Sisyphus: Ein glücklicher Mann
Von Michael Opielka
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Über dieses E-Book
Michael Opielka
Michael Opielka lebt in Siegburg und Jena. Neben neun Gedichtbänden veröffentlichte er bisher vier Romane, zuletzt "Dolce Vita. Römische Elegie".
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Buchvorschau
Sisyphus - Michael Opielka
Des Herzens Woge schäumte nicht so schön empor, und würde Geist, wenn nicht der alte stumme Fels, das Schicksal, ihr entgegenstände.
Friedrich Hölderlin, Hyperion, Kapitel 11
Inhalt
Manon
Sisyphos
Zwei
Drei
Maske
Wieder drei
Fast gut genug
Erste Ankunft
Montags
Vergänglichkeit
Don Juan und Faust
Tango
Zu leicht
Bitte melde dich nicht mehr
Liebedichlieder
Korinth
Ödipus
Utopia
Autos
Abhaftung
Autonomie
Epilog
Der folgende Text ist vom Autor ausgedacht. Jahreszahlen dienen nur der Verhältnisbestimmung. Ob das Geschriebene Wirklichkeit war, ist für die Leserinnen und Leser nicht von Belang.
Manon
Er war nach Athen gereist, um zu sich zu kommen. Er hatte noch eine Woche, genauer gesagt, es waren noch zehn Tage. Dann wird sein Auge die Wahrheit sagen, diesmal ist es das linke, es liegt näher am Herzen. Das Zentrum der Netzhaut hat sich nach drei Operationen in zwei Monaten vernarbt, Gliose sagten die Ärzte zu ihm. Wir müssen sie gleich operieren, forderte der König der Augenärzte. Vielleicht gibt es noch eine Chance auf den kleinen Weg, hoffte sein Herz und seine Augenärztin stimmte zu. Versuchen wir es mit der Augenakupunktur, mit Zeit, mit Ruhe, ich schreibe Sie krank. Aber dann war Weihnachten ganz nah und die Gliose noch immer da, ein wenig war sie geschrumpft, zu wenig für Optimismus, genug für den letzten Versuch. Erst buchte er sich in Lissabon ein, dann dachte er über Marokko nach und reservierte einen Flug nach Tel Aviv, es sollte Sonne sein, der Süden, er suchte schöne Bilder.
Jetzt sitze ich in Alexander’s Cigar Lounge im ersten Stock des Hotel Grande Bretagne in Athen. Es ist zu kühl, um im Freien zu sitzen, auch der Süden kennt den kleinen Winter. Griechenland beginnt das gesetzliche Rauchverbot ernst zu nehmen. Hier ist es erlaubt, dem Internet sei Dank, eine Raucherlounge im Kolonialstil, sie sitzt im Innenhof, umgeben von noblen Fassaden, unter ihr der große Salon, den ich eben noch bewundernd fotografierte. Du reist wie ein König, hatte sie ihm vorwurfsvoll in sein Handy geschrieben, es war erst vorgestern, da saß er am ersten Weihnachtsfeiertag in der Business Class Lounge der Lufthansa in Frankfurt. Zum ersten Mal seit fünfundzwanzig Jahren fliege er so, antwortete er entschuldigend, und auch nur, weil er den Flug mit Meilen bezahlen und so die zehn Tage ausnutzen konnte, die ihm blieben.
Es wird ein schwankendes Buch werden, vielleicht war ich auch deshalb so müde vorhin, bevor ich im Netz nach den Raucherorten in Athen suchte. Wie beginne ich ein Buch, das so schwer sein kann. Ich behalte mir den Er vor, den Blick von außen. Ich weiß, dass sich das nicht geschmeidig liest, der Wechsel zwischen Innen und Außen, ohne einen allwissenden Beobachter einzuführen. Der womöglich das Manuskript entdeckt hat, nachdem der Autor verloren ging. Als der Hotelbus in den Syntagma-Platz einbog, rechter Hand das ockergelbe Parlament mit seinen geschlossenen, brüchigen, lindgrünen Rollläden, rief ich Agni an. Es ist dreieinhalb Jahre her, wir hatten sie mehrmals getroffen, auch zu Hause besucht, sie war neunundsiebzig Jahre alt, eine stolze Griechin, Präsidentin einer griechischen Umweltorganisation. Für unseren letzten Abend in Athen lud sie uns in ein Fischrestaurant am Meer ein. Am Nachmittag wurde unser Mietwagen aufgebrochen, wie konnte ich nur das iPhone im Kofferraum lassen. Wir verbrachten den Abend in einer gemächlichen Polizeiwache, um den Diebstahl zu melden, erst aus dem Hotel konnte ich sie erreichen, uns betrübt entschuldigen dafür, dass sie vergeblich auf uns gewartet hatte. Ob ich nicht wisse, dass sie im April diesen Jahres gestorben sei. Wir haben einen neuen Präsidenten gewählt, einen Professor der Universität von Athen, sagte der Mann am Telefon. Sie war zweiundachtzig Jahre alt geworden.
Wegen Sisyphos war ich nach Athen gekommen. In Korinth gab es kein Hotel, auf das ich mich freuen wollte. Es ist über dreitausend Jahre her, dass er dort König war. So begnüge ich mich mit Athen. Morgen werde ich nach Korinth fahren, es soll sonnig werden. Seitdem wir dort waren, in jenem Sommer, als Agni noch lebte, eröffnet mein Laptop mit einem Bild des Apollon-Tempels. Der Pausenbildschirm zeigt die Marmortafel mit einem Satz aus den Briefen des Paulus an seine Gemeinde in Korinth. Da war Sisyphos schon eintausendvierhundert Jahre gestorben. Er hatte sich sehr dagegen gewehrt.
Die Ankunft im Hotel war mühsam. Dem edlen Flug folgte langes Warten auf den günstigen Mietwagen aus dem Hotelpaket. Niemand wartete in der Ankunftshalle. Nach mehreren Anrufen wurde ich abgeholt, die Mietwagenfirma war weit entfernt vom Flughafen, auch dort wartete ich lange. Sie bekommen einen besseren Wagen, verkündete die eilige Frau am Schalter, einen Diesel. Mir war das recht, ich bin seit langem Diesel-Freund. Mittlerweile war es dunkel, es wurde nichts mit der Fahrt im Tageslicht, auf die ich mich gefreut hatte, auf den Blick auf die Akropolis. Das Hotel lag weit ab vom Zentrum. Das Zimmer war klein, der Blick nach außen düster, das Upgrade nicht königlich. Ich ließ mir ein anderes Zimmer zeigen. Doch das blickte zur Stadtautobahn. So blieb ich, immerhin war der Zugang zur Lounge eingeschlossen. Dort lobte der Dumont-Führer das Stavros Niarchos Kulturzentrum, es musste ganz in der Nähe sein. Ich fragte an der Rezeption, direkt gegenüber sei es, hier, nehmen Sie das Weihnachtsprogramm. Im einsamen Zimmer studierte ich das eindrucksvolle Angebot, die Berliner Philharmoniker zum Sylvesterkonzert, der Eintritt kostenfrei, doch die Registrierungsfrist war längst vorbei. Ich erinnerte mich an die euphorischen Berichte in den deutschen Feuilletons zum Entwurf von Renzo Piano, Nationaloper und Nationalbibliothek waren in den Prachtbau gezogen. Draußen war es dunkel. Vielleicht gibt es eine Oper. Morgen spielen sie Manon von Jules Massenet. Ich kannte weder die Oper noch die Geschichte, die sie erzählt, kaufte online eine Karte, erster Balkon, dritte Reihe, und sandte die Karte zum Ausdruck an die Hotelmanagerin. Am nächsten Morgen wurde sie unter der Zimmertür in meinen kleinen Raum geschoben. Sie hat sich gelohnt. Ich beginne mich mit Athen wieder anzufreunden.
Die katholische wie die evangelische deutsche Gemeinde in Athen feiern ihre Gottesdienste in abgelegenen Vororten, wieder hilft das Internet. Wie den zweiten Weihnachtsfeiertag feiern. Die griechische Orthodoxie feiert ihn nicht, den Stephanstag, so will ich ihn allein feiern, ohne allein zu sein. Mitten im Zentrum finde ich die neobyzantinische Bischofskirche, doch zuerst betrete ich ihre kleine Mittelalter-Schwester Panagia Gorgoepikoos, die alle Führer loben. Der Zutritt ist nur in den Vorraum erlaubt. Die Staatskirche ist großzügiger, einige Reihen sind für die Betenden geöffnet. Zwischen Gebeten schreibe ich ein kleines Gedicht und sehe den Gläubigen zu, die alle verfügbaren Ikonen küssen, als ob sie ohne ihre Küsse verschwinden könnten. Draußen vor der Tür bricht die Sonne aus den griechischen Wolken und begleitet meinen Weg um die Akropolis. Warum hatten wir damals den Aeropag-Hügel nicht entdeckt, auch diesmal führen mich nur meine schlendernden Augen hinauf. Wie wunderbar, sagen sie, dass du uns das zeigst, die Agora von oben, die Akropolis dem freien Blick von unten. Der Weihnachtsfeiertag hält sie geschlossen, ebenso das Akropolis-Museum. Führerlos lasse ich mich treiben, steige von oben die Plaka hinab. Eine Musiktaverne kommt mir bekannt vor. Zwei Musiker spielen Bouzouki. Die Erinnerung an unseren Sommer, damals, es war ein Abend, hatten die Gäste getanzt. Einige Straßen weiter, wieder ein zielloser Zufall, stehe ich vor dem Juwelier, aus dem ich dich beschenkte. Wollte ich nach Athen, um mich an unseren letzten gemeinsamen Urlaub zu erinnern, der so lange her ist.
Vom Hotel aus sind es wirklich nur wenige Meter zur Fußgängerunterführung, die mich direkt vor dem Kulturzentrum entlässt. Niarchos war einer der griechischen Reeder-Milliardäre, Onassis ein anderer, Jacqueline Kennedy hatte ihn geheiratet, altes Zeitungswissen. Mehr als eine halbe Milliarde Euro hat die Niarchos-Stiftung in das Zentrum investiert, das Geld der Griechen kommt zu den Griechen zurück. Es ist gut angelegtes Geld. Früher war dort Sumpfland, lese ich an den Bauzäunen, die eine verbliebene Grabungsstätte begrenzen, tausende von Gräbern hat man dort gefunden, vor allem Kinder, so viele sind früher so früh gestorben. Vor einem Jahrhundert war dort der schönste Strand Athens, später Brachland, ein modriger Parkplatz für illegale Autorennen. Piano, ein schöner Name für einen, der so Schönes baut. Schöne Aussicht, Kallithea, heißt das Viertel, das keine schöne Aussicht mehr kannte. Er hat sie zurückgebracht, eine brillante Idee. Aus der Erde wächst die Nationalbibliothek und geht über in die Nationaloper, eine gigantische Rampe des Sinns, erst aus Worten, dann aus Musik, die nach Westen weist, überdacht von einem mutigen, steinernen Segeldach, gehalten von festen Eisendrähten, es schwebt in die Sonne. Die Menschen ziehen mit lächelnden Augen über den breiten, begrasten Aufweg und sehen auf das Meer.
An der Opernkasse kaufe ich das Programmbuch, so erspare ich mir am Abend die kleine Last und kann mich einlesen. Auch Wikipedia hilft, selbst das deutsche Libretto findet sich im Netz. Manon Lescaut soll sechzehnjährig ins Kloster, sie ist bezaubernd und ihre Eltern wollen sie verhüllen. Ihr Cousin, dem Spiel verfallen, soll sie begleiten, doch das Glücksspiel lenkt ihn ab. Je nach Quelle beeindruckt sie den Finanzminister, seinen adligen Freund De Brétigny und einen Chevalier des Grieux, der ihr gleich im Gasthaus verfällt und sie nach Paris verführt. Die Geschichte des Abbé Prevost wurde immer wieder vertont, Jules Massenet war am erfolgreichsten. Es ist Manons erste Reise, sie erfreut sich am Glitzer, sie wird ihren Chevalier gegen De Brétigny eintauschen, der ihr Reichtum und Freiheit verspricht. Des Grieux wird vor seinem Vater und vor allem vor der flüchtigen Manon in ein Priesterseminar flüchten, seine Liebesverse gegen wortgewaltige Predigten eintauschen, Manon wird ihm folgen, ihn aus der Verdrängung des Eros befreien und aus Geldlust dazu bringen, im Hotel Transsylvanien beim Glückspiel sein Glück zu versuchen, das er hat und das ihm doch nichts nützt. Sein Spielpartner, der Finanzminister, auch er ein gehörnter Liebhaber der Schönen, die ihre Schönheit als Kapital kennt, wird beide verhaften lassen, sein Vater wird ihn befreien, nicht sie, aber er wird es versuchen, doch sie, als Prostituierte verhaftet und in