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Mendelssohn auf dem Dach
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eBook286 Seiten5 Stunden

Mendelssohn auf dem Dach

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Über dieses E-Book

Der große vergessene Roman über die albtraumhafte Besatzung Prags durch die Deutschen – geschrieben von einem der wichtigsten tschechischen Autoren des 20. Jahrhunderts:

Heydrich tobt. Gerade erst hat der "Reichsprotektor von Böhmen und Mähren" das ehrwürdige Konzerthaus Rudolfinum zum "Haus der deutschen Kunst" umwidmen lassen, da entdeckt er unter den Komponistenstatuen auf dem Dach einen Juden: Mendelssohn-Bartholdy.

Der SS-Anwärter Julius Schlesinger erhält den Befehl, sich um dessen Beseitigung zu kümmern. Aber das ist schwieriger als gedacht. Denn erstens ist er nicht schwindelfrei und will nicht aufs Dach. Und zweitens finden die beiden mitgebrachten Tschechen, Bečvář und Stankovský, nicht heraus, wer der Fragliche ist – denn die Statuen tragen keine Namen.

Da hat Schlesinger eine Idee: Eben erst hat er gelernt, dass Juden die größten Nasen hätten. Zufrieden glaubt er seine Aufgabe erfüllt zu haben, als er die beiden wieder losschickt – zu Richard Wagner.

Was so komisch beginnt, wird im Laufe des Buchs ein großes, immer dunkleres und beklemmenderes Bild Prags und seiner Bewohner unter der deutschen Besatzung. Jiří Weil erzählt von der Verfolgung und Deportation der Juden, dem Wüten von SS, Gestapo und Wehrmacht, von Kollaboration und Bereicherung, aber auch von Widerstand und dem Attentat auf Heydrich. Je größer die Hoffnung auf ein Ende wird, desto mehr verengt sie sich zur Aussichtslosigkeit.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum31. Jan. 2019
ISBN9783803142481
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    Buchvorschau

    Mendelssohn auf dem Dach - Jiri Weil

    Welt.

    1

    Antonín Bečvář und Josef Stankovský liefen über das Dach, an den Statuen vorbei. Das war ungefährlich, die Statuen standen auf einer Balustrade, das Dach hatte keine Firste, es war fast eben. Julius Schlesinger, Magistratsbeamter und Anwärter der SS, ohne Rang, traute sich nicht aufs Dach. Mit einem höheren Rang hätte er nicht hier gestanden, sondern hätte eine einträglichere Stelle bei der Gestapo, doch dafür führte man beim Magistrat ein bequemeres Leben. Wie weit könnte er es als ehemaliger Schlosser schon bringen? Sie würden ihn höchstens an die Front schicken, in den Osten, und das wäre ein schlechter Tausch. Beim Magistrat war es ihm bisher gutgegangen, Widrigkeiten begannen erst jetzt.

    Er mochte nicht aufs Dach gehen. Die beiden Bediensteten grinsten hämisch: So ein Feigling, hat Angst, aus der Tür zu treten, und kommandiert bloß herum. Doch in acht nehmen mußte man sich vor den Deutschen, den Schöpsen, sie hatten so viele für nichts und wieder nichts eingesperrt oder zur Zwangsarbeit ins Reich geschickt, zum Beispiel wenn ein Befehl nicht sofort befolgt wurde.

    Schlesinger konnte Tschechisch, er stammte aus der Gegend von Brüx, wo Tschechisch gesprochen wurde. Eine Zeitlang hatte er bei Ringhoffer gearbeitet, im Auftrag, vor dem fünfzehnten März. Er hatte sich mehr davon versprochen gehabt. Immerhin hatte er sich sogar als deutscher Sozialdemokrat ausgeben müssen, damit ihn die Arbeiter akzeptierten. So ein schwieriger Auftrag war das gewesen, und trotzdem wurde er nur Magistratsbeamter und Anwärter der SS.

    Schuld war sein Name. Ja, wenn er Dvorzacek oder Nemetschek hieße, mit solchen Namen liefen Hunderte herum, das schadete nicht. Aber Schlesinger, und noch dazu Julius, das wirkte jüdisch und weckte überall Mißtrauen. Er trug seinen Ariernachweis, bis zum Urgroßvater und der Urgroßmutter, immer bei sich. Aber auch das war verdächtig, Dokumente konnte man fälschen. Schließlich war er bei Ringhoffer mit gefälschten Papieren eingestellt worden. Die hatte ihm der politische Leiter in Brüx gegeben.

    Aufs Dach würde ihn allerdings niemand kriegen, er hatte Angst, daß ihm schwindlig würde. Als frommer Katholik fürchtete er die Strafe Gottes, weil er sich einer Entheiligung schuldig gemacht hatte. Das hätte nicht passieren, das hätte er nicht tun dürfen. Vielleicht hätte er sich herauswinden, sich eine Krankheit ausdenken können. Aber die Rettung wäre das kaum gewesen, sie hätten ihn an die Front geschickt, womöglich in eine Strafkompanie. Der Befehl, die sterblichen Überreste des Unbekannten Soldaten zu beseitigen, war direkt von Frank gekommen, wie Krug ausdrücklich gesagt hatte, dem dies wiederum von Gieß aufgetragen worden war. Also war nichts weiter übriggeblieben, als zu gehorchen. Und außerdem, wer sonst als er, ein ehemaliger Schlosser, wäre für die Aufgabe in Frage gekommen?

    Hier auf dem Dach ging es um etwas anderes. Um eine Statue, eine jüdische. Eine Judenstatue vom Dach zu werfen, und dann noch einen Komponisten, das war keine Sünde. Eine Statue kann sich nicht vor dem Himmelsthron beklagen. Doch wer kennt Gottes Wege, es ist schon vorgekommen, daß eine Statue eine Strafe vollstreckt hat. So eine Oper hatte Schlesinger einmal gesehen. Aber würde eine Statue das am hellichten Tag tun?

    Die heutige Zeit ist merkwürdig. Gesetze gelten nicht, der Tag kann zur Nacht werden. So eine schwere Sünde wird nicht vergeben. Wer würde ihm Absolution erteilen für die Zange, die Schraubenzieher, die Blechschere und die Metallsäge? Für so eine Sünde gibt es keine Absolution. Es sei denn, er würde nach Rom pilgern, wie es früher üblich war, und den Papst um Vergebung bitten. Was würden seine Vorgesetzten sagen, der Halunke Krug oder der dicke Dr. Buch, der Gestapo-Vertrauensmann! Schließlich hatte er eine Erklärung unterschrieben, bei Todesstrafe nichts zu verraten, auch nicht der eigenen Familie. Und wenn er es dem Pfarrer beichtete, wer weiß, ob der ihn nicht denunzieren würde – die Gestapo hatte auch unter den Pfarrern ihre Spitzel. Bis zum Papst reichte ihre Macht zwar nicht, aber wie zum Papst gelangen? Vielleicht gab es irgendeine Gelegenheit, die Strafe dürfte ihn nur nicht treffen, bevor er Absolution erhalten hatte, sonst half nichts, und er müßte ewig in der Hölle schmoren.

    Die beiden Bediensteten zogen ein dickes Seil mit einer Schlinge hinter sich her und gingen gleichgültig die Balustrade entlang. Dort standen viele Statuen, alles Komponisten. Sie blickten auf die Straße, die menschenleer war, ja, es war Werktag, alle arbeiteten, die Hochschulen waren geschlossen, hin und wieder schlüpfte jemand ins Kunstgewerbemuseum. Die Leute gingen ungern hier entlang, eine SS-Kaserne und jüdische Ämter waren in der Nähe, es war ein SS-Viertel. So etwas Idiotisches, mit einem Strick auf dem Dach herumlaufen und eine Statue suchen, so etwas konnte nur den Schöpsen mit ihrer Gründlichkeit einfallen. Wer weiß, ob sie mit einer so großen Statue überhaupt zu zweit fertig würden. Schlesinger wollte nicht mehr Leute hinzuziehen, damit die Sache nicht publik wurde. Sie hatten ihm geschworen, Schweigen zu bewahren, so ein Schwachsinn, als würden die Leute nicht merken, wenn eine Statue fehlt. Mit den neuen Herren war nicht zu reden. Wozu das Herumgaffen auf dem Dach, warum kam Schlesinger nicht und sagte ihnen, was und wie.

    »Herr Chef, wir könnten anfangen. Aber welche Statue ist es? Sie brauchen bloß mit dem Finger darauf zu zeigen«, rief Bečvář ungeduldig.

    Die Anrede »Herr Chef« mißfiel Schlesinger, die Leute wußten noch nicht einmal, wie sie ihre Vorgesetzten anzureden hatten, sie hatten keine Disziplin gelernt, niemand jagte sie zu Marschübungen wie ihn, allenfalls trieben sie Schwarzhandel und zogen Gemüse in ihren Gärten. Er herrschte sie an:

    »Gehen Sie die Balustrade entlang und sehen Sie auf die Sockel, bis Sie den Namen Mendelssohn finden. Lesen können Sie doch hoffentlich.«

    »Wie heißt der Jude?« fragte Stankovský. Er hielt seine Dienstmütze fest, damit der Wind sie nicht forttrug, auf seine Dienstmütze, Zeichen seiner Würde, legte er größten Wert, zur Zeit der Tschechoslowakischen Republik hatte sie etwas gegolten. Städtischer Bediensteter wurde nicht jeder, man war beim Magistrat angestellt und hatte Pensionsanspruch. Bei den Deutschen konnte man allerdings nie wissen. Aber Mütze war Mütze.

    »Men – dels – sohn«, buchstabierte Schlesinger.

    »Ah ja«, sagte Bečvář.

    Sie gingen langsam an der Balustrade entlang und sahen auf die Sockel. Daß dort keine Inschriften waren, wußten sie längst, aber wenn Schlesinger wünschte, daß sie dort entlanggingen, warum sollten sie ihm den Gefallen nicht tun.

    Schließlich verkündete Bečvář: »Herr Chef, auf den Sockeln sind keine Inschriften. Wie sollen wir den Mendelssohn erkennen?«

    Das war eine schöne Bescherung. Niemand hatte ihm erklärt, wie die Statue des Juden aussah. Aber auch wenn man es ihm erklärt hätte, würde es nichts nützen, die Statuen sahen eine wie die andere aus. Er hatte sich auf die Inschriften am Sockel verlassen, Denkmäler haben gewöhnlich Inschriften. Fragen konnte und durfte er niemanden. Wie Mendelssohns Statue aussah, wußte bestimmt nur der stellvertretende Reichsprotektor, weder Frank noch Gieß oder gar Krug. Heydrich wußte es, weil er Musiker war. Aber wer würde es wagen, sich bei ihm zu erkundigen?

    Schlesinger sah aus der Tür, überlegte fieberhaft, starrte auf die Statuen. Selbst wenn er sich überwand und aufs Dach hinaustrat, würde er unter so vielen Statuen ebensowenig wie die Bediensteten den Juden herausfinden. Die beiden standen gemütlich da und warteten auf seinen Befehl. Wahrscheinlich grinsten sie sich eins, aber merken ließen sie sich nichts, ihre Gesichter waren stumpf, ausdruckslos, bestimmt sagten sie sich: Dann warten wir eben, uns läuft nichts weg. Doch er, Schlesinger, mußte den Befehl ausführen. Der kam direkt vom stellvertretenden Reichsprotektor, und der war unerbittlicher als Frank. Einem Befehl nicht Folge zu leisten – jeder wußte, was das bedeutete. Krug hatte ihm vor jener Expedition zum Altstädter Rathaus erläutert, daß im Hinterland dieselben Gesetze galten wie an der Front. Die Front war überall, zumal in diesem Land, wo sie alle damit betraut waren, die Untermenschen den Gesetzen des Reiches zu unterstellen, zumal in diesem Land galten militärische Gesetze. Einem Befehl nicht zu gehorchen, bedeutete den Tod. Auch wenn der Befehl unverständlich war.

    »Ah ja«, sagte Bečvář.

    »Das Seil ist nicht stark genug, es wird reißen. Man müßte es erst probieren, na ja, immer diese Eile«, brummte Stankovský. Er wollte noch hinzufügen: Wir stehen ganz umsonst herum; aber er ließ es lieber. Schlesinger zerbrach sich über irgend etwas den Kopf und war wütend. Die Deutschen, diese Schöpse, waren allesamt verrückt. Bald würde Mittag sein, und wenn sie nicht binnen einer Stunde fertig wären, kriegten sie in der Kantine kein Essen mehr.

    Endlich hatte Schlesinger einen Einfall: »Geht noch einmal an den Statuen entlang und guckt euch genau die Nasen an. Wer die größte Nase hat, ist der Jude.«

    Schlesinger hatte einen Weltanschauungslehrgang besucht, dort waren Vorträge über Rassenlehre gehalten und Diapositive gezeigt worden. Auf ihnen hatte man Nasen und daneben ein Zentimetermaß gesehen, jede Nase war sorgfältig gemessen. Es war eine sehr tiefe, schwierige Wissenschaft, jedoch mit einfachen Ergebnissen. Die besagten, daß die Juden die größten Nasen hätten.

    Die Bediensteten liefen die Statuen entlang. So eine idiotische Arbeit: die Statue mit der größten Nase suchen. Bečvář zog den Zollstock aus der Tasche, den er immer bei sich hatte. Er hatte Tischler gelernt, bevor er beim Magistrat zu arbeiten begann, und jetzt baute er nach der Arbeit Kaninchenställe. Davon konnte man gut leben, die Leute rissen sich darum, Kaninchen waren in Mode.

    »Mach keinen Quatsch«, Stankovský schob ihn beiseite, »mit Messen halten wir uns nicht auf. Jetzt wird’s ernst, jetzt geht’s ums Mittagessen. Wer die größte Nase hat, das sehen wir doch mit einem Blick – oder nicht?«

    »Schau dir den mit dem Barett an«, rief Bečvář. »So eine Nase hat keine andere Statue. Pepík, dem lege ich das Seil um den Hals.«

    »Prima«, Stankovský war einverstanden, »na los.«

    Sie zogen am Seil, die Statue begann schon zu wackeln. Schlesinger sah aus der Tür.

    Plötzlich schrie er: »Jesus Maria, hört auf, hört auf!«

    Bečvář und Stankovský ließen das Seil los. Der übergeschnappte Schöps, sollte er doch selbst nachsehen, welche Statue die größte Nase hat.

    Schlesinger brach Angstschweiß aus. Von all den Statuen kannte er außer dieser keine einzige. Diese stellte Richard Wagner dar, den größten deutschen Komponisten, kein gewöhnlicher Musiker, sondern einer von denen, die die Grundlagen des Dritten Reiches geschaffen hatten. Porträts und Gipsbüsten von ihm gab es in fast jeder Wohnung, und bei den Lehrgängen wurden Vorträge über ihn gehalten.

    Die Bediensteten ließen ratlos das Seil los, die Schlinge baumelte um Richard Wagners Hals.

    Schlesinger schwieg und überlegte angestrengt. Dann fragte er: »Hat diese Statue wirklich die größte Nase?«

    »Na klar, Herr Chef«, sagte Bečvář, »die anderen haben ganz normale.«

    »Packt das Werkzeug zusammen«, befahl Schlesinger, »wir gehen zum Rathaus.«

    Bečvář und Stankovský nahmen die Schlinge von Wagners Hals ab und stiegen herunter.

    Schlesinger schritt die Treppe hinunter, ohne sich nach ihnen umzusehen. Also war es doch eine Statue, die die Strafe an ihm vollstreckte. Anders als in der Oper, aber ausgeführt wurde die Rache von einer Statue. Überdies am hellichten Tag.

    Die Todsünde damals hatte er nachts begangen. Sie waren mit dem Auto abends um zehn Uhr angekommen und hatten vor dem Altstädter Rathaus gehalten. Im Wagen waren zwei von der Gestapo. Er hatte Zange, Schraubenzieher, Feile, Blechschere und Metallsäge mit. Das Auto fuhr auf den Hof. Durch den Hintereingang gelangten sie ins Rathaus. Dort erwartete sie Krug. Die beiden von der Gestapo kicherten, offenbar waren sie betrunken, aber sie verhielten sich leise, sie konnten sich trotz ihrer Trunkenheit beherrschen. Zwischen ihnen wankte er mit seinem Werkzeug, als sei auch er betrunken, dabei hatte er keinen Tropfen zu sich genommen und noch nicht einmal etwas gegessen, seit Krug ihn zu sich gerufen hatte. Er hatte ihn in die Aufgabe eingeweiht, die ihn erwartete, und die Verpflichtung unterschreiben lassen. Sie gingen hinunter in die Kapelle. Die Gestapoleute hatten es eilig, »los, los, schnell, schnell«, zischten sie immerzu, mechanisch, das waren die eintrainierten Worte. Zuerst entfernten sie die Kranzschleifen, dazu brauchten sie ihn nicht, das erledigten sie selbst, sie hatten vorsorglich Kartons mitgebracht. Sie grinsten bei der Arbeit, im matten Licht der abgeschirmten Glühbirnen in der Krypta sahen ihre Gesichter wie Teufelsfratzen aus. Ja, namenlose Teufel, deren Stimmen wie aus einem Grammophontrichter schallten, standen links und rechts von ihm. Dann begann seine Arbeit. Er schraubte den Sargdeckel los, riß die Verzierungen ab, schnitt den Sarg mit dem Blechschneider auf und rollte das Blech zu mehreren Rollen zusammen. Er arbeitete wie eine Maschine. Dann nahm er den Holzkasten aus dem Sarg, in dem sich die Knochen des Unbekannten Soldaten befanden und Erde. Das alles trug er ins Auto. Die Gestapoleute halfen ihm nicht dabei. Auf dem Hof wartete Krug, er sah auf seine Uhr mit dem Leuchtzifferblatt, eine von denen, wie sie die Offiziere an der Front bekommen, und sagte: »Jetzt ist es zwei Uhr. Gute und schnelle Arbeit. Ich werde Sie für das Eiserne Kreuz zweiter Klasse vorschlagen. Davon mache ich Herrn Primator Pfitzner Meldung.«

    Schlesinger hatte nicht geantwortet, er schleppte den Kasten. Sie konnten denken, er sei müde, sie konnten sich alles mögliche denken. Schweigend stiegen sie ins Auto, nahmen ihn in die Mitte auf dem Rücksitz, den Kasten stellten sie neben den Fahrer. Sie fuhren durch die tote, verdunkelte Stadt und über die Brücke auf die andere Seite der Moldau. Der Fluß aber lebte, er allein war zu erkennen, an seinem Glänzen inmitten der dunklen Leere. Schlesinger hatte keine rechte Vorstellung, wohin sie fuhren, dachte zunächst, sie würden zur Gestapo fahren und dort alles übergeben. Doch sie rasten in der schwarzen Limousine ganz woandershin, schrecklich weit weg. Im stillen betete er. Die Gestapoleute schliefen. Sie überquerten noch eine Brücke, Schlesinger erkannte, daß sie auf der Rokoska waren. Wollten sie etwa über die Rumburger Straße ins Reich fahren? Oder zu Heydrich, damit er sich persönlich vom Inhalt der Holzkiste überzeugte? Nein, sie bogen nach links, fuhren am Trojaer Ufer entlang. Der Fahrer hatte offenbar Instruktionen. Der Wagen hielt dicht am Fluß. Die Gestapoleute erwachten und stiegen mit ihm zusammen taumelnd aus dem Auto. Der Fahrer zog einen großen Sack unter dem Sitz hervor. Die Gestapoleute sammelten Steine und befahlen ihm wortlos mitzusammeln. Alles geschah leise, beim bläulichen Tarnlicht der Taschenlampen. Die Holzkiste, das Blech und die Steine warfen sie in den Sack. Alle packten an, holten Schwung und warfen den Sack in hohem Bogen ins Wasser. Dann erst sprach einer der Gestapoleute:

    »Fertig.«

    Sie hatten ihn dort abgesetzt, wo sie losgefahren waren, am Altstädter Rathaus, nahe seiner Wohnung in einem neuen Haus in der Langen Straße. So hatte die Nacht seiner Todsünde geendet. Und als Rache kam jetzt ein Gespenst, die Statue eines jüdischen Komponisten, um ihn dafür zu bestrafen, daß er mitgeholfen hatte, die sterblichen Reste des Unbekannten Soldaten zu beseitigen. Seit jener Nacht lebte er ständig in Angst, mußte er sich das schreckliche Verbrechen der Schändung und Entweihung ständig vergegenwärtigen, aber hätte er denn anders handeln, hätte er sich herauswinden können, da Krug ihm gedroht hatte und die beiden Gestapoleute ihn auf Schritt und Tritt bewachten?

    Einem Befehl nicht zu gehorchen, bedeutet den Tod, hatte Krug damals gesagt, und das galt, solange Krieg war und womöglich auch danach.

    Es hatte keinen Sinn, sich mit Vorwürfen den Kopf zu zermartern. Schweigend gab er den Dachbodenschlüssel dem Pförtner, der fragte nicht weiter, wie hätte er das auch wagen können.

    Er trat auf die Straße. Die Dienstleute wagten nicht, neben ihm zu gehen, aber sie hefteten sich an seine Fersen, als freuten sie sich über sein Unglück, als warteten sie darauf, daß ihn die Gestapo abholte.

    »Was wollt ihr?« herrschte er sie an.

    »Weiter nichts, Herr Chef«, begann Bečvář harmlos, »weil es mit der Statue doch nichts wird, möchten wir gern Mittag essen gehen. Danach sind wir selbstverständlich wieder zur Stelle.«

    »Verschwindet!« brüllte Schlesinger. »Wenn ich euch brauche, finde ich euch schon. Und sei es beim Essen.«

    Die Dienstleute gingen in die Kantine, Schlesinger ins Rathaus.

    »Na ja«, sagte Bečvář.

    »Idiotischer Schöps. Zu Mittag gibt’s wieder bloß Kartoffeln und Soße«, seufzte Stankovský.

    Schlesinger erkundigte sich gar nicht erst, ob Krug in seinem Büro war.

    Krug saß am Tisch und knurrte nur, ohne sich zu rühren, als er grüßte. Aber an seinem Gesicht erkannte Schlesinger, daß etwas im Schwange war. Krug ist gerissen, dem entgeht nichts, er weiß alles.

    »Na«, fragte Krug streng, »Befehl ausgeführt? Gieß hat schon nachgefragt.«

    »Nein«, erwiderte Schlesinger leise.

    »Wieso nicht?« schrie Krug. »Haben die beiden Kerle die dämliche Arbeit etwa nicht geschafft? Dann schicke ich sie heute noch zum Totaleinsatz. Schlagen sich hier im Protektorat den Wanst voll und können nicht mal eine gewöhnliche Statue runterreißen. Sie hätten ihnen helfen sollen, Schlesinger, oder sie antreiben, das ist ein sträfliches Versäumnis. Ihnen wird wohl nichts anderes übrigbleiben, als sich das Eiserne Kreuz an der Front zu verdienen.«

    Schlesinger stand stumm, er zitterte am ganzen Leib. Mühsam stammelte er: »Die Statuen sind nicht mit Namen gekennzeichnet. Ich konnte den Juden nicht erkennen.«

    Krug warf ihm ein ordinäres Schimpfwort an den Kopf. Dann verstummte er. Sie schwiegen beide, Schlesinger die Hände an der Hosennaht, Krug mit übereinandergeschlagenen Beinen am Tisch.

    Jesus Maria, Jungfrau Maria, himmlische Fürbitterin, vielleicht würde es nicht so schlimm, da Krug ihn nicht sofort abführen ließ. Er brauchte bloß zum Telefonhörer zu greifen, im Nu wären sie hier. Aber Krug schwieg, er steckte auch in der Klemme. Natürlich, Krug war Gieß verantwortlich und dieser Frank und der Heydrich, und wenn der Befehl nicht ausgeführt wurde, würden Heydrich und Frank sie allesamt einsperren lassen, allenfalls Gieß verschonen und ihm irgendwie eine andere Strafe verpassen, Heydrich brauchte ihn, doch Krug käme bestimmt zu Fall. Ihm würden weder seine Verdienste aus der Vorkriegszeit noch die Teilnahme am Polenfeldzug helfen.

    Endlich sagte Krug friedfertig: »Der Befehl muß ausgeführt werden, der Herr General duldet keine Ausflüchte.« (Mit Bedacht benutzte er Heydrichs militärischen Rang, um die Bedeutung des Befehls zu betonen.) »Was gedenken Sie jetzt zu unternehmen?«

    Schlesinger wollte der Kopf platzen. Schnell etwas finden, sich etwas ausdenken, um Zeit zu gewinnen. Doch ihm fiel nichts ein. Gieß fragen, wenn er wieder anriefe? Das bedeutete einzugestehen, daß der Befehl nicht ausgeführt war, außerdem konnte Gieß ihnen keinen Rat geben, er wußte sowieso nicht, wie die Statue aussah, das wußte nur Heydrich. Gleich würde Krug wieder losbrüllen, die Angst saß auch ihm im Nacken, er würde seine Haut um jeden Preis retten wollen, und vor ihm auf dem Tisch stand das Telefon. Noch einen Moment, und er würde zum Hörer greifen.

    »Ich denke«, schlug Schlesinger vor, »wir sollten aus den SS-Kasernen Hilfe anfordern. Die sind in der Nähe des Rudolfinums, dort wird man schon einen Sachkundigen zu finden wissen. Wir haben den Befehl direkt vom stellvertretenden Reichsprotektor, deshalb wird man uns das nicht abschlagen.«

    Krug überlegte. Schlesinger war zwar ein Idiot, aber die Idee war nicht schlecht. Noch vorteilhafter wäre es, sich an die Gestapo zu wenden, die hatte Experten für alles, da fänden sich auch Musiker, doch es war gefährlich, sich mit der Gestapo einzulassen. Die konnte es dem Protektorat melden, und noch bevor die Statue vom Dach herunter wäre, hätte Heydrich Bescheid gewußt, was Krug für eine Null war. Dann würde er der Strafe nicht entgehen, Heydrich kannte keinen Pardon. Das SS-Kommando würde sich dagegen kein Kopfzerbrechen machen. Die waren gewöhnt, Befehle auszuführen, ohne weiter zu fragen. Sie würden sich nicht erst beim Protektorat erkundigen, ihnen genügte es zu hören, daß Krug Scharführer und Schlesinger Anwärter waren.

    »Versuchen Sie es«, stimmte er gnädig zu, »und erstatten Sie mir Meldung.«

    Das Telefon schrillte. Gieß, dachte Schlesinger. Krug antwortete: »Noch nicht, aber heute bestimmt, eine kleine Verzögerung, technische Schwierigkeiten, ja, ich verstehe, Befehl von höchster Stelle, wird gemacht, Sie können sich darauf verlassen.«

    Krug legte den Hörer auf und befahl Schlesinger zornig: »Und jetzt aber los, ich will Sie erst wiedersehen, wenn die Statue entfernt ist. Verstanden?«

    Schlesinger schlug die Hacken zusammen und empfahl sich mit dem vorgeschriebenen Gruß. Krug erwiderte ihn nicht einmal.

    2

    Die Ouvertüre zu »Don Giovanni« war verklungen. Im Saal brauste der Beifall. Die Musik war nicht gerade nach seinem Geschmack, Mozart war zu süß, zu fein, zu beruhigend. Doch Mozart gehörte zu Prag, und mit keiner anderen Musik konnte man im Rudolfinum beginnen. Mozarts Musik war zum ersten Mal in dieser Stadt erklungen, als sie noch im österreichischen Sumpf schlief, jetzt schlief sie auch, jedoch den Schlaf einer Leiche unterm Fuß des Siegers. Eines Tages aber würde sie als deutsche Stadt erwachen, und dann würde auch hier andere Musik erklingen. In seiner Jugend in Halle hatte er Mozart geliebt. Damals hatten sie ihn zu Hause im Quartett gespielt, und ihm war es beschieden gewesen, die zweite Geige zu spielen. Die zweite Geige, das würde nie mehr vorkommen, er runzelte die Stirn. »Don Giovanni« war auch Vaters Lieblingsoper gewesen, von Kind

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