei. Als in der Marokkokrise eine „gewaltige Erregung durch die deutsche Nation ging, „sannen die Häupter der Umsturzpartei auf Hochverrat und hetzten die Massen zum Generalstreik. Die Sozialdemokratie wolle die monarchische Staatsordnung zerstören, das Privateigentum aufheben und Religion und Familie vernichten. Aber besonders um die Armee und Marine sorgte sich die Deutsche Vereinigung: Eine starke SPD-Reichstagsfraktion würde „mit Hilfe national unzuverlässiger und schwankender Elemente dieses unser Rüstzeug … schwächen.⁹³ Reusch erklärte sich mit diesem Aufruf „voll und ganz einverstanden".⁹⁴

    Danach erreichte der Reichstagswahlkampf seine heiße Phase. Reusch und seine Unternehmerkollegen hatten sich massiv in die Nominierung des Kandidaten der Nationalliberalen Partei eingemischt.⁹⁵ Der Name der „Deutschen Vereinigung wurde bei der Stichwahl herangezogen, um zu erreichen, dass die Katholiken nicht für den Sozialdemokraten, sondern für den Nationalliberalen stimmten. Nach dem Erfolg im Wahlkreis Duisburg/Mülheim/Oberhausen wurde im Vorstand Bilanz gezogen. Reusch hielt fest, dass das Zentrum sich „in nationaler Hinsicht … gebessert habe, aber „auf sozialem Gebiete … auch fortan auf der Seite der Sozialdemokratie stehen würde. Deshalb sollte die Deutsche Vereinigung den „Kampf suaviter in modo weiter führen. Auf Reichsebene sollte sie sich verstärkt für ein „Zusammengehen von Industrie und Landwirtschaft" einsetzen.⁹⁶

    Abb. 3:„Deutsche Wacht", Bonn, 26. 11. 1911, Sonderdruck, Aufruf gegen die Sozialdemokratie, in: RWWA 130-300127/8

    Wie groß der Einfluss Reuschs in diesem Verband schon war, ist auch daran zu ermessen, dass die Generalversammlung am 21. April 1912 im Beekschen Saale in Oberhausen stattfand. Reusch lud alle Delegierten ins Hütten-Casino der GHH zum Essen ein.⁹⁷ Bei seiner Begrüßung brachte er die Genugtuung darüber zum Ausdruck, dass bei der Reichstagswahl im hiesigen Wahlkreis „Nationalliberale und Zentrum Schulter an Schulter kämpften und den Wahlkreis der Sozialdemokratie entrissen.⁹⁸ Die scharfen rhetorischen Attacken gegen die SPD und die Gewerkschaften überließ er dem Grafen Hönsbröch. Trotzdem griff ihn die katholische „Oberhausener Volkszeitung direkt an. Reusch sei einem „fundamentalen Irrtum unterlegen, als er behauptete, Zentrum und Nationalliberale hätten Schulter an Schulter gekämpft, da es der Deutschen Vereinigung gelungen sei, die konfessionellen Gegensätze zu überbrücken. Das Zentrum sehe in der Deutschen Vereinigung nach wie vor „eine Organisation, gegründet von einigen abtrünnigen früheren Zentrumsleuten zur Bekämpfung des Zentrums.⁹⁹ Reuschs Stellvertreter Woltmann referierte bei der Generalversammlung über „Industrie und Landwirtschaft und warb dafür, „Landwirtschaft und Industrie in jeder Weise zu fördern.¹⁰⁰ Dies konnte – so fasste die katholische „Volkszeitung" seinen Appell auf – nur durch Fortführung der Schutzzollpolitik sichergestellt werden.¹⁰¹ Woltmanns Gedanken über die Interessengemeinschaft von Industrie und Landwirtschaft bildeten den Auftakt für Reuschs hartnäckige Bemühungen zur Wiederbelebung des Bündnisses von Junkern und Schlotbaronen. Die Deutsche Vereinigung war für ihn dabei nur ein Forum unter mehreren.¹⁰²

    Zunächst war es wichtig, finanzkräftige Geldgeber für die Deutsche Vereinigung zu gewinnen. Deshalb begann Reusch noch vor der Generalversammlung in Oberhausen, bei seinen Unternehmerkollegen für diese Organisation zu werben, und erreichte, dass die Schwerindustrie des Ruhrreviers einen Jahresbeitrag von 8.500 Mark aufbrachte, wovon die GHH einen Anteil von 1.000 Mark übernahm.¹⁰³ Die Resonanz war jedoch nicht überall positiv. Während z. B. Springorum für die Firma Hoesch sofort zusagte, erhielt Reusch von Hugenberg für die Firma Krupp und vom wichtigsten Arbeitgeberverband der Ruhrindustrie, der sogenannten „Arbeitnordwest, eine Absage. Nach Reuschs verärgertem Protest, sagte „Arbeitnordwest wenigstens einen Beitrag von 1.000 Mark für die Ruhrgebietsgeschäftsstelle zu. Ab 1913 schickte Reusch jeweils im Dezember freundliche Erinnerungen an seine Kollegen, doch den Jahresbeitrag zu überweisen. Er fühlte sich jetzt stark genug, mit dem Austritt aus der Nord-Westlichen Gruppe des Vereins deutscher Eisen- und Stahlindustrieller und aus dem Arbeitgeberverband drohen zu können, sollten diese Organisationen der „Deutschen Vereinigung" die Unterstützung verweigern.¹⁰⁴ Beukenberg von der Phoenix AG, Vorsitzender dieser wichtigen Unternehmerverbände, verlangte als Gegenleistung von der GHH einen jährlichen Beitrag von 500 Mark für den stramm nationalistischen Deutschen Ostmarkenverein, den Reusch auch sofort zusagte.¹⁰⁵ Eine Hand wäscht die andere – dies galt offensichtlich auch für das Netzwerk rechts-konservativer und nationalistischer Vereine im Kaiserreich.

    Graf Hönsbröch konnte zu Ende des Jahres 1913 zufrieden Bilanz ziehen über den „Stand der Bewegung" im Industrierevier. Die Bildungsarbeit im Rahmen der von Reusch energisch geförderten gelben Gewerkschaften war seit dem Bergarbeiterstreik im März 1912 ins Zentrum der Aktivitäten gerückt.¹⁰⁶ Vorbild für diese Strategie war vermutlich Reuschs Vorgehensweise auf lokaler Ebene: Am 12. April 1913 hatte die Deutsche Vereinigung zu einem Vortrag des Generalmajors von Ditfurth über die Wehrvorlage in das Evangelische Gemeindehaus geladen.¹⁰⁷ Reusch hatte seinen Untergebenen die Anweisung erteilt, die Werkvereinsmitglieder zur Teilnahme an dieser Veranstaltung aufzufordern.¹⁰⁸ Der Herr Generaldirektor ließ es sich nicht nehmen, beim Vortrag des Herrn Generalmajors zu präsidieren. Stolz konnte er danach der Geschäftsstelle berichten, dass an diesem Abend 80 neue Mitglieder gewonnen wurden.¹⁰⁹ Die Ausrichtung der Agitation auf die wirtschaftsfriedlichen Werkvereine hatte sich also ausgezahlt. In Woltmanns Nationalem Bürgerverein wurden gleichzeitig diskret die „vom Zentrum abgefallenen Personen registriert, dies waren z. B. im Juli 1913 Gastwirt Kassen, Brücktor, sowie der Bauunternehmer Borges „nebst Bruder und Schwiegervater (Erbauer des Katholischen Krankenhauses und des Vereinshauses Union). Reusch wurde umgehend darüber informiert.¹¹⁰

    Bei der Vorstandssitzung im Januar 1914 bekräftigte der Reichsvorsitzende Graf Hönsbröch die zentralen Programmpunkte der Deutschen Vereinigung. Intern war vom „konfessionellen Frieden nicht mehr die Rede. Stattdessen verlangte Hönsbröch, den Kampf gegen die „immer stärker hervortretende Demokratie im politischen Leben, vor allem auch gegen die Linkstendenzen in der Nationalliberalen Partei, zu verstärken. Dem „Bestreben der sozialdemokratischen und bürgerlichen Demokratie …, im Volk das Vertrauen zu unserer Schutzzollpolitik zu untergraben, müsse Einhalt geboten werden. Das erz-reaktionäre „Kartell der schaffenden Stände, wie sich das Bündnis von Junkern und Schwerindustrie jetzt nannte, wurde dagegen freudig begrüßt. Alle sozialpolitischen Forderungen der Gewerkschaften wies Graf Hönsbröch entschieden zurück; folgerichtig empfahl er die entschlossene Förderung der gelben Gewerkschaften. Reusch war bei der Vorstandssitzung anwesend; zweifellos identifizierte er sich rückhaltlos mit diesem Programm.¹¹¹

    Auch wenn der Stil der Verlautbarungen der „Deutschen Vereinigung zurückhaltender war als beim „Alldeutschen Verband oder beim „Deutschen Ostmarkenverein, so ist doch nicht zu bestreiten, dass auch hier die „politische Religion¹¹² eines aggressiven reichsdeutschen Nationalismus zelebriert wurde. Dies war kein gutmütiger Patriotismus, sondern eine nationalistische Ideologie, zu deren unverzichtbaren Bestandteilen der Hass auf äußere und innere „Reichsfeinde" gehörte. Es war nur konsequent, dass sich Reusch bei der Reichstagswahl von 1912 mit aller Kraft dafür einsetzte, den Sozialdemokraten den Wahlkreis Duisburg/Oberhausen/Mülheim wieder zu entreißen und einen zuverlässig rechtsstehenden Kandidaten durchzubringen. Dies sollte jedoch nur zum Teil gelingen.

    Einfluss auf die Nationalliberale Partei vor Ort

    Vor Ort im Reichstagswahlkreis Duisburg-Mülheim-Oberhausen besorgte teilweise Reuschs Stellvertreter Woltmann das politische Tagesgeschäft. Das enge Vertrauensverhältnis dieser beiden Herren bestand schon, bevor Reusch zum ersten Mann in der GHH aufrückte und als Woltmann noch Syndikus der Handelskammer Duisburg war. Die feinen Unterschiede in der Diktion, auf die Reusch Wert legte, werfen ein bezeichnendes Licht auf seine politische Einstellung. Als Woltmann im Februar 1907 in Sterkrade einen „nationalliberalen Jugendverein gründen wollte und dafür Reusch um Unterstützung bat, empfahl dieser, „nicht einen nationalliberalen Jugendverein, sondern einen nationalen Bürgerverein ins Leben zu rufen.¹¹³ Im Januar 1910, noch bevor Woltmann seinen neuen Posten als Reuschs Stellvertreter übernahm, berichtete er seinem künftigen Chef ausführlich von einer Versammlung der Nationalliberalen Partei in Mülheim a.d. Ruhr, bei der die „Stellung der bürgerlichen Partei „nach rechts und links erörtert worden sei. Leider sei kein Vertreter der Industrie anwesend gewesen. Er regte deshalb eine Besprechung mit allen wichtigen Industriellen des Wahlkreises an, „um den Herren das politische Gewissen etwas zu schärfen. Sonst ist hier in unserem eigenen Hause alles verloren.¹¹⁴ Es ist schon beeindruckend, wie hier der „Herr-im-Haus-Standpunkt über den Betrieb hinaus auf den ganzen Wahlkreis Duisburg-Mülheim-Oberhausen ausgedehnt wurde! Dass die beiden führenden Herren der GHH ein gutes halbes Jahr nach Gründung des eher gemäßigten Hansabundes eine zu „linke Ausrichtung der Nationalliberalen befürchteten, steht außer Zweifel. Reusch gab Woltmann prompt die erwünschte Rückenstärkung: Er stehe „voll und ganz auf [dessen] Standpunkt, dass derartige Versammlungen unbedingt von maßgebenden Persönlichkeiten der Industrie besucht werden müssen.¹¹⁵

    Reusch und Woltmann ergriffen frühzeitig die Initiative, um für die Reichstagswahl 1912 im Wahlkreis Duisburg/Mülheim/Oberhausen einen der Industrie genehmen Kandidaten ins Rennen zu schicken. Der Centralverband deutscher Industrieller stellte für diesen Wahlkreis überdurchschnittliche finanzielle Unterstützung – die Rede war von mindestens 10.000 Mark – aus dem Wahlfonds des CdI in Aussicht, knüpfte dies aber an die Bedingung, dass die Nationalliberalen einen der Industrie genehmen Kandidaten nominierten.¹¹⁶ Der örtliche Parteisprecher, der Mülheimer Unternehmer Liebreich, stand deshalb ein Jahr vor der Wahl bereits im Kontakt mit der Großindustrie. Er versicherte dem stellvertretenden Chef der GHH, genau nach dessen Wünschen zu verfahren.¹¹⁷ Reusch war nämlich zu diesem Zeitpunkt in höchstem Maße alarmiert über die Nominierung des Parteivorsitzenden Bassermann, den die Schwerindustrie dem liberalen linken Flügel zuordnete, in Saarbrücken. So etwas sollte ihm vor seiner Haustür nicht passieren. Hier wollte Reusch den rechten Flügel durch die Nominierung von Wilhelm Hirsch, als Syndikus der Essener Handelskammer der Ruhr-Industrie eng verbunden, stärken. Die Chefs der GHH sahen die Gefahr, dass der Wahlkreis sonst „unzweifelhaft einem Linksliberalen in die Hände fallen"würde.¹¹⁸

    Bei einer geheimen Versammlung in der Duisburger Getreidebörse, zu der neben den GHH-Herren u. a. auch Kirdorf und Stinnes eingeladen hatten, erschien am 11. März 1911 die gesamte Crème der Ruhr-Industrie und folgte einstimmig Reuschs Vorschlag, Wilhelm Hirsch für den Wahlkreis Duisburg-Oberhausen-Mülheim zu nominieren. Der Mülheimer Fabrikbesitzer Liebreich kam für die Ruhr-Barone nicht in Frage, weil er als Alt-Liberaler die gemäßigte Linie des Parteivorsitzenden Bassermann unterstützte.¹¹⁹ Nur am Rande sei erwähnt, dass eben dieser Dr. Liebreich sich zu gleicher Zeit übler antisemitischer Angriffe von katholischer Seite zu erwehren hatte. Die Zentrumsnahen „Deutsch-sozialen Blätter hetzten gegen ihn als „getauften Juden, … der in zweiter Ehe wieder eine Jüdin geheiratet hat. … Wie man hört, blüht uns der letztere als nationalliberaler Reichstagskandidat.¹²⁰ Hirsch kommentierte die Zeitungsnotiz mit der bissigen Bemerkung, dass den Katholiken die Verdrängung des Sozialdemokraten Hengsbach anscheinend weniger wichtig sei. Für sie sei die „rote Gefahr nicht so groß …, dass sie deswegen ihre antisemitischen Instinkte bekämpfen sollten."¹²¹ Aber auch Hirsch, der Mann der rechts-orientierten Großindustrie des Reviers, hielt natürlich nichts von der Nominierung des liberalen Mittelstandsvertreters Liebreich.

    Spielte bei der Zurückweisung Liebreichs die Rücksicht auf die „antisemitischen Instinkte mancher Katholiken nicht doch eine Rolle? Gab es nicht vielleicht doch die Befürchtung, dass es bei einer Stichwahl schwer sein würde, die Unterstützung der Zentrumswähler für einen zwar getauften, aber geschiedenen und in zweiter Ehe mit einer Jüdin verheirateten Kandidaten zu gewinnen? Von Reusch sind antisemitische Äußerungen nicht bekannt, er pflegte die Kontakte zu mehreren Unternehmern jüdischer Herkunft. In den Kreisen der Industriellen waren antijüdische Vorurteile bisweilen jedoch sehr wohl ein Thema. So erkundigte sich der Direktor des Krupp-Gruson-Werkes in Magdeburg Kurt Sorge ganz diskret bei Reusch über einen Ingenieur, der hervorragende Zeugnisse vorweisen konnte, sich aber wegen seiner mäßigen Gehaltsforderungen verdächtig gemacht habe. Sorge bat Reusch, der den Mann aus seiner Zeit bei der Friedrich-Wilhelms-Hütte kannte, um „streng vertrauliche Mitteilung „namentlich auch darüber, ob er etwa semitischen Ursprungs ist, was nach der beigelegten Photographie nicht ganz unwahrscheinlich sein dürfte."¹²² Eine Antwort von Reusch findet sich nicht in den Akten.

    Im Zentralwahlkomitee der Nationalliberalen Partei, das am 13. März in Mülheim zusammentrat, wusste man sehr wohl, wie sehr Liebreich in der Duisburger Getreidebörse unter Druck gesetzt worden war. Dieser war keineswegs sofort eingeknickt, sondern hatte seinen Verzicht auf die Kandidatur vom Votum der Parteigremien abhängig gemacht. Wenn er allerdings auf seine Kandidatur verzichte, so stellte er unmissverständlich klar, würde er gleichzeitig auch den Vorsitz der Nationalliberalen Partei im Wahlkreis niederlegen. Die Stimmung im Ausschuss, der vor dem Plenum des Zentralwahlkomitees zusammentrat, war gespalten; eindeutig für den Industriekandidaten Hirsch waren nur die Vertreter von Oberhausen und Sterkrade.¹²³ Man darf gewiss vermuten, dass hier der Einfluss der GHH-Herren Reusch und Woltmann wirksam geworden war. Im Plenum charakterisierte Liebreich den Favoriten der Industrie wie folgt: Hirsch sei Angestellter der Industrie, fremd im Wahlkreis und gehöre zum äußersten rechten Flügel der Nationalliberalen Partei. Neben den Vertretern von Oberhausen und Sterkrade sprachen sich nur die Delegierten aus Meiderich, dem Standort der Rheinischen Stahlwerke, und Ruhrort, dem Sitz der Firma Haniel, für den Industriekandidaten aus. Die geheime Abstimmung brachte eine knappe Mehrheit gegen Hirsch. Die Herren von der Nationalliberalen Partei wollten aber natürlich nicht ganz auf das Geld aus der Industrie verzichten. Man schlug deshalb vor, gemeinsam nach einem Kompromisskandidaten zu suchen: „Herr Kommerzienrat Reusch wird gebeten, einen Tag zu bestimmen, an welchem die Industriellen mit Vertretern der nationalliberalen Organisation zu diesem Zweck zusammentreten können."¹²⁴ Nach der Aufmüpfigkeit in der Versammlung der Vertrauensleute rückten Sätze wie dieser die gesellschaftliche Hierarchie wieder zurecht. Woltmann informierte sofort seinen Chef, der sich zu Verhandlungen über die Erzgruben in der Normandie in Paris aufhielt, über das Ergebnis der Abstimmung.¹²⁵

    Nach einer öffentlichen Vortragsveranstaltung des „Nationalen Bürgervereins" mit Reusch und Oberbürgermeister Havenstein am Vorstandstisch und Woltmann als Versammlungsleiter, bei der eine Resolution zugunsten von Hirsch beschlossen wurde, schickte Woltmann entsprechende Briefe an alle führenden Industriellen des Reviers, u. a. an Stinnes und Kirdorf.¹²⁶ Als der Favorit der Schwerindustrie bei einer weiteren Vertrauensmänner-Abstimmung am 29. März 1911 erneut durchgefallen war, obwohl Woltmann sich energisch für seine Nominierung ins Zeug gelegt hatte, schaltete Reusch sich wieder persönlich ein. Nach einem Gespräch mit Hirsch, worauf dieser großen Wert gelegt hatte, sprach er Stinnes und Kirdorf an. Diese erschienen aber nicht zu einem Treffen von Ruhr-Industriellen mit Vertretern der Nationalliberalen Partei in der Duisburger Getreidebörse am 24. April 1911, so dass dort Reuschs energischer Einsatz für Hirsch erneut ohne Erfolg blieb.¹²⁷

    Jetzt musste eine andere der Industrie genehme Person gefunden werden. Von seinem Urlaub im tschechischen Karlsbad aus gab Reusch deshalb die Anweisung, einen gewissen Kommerzienrat Passmann zu unterstützen. Dieser Kommerzienrat musste aber zunächst gedrängt werden, „die Bürde des Mandats" überhaupt anzunehmen.¹²⁸ Die Delegierten der Nationalliberalen Partei, die sich im Juni 1911 im Hof von Holland in Oberhausen trafen, blieben jedoch bei ihrer ablehnenden Haltung; gegen Passmanns Nominierung wurde nach Woltmanns Eindruck „in einer der Industrie geradezu feindseligen und in der Form maßlosen Weise gefochten. Die Delegierten favorisierten nach wie vor die Kandidatur des Mülheimer Fabrikbesitzers Liebreich. Woltmann berichtete, er sei diesem Vorschlag „aufs Schärfste entgegengetreten und habe [Liebreich] in keiner Weise geschont. Die Entscheidung sei daraufhin um zwei Wochen vertagt worden; einen eigenen Kandidaten der Industrie durchzubringen, halte er aber jetzt für unmöglich. Man solle Liebreich akzeptieren, diesen aber inhaltlich auf bestimmte Programmpunkte festlegen. Um ganz sicher zu gehen, könnte man diese Marschroute durch eine Anfrage bei Kirdorf absichern.¹²⁹ Hirsch und seine mächtigen Hintermänner in der Industrie blockten Liebreich jedoch weiter ab.

    Wohl vor allem um die Unterstützung aus dem Wahlfonds der Industrie nicht zu gefährden, nominierte die Nationalliberale Partei im Herbst einen Kompromisskandidaten Dr. Böttger, mit dem auch Reusch und die anderen Industriellen leben konnten. Einzelne einflussreiche Unternehmer, z. B. Hasslacher von den Rheinischen Stahlwerken, blieben aber bei ihrer Ablehnung. Hasslacher machte Reusch den Vorwurf, er habe sich „von Liebreich einfangen lassen".¹³⁰ Dr. Böttger, ein Jurist, war seit 1887 hauptamtlicher Funktionär der Nationalliberalen Partei und hatte 1903 bis 1907 einen ländlichen Wahlkreis (Geestemünde-Ottendorf) im Reichstag vertreten.¹³¹ Für seinen Wahlkampf erhielt er zwar nur 3.000 Mark aus dem industriellen Wahlfonds, obwohl Woltmann sich für einen höheren Betrag eingesetzt hatte, aber die GHH und die Concordia Bergbau-AG schossen über 6.000 Mark zu.¹³² Woltmann erhielt für seinen Nationalen Bürgerverein 2.000 Mark, die indirekt auch dem nationalliberalen Kandidaten zugute kamen.¹³³

    Von den großen Werken in Oberhausen wurden für den Wahltag Beamte und Schreibkräfte an das Wahlkreisbüro der Nationalliberalen Partei und an Woltmanns Nationalen Bürgerverein „abkommandiert". Die Löhne und Gehälter wurden für diese Zeit von den Firmen weiter gezahlt.¹³⁴ Nach der Wahl schickte Woltmann der Concordia die Abrechnung über die Kosten des Nationalen Bürgervereins bei dieser Wahl: Von den Gesamtkosten über 6.392,42 Mark übernahm der Centralverband deutscher Industrieller 2.000 Mark, die GHH 3.000 Mark, so dass für die Concordia 1.392,42 Mark verblieben, die auch prompt überwiesen wurden.¹³⁵

    Im ersten Wahlgang lag Dr. Böttger mit 34.416 Stimmen knapp vor dem Sozialdemokraten Hengsbach (33.179 Stimmen), der den Wahlkreis seit 1907 im Reichstag vertreten hatte. Auf dem dritten Platz folgte der Zentrumskandidat Kloft (31.785), der nur in Oberhausen mit 5.647 Stimmen recht klar vor dem Sozialdemokraten (4.767) und dem Nationalliberalen (4.610) gewonnen hatte. Vor Anbruch des Radio-Zeitalters versammelte sich das politisch interessierte Publikum am Wahlabend in Gaststätten und Kinos. Die Wirte und die Kinobesitzer („Biotophon-Theater) versuchten die Reichstagswahl als Publikumsmagnet zu nutzen: Die Wahlergebnisse wurden mit der neuen Lichtbildtechnik projiziert, und das als Beiprogramm zu Dortmunder Bier und „bestem Durchfallbitter oder zu dem Drei-Akter „Aus dem Leben eines Leutnants".¹³⁶

    Abb. 4:Generalanzeiger Oberhausen, 19. und 24. 1. 1912, Wahlaufruf im Wahlkreis Duisburg-Mülheim-Oberhausen, StA Oberhausen

    Die Oberhausener Wahlresultate dürften Reusch kaum gefallen haben. Deshalb setzte sich die „Deutsche Vereinigung im Wahlkampf für die Stichwahl mit großen Anzeigen für Dr. Böttger ein: Wegen der „Zwietracht der bürgerlichen Parteien habe die SPD bei der vorherigen Reichstagswahl die Zahl ihrer Mandate erheblich steigern können. Jetzt hoffe der SPD-Kandidat wieder auf „Wahlhülfe aus den bürgerlichen Lagern. Die wirtschaftlichen und kulturellen Interessen des Wahlkreises forderten „ein nach Außen starkes und im Innern gefestigtes Deutsches Reich. „Umso schmählicher wäre es, wenn dieser Wahlkreis der Sozialdemokratie erneut in die Hände fiele, der Partei, die doch nichts anderes kennt, als Unterwühlung der Grundlagen des Deutschen Reiches. Deshalb wurden alle „Mitbürger ohne Rücksicht auf ihre Konfession aufgefordert, für den Kandidaten der Nationalliberalen zu stimmen. Dieser Appell richtete sich vor allem an den großen Block der katholischen Zentrumswähler. Die Anzeige trug die Unterschrift von Reusch und Woltmann.¹³⁷ Berufsständische Organisationen hieben in die gleiche Kerbe. So wurden die Beamten in einer großen Anzeige aufgefordert, „gegen den Umsturz praktisch mitzuarbeiten und am Stichwahltage sich den Parteibüros der bürgerlichen Parteien zur Verfügung zu stellen".¹³⁸ Das Zentrum ließ sich nicht lange bitten und schloss mit den Nationalliberalen ein Wahlabkommen zur Unterstützung von Dr. Böttger gegen den Sozialdemokraten Hengsbach.¹³⁹ Der Nationale Bürger-Verein übernahm es, für die Zentrums-Wahlempfehlung zu trommeln. In riesigen, halbseitigen Anzeigen wurden für einen einzigen Tag sieben Versammlungen in allen Stadtteilen von Oberhausen angekündigt; interessant ist, dass in vier verschiedenen Lokalen jeweils katholische Kapläne als Redner auftraten.¹⁴⁰

    Die Kampagne der bürgerlichen Parteien und Verbände hatte Erfolg. Eine Mehrheit der Zentrumswähler stimmte in der Stichwahl vermutlich für den Nationalliberalen (63.534 Stimmen), nicht für den Sozialdemokraten (43.738). In Oberhausen erhielt Dr. Böttger 9.805 Stimmen gegenüber 6.697 für Hengsbach.¹⁴¹ Dies heißt, dass keineswegs alle Zentrumswähler des ersten Wahlganges ins bürgerlich-nationale Lager umgeschwenkt waren.

    Das Ergebnis im westlichen Ruhrgebiet war nicht repräsentativ für ganz Deutschland: Die Fraktion der Sozialdemokraten im Reichstag wurde mit 110 Sitzen doppelt so groß wie vorher, während alle bürgerlichen Parteien ohne Ausnahme Sitze verloren hatten – und dies zwei Tage vor Kaisers Geburtstag am 27. Januar! Die erzkonservative „Kreuz-Zeitung giftete gegen den liberalen Hansabund, dass „das unter jüdischer Führung stehende Großkapital gegen die Sammlungsparole der Rechten Partei ergriffen habe, dass „offen mit der ebenfalls der jüdischen Sache dienstbar gemachten internationalen Sozialdemokratie paktiert" worden sei.¹⁴²

    Paul Reusch saß beim Festbankett zu Kaisers Geburtstag am 27. Januar im frisch renovierten Restaurant am Kaisergarten neben Oberbürgermeister Havenstein, als dieser das Wahlergebnis zum Anlass nahm, um über

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1