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Später Aufbruch
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eBook350 Seiten4 Stunden

Später Aufbruch

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Über dieses E-Book

Im Frühjahr 2014 wird der 48-jährige Marketingmann M. Ressagg vollkommen überraschend gekündigt und muss seinen Arbeitsplatz unverzüglich räumen.
War er zu teuer? War er zu unbequem? Er wird es nie erfahren.
Es beginnt ein verzweifelter Kampf um einen neuen Job. Immer wieder teilt man Ressagg mit, dass man für eine Stelle besser geeignete Bewerber gefunden hat. Die angeblich besetzten Positionen werden jedoch erneut ausgeschrieben.
Alle Wege zu einem Neubeginn sind knapp vor dem 50. Geburtstag versperrt. Also tritt Ressagg vollkommen unvorbereitet zur Aufnahmeprüfung an einer Lehrerbildungsanstalt an und katapultiert sich überraschend in die vorderste Reihe der Studienwerber. Das Studium scheint allerdings nicht finanzierbar. Ein Brandschreiben an den Leiter der AMS-Niederlassung und ein unglaublicher Zufall machen es schließlich möglich, dass er die Ausbildung zum NMSLehrer antreten kann.
Während dieser drei Jahre macht Ressagg allerhand kuriose Erfahrungen. Er scheint in eine vollkommen andere Welt einzutreten. Mit satirischem Unterton beschreibt der Autor diese „Studentenwelt“, berichtet aber in zahlreichen Rückblenden auch von absurden Vorkommnissen in einem mittelständischen Familienbetrieb. Es wird deutlich, über welche Mechanismen Untergebene drangsaliert werden und wie Firmengeld geschickt für private Interessen eingesetzt wird.
Diese Satire bietet tiefe, oft erschütternde Einblicke in die Welt eines mittelständischen Unternehmens und zieht Vergleiche zur Parallelwelt der angehenden Akademiker.
SpracheDeutsch
HerausgeberINNSALZ
Erscheinungsdatum10. Mai 2018
ISBN9783903154759
Später Aufbruch
Autor

Martin Ressagg

Der Autor, welcher unter diesem Namen noch niemals auffällig geworden ist, wurde 1965 geboren. Kindheit und Jugend verbrachte er im Oberpinzgau, wo er Volks- und Hauptschule besuchte, schließlich ins Gymnasium wechselte und 1983 maturierte. Obwohl man ihn beim Bundesheer rasch zum Offizier machte, sah er dort nicht seine Zukunft. Er beschloss, Lehrer zu werden. Aber Turbulenzen im privaten Umfeld vereitelten diese Absicht, so landete er in der Privatwirtschaft. Seine Kreativität und seine Leistungsbereitschaft verhalfen ihm zu recht passablen Anstellungen, die er aber aufgrund unglücklicher Fügungen bisweilen wieder verlor. Nach der letzten Kündigung im Jahr 2014 schienen plötzlich alle Türen verschlossen. Die Idee, als Lehrer zu arbeiten, war aber immer noch da. Trotz gewisser Widrigkeiten konnte er das entsprechende Studium absolvieren und arbeitet seit 2017 an einer NMS.

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    Buchvorschau

    Später Aufbruch - Martin Ressagg

    Frank

    Ende Jänner hatten sie Frank gekündigt. Frank war zuletzt Außendienstmitarbeiter in Deutschland, nachdem er zuvor in Nordamerika für die Firma gearbeitet hatte. Seine Kündigung hatte sich abgezeichnet. Die Chefin hatte ihn schon lange Zeit wie Luft behandelt. Saß er gemeinsam mit einem anderen Außendienstmitarbeiter im Büro, so begrüßte sie diesen recht freundlich, ignorierte Frank jedoch demonstrativ. Immer wieder hatte er es sich erlaubt, bei der Abrechnung seiner Reisekosten und Provisionen die Erfüllung der mit der Firma ausgehandelten Konditionen einzufordern. Er akzeptierte keine einseitigen Verkürzungen seiner Ansprüche, das kostete ihn die Sympathien der Geschäftsleitung. Zwar war Frank ein »Piefke«, aber er war wirklich in Ordnung. Das war schon sehr bald klar, man überhörte seine Sprache und sah einen positiven, dynamischen, selbstbewussten Kerl, der seiner Arbeit mit viel Engagement nachkam. Seine Schwachstelle war der Innendienst: Hatte er einen Kunden an der Angel, ließ man sich bei den Angeboten wochenlang Zeit und war schließlich auch nicht bereit, bei den Listenpreisen ein paar Prozent nachzugeben, um einen neuen Kunden zu gewinnen. Noch schlimmer war allerdings, wie sehr der Ruf der Firma in Deutschland dadurch litt, dass Reklamationen nur sehr zögerlich und möglichst zum Nachteil des betroffenen Kunden bearbeitet wurden. Diesem Umstand wollte man ursprünglich entgegenwirken, indem man im Norden Deutschlands eine Werkstätte mit Büro mietete.

    Für wirklich gutes Geld setzte man dort einen Techniker hin, der so in der Nähe der Kunden sein konnte. Mark war, wenn er nüchtern war, ein sehr guter Mann. Die Technik im Blut. Aber seine Wochenenden waren meist recht intensiv, am Montag konnte man oft noch eine deutliche Alkoholfahne wahrnehmen. Bei den Frauen war Mark extrem beliebt: drahtig, muskulös, geheimnisvolle dunkle Augen, immer gut gelaunt, charmantes Lächeln. Aber das war auch sein Pech: Wenn ein Mann allzu begehrt ist, fehlt ihm schließlich die Energie für ausdauerndes, konsequentes Arbeiten. Dass er dort oben in Deutschland als Einziger in der Firma der strengen Kontrolle der Chefin und ihres Geheimdienstapparats entzogen war, tat ein Übriges dazu. So kam es, dass die deutsche Niederlassung still und heimlich nach eineinhalb Jahren wieder »abgedreht« wurde. Fortan existierte sie nur mehr auf der Homepage – der Juniorchef hatte wohl seine Gründe, mir die Löschung der Zweigstelle im Internet zu untersagen.

    Durch eine Reihe von Fehlentscheidungen hatte man den deutschen Markt ruiniert: Um die Jahrtausendwende waren etwa sieben bis acht Händler in Deutschland für die Firma tätig. Diesen hatte man jedoch Rabatte von etwa 30 Prozent gewähren müssen, da sie ja keinerlei Anspruch auf Ersatz ihrer Fixkosten hatten. Da die von der Firma Bammer hergestellten Maschinen und Geräte am Markt zu erheblichen Preisen verkauft wurden, kam es vor, dass ein Händler für einen einzigen Abschluss eine Provision von 30.000,- Euro oder mehr einstreifte. Das traf die Chefleute jedes Mal ins Mark. Sie beschlossen, die Händler auf unterschiedlichste Art und Weise zu vergraulen und den Markt dann durch eigenes Personal bearbeiten zu lassen. Das Ende war, dass der deutsche Markt für die Firma tot war und man Frank weder brauchte noch wollte. Frank war mittlerweile 49 Jahre alt geworden, die Zeit drängte. Hätte man noch zugewartet, würde man glatt riskiert haben, dass diese Kündigung als »sozialwidrig« eingestuft worden wäre. Möglicherweise hätte man eine Abschlagszahlung gebraucht, um einer Klage auf Wiedereinstellung zu entgehen. So aber konnte man sich noch recht billig von ihm trennen.

    Frank hatte sieben Jahre lang für das Unternehmen gearbeitet. Nun sollte er uns also verlassen. Das Ganze war von der Geschäftsleitung (bestehend aus Chef, Chefin und Junior) als geheime Kommandosache geplant worden. Nur die junge Lohnverrechnerin und die Buchhalterin wussten Bescheid. Die Lohnverrechnerin war eine »gute Haut«. Offenbar konnte sie sich ganz schwer damit arrangieren, von der Geschäftsleitung zur »Geheimnisträgerin« auserkoren worden zu sein. Sie wusste, dass ich mit Frank in engem Kontakt stand. Am Vorabend des geplanten Ereignisses stand sie also plötzlich bei mir und bestellte einige Blatt Geschäftspapier mit dem Briefkopf der deutschen Niederlassung. Dieses Papier wurde selten benötigt, daher musste ich es im Bedarfsfall mit dem Laserdrucker produzieren. Kein Wort kam über ihre Lippen. Allerdings merkte ich ihre Unruhe. Wenig später rief sie mich zu sich, sie wisse nicht genau, wie sie die von mir produzierten Vordrucke in ihren Drucker einlegen muss, damit der Brieftext auf der richtigen Seite gedruckt wird. Ich startete in ihr Büro. Wieder sagte sie kein Wort. Sybilla, die Buchhalterin, saß nur wenige Meter entfernt. Sybilla war in der ganzen Firma als Zuträgerin und als verlässliches Mitglied der Geheimdienst-Brigade unserer Chefin bekannt. Einen Mausklick später erschien auf dem Bildschirm das Dokument. Adressiert an Frank D. In der Kopfzeile das Wort »Kündigung«. Zwei Sekunden. Schon war das Dokument wieder ausgeblendet. Ohne ein Wort gewechselt zu haben, hatte mir die Lohnverrechnerin also mitgeteilt, dass Franks Kündigung geplant war. Und zwar für den nächsten Tag, Franks Bürotag. Es war klar. Die junge Kollegin hatte ihren Job aufs Spiel gesetzt, damit Frank am nächsten Tag nicht ins offene Messer laufen würde. Nun war es wohl meine Verpflichtung, diese Information weiterzugeben. Aber auch ich musste sehr vorsichtig sein. Würde man meine Nummer auf Franks Handy entdecken, wäre wohl klar, von wem die Warnung gekommen war. Die technischen Überwachungsmöglichkeiten für Mitarbeiter waren immer auf dem neuesten Stand. Würde ich aber mit unterdrückter Nummer anrufen, so war es wahrscheinlich, dass Frank nicht abheben würde. Daher entschloss ich mich, abends mit dem Handy meiner Frau zu telefonieren. Ich ging davon aus, dass diese Nummer der Firma nicht bekannt sein würde. Ich erreichte meinen Kollegen. Er überlegte kurz. Sollte er »auf krank« machen und den Flug versäumen? Aber was würde es bringen – einen Monat später wäre die Situation wieder dieselbe. So geschah es, dass Frank uns mit dem letzten Februartag des Jahres 2014 verließ.

    Frank war nicht der Letzte

    Der Nächste auf der Liste sollte ich sein. Auch ich hatte das 48. Lebensjahr schon seit einiger Zeit vollendet. Zwar war ich nicht in jener Weise »problematisch« wie Frank, da ich einen All-in-Vertrag hatte, der über mein Grundgehalt hinaus keinerlei Abgeltungen vorsah. So konnte auch nirgendwo ein Interpretationsspielraum entstehen. Aber auch ich war nicht »einfach«. Mein Problem war jenes: Obwohl ich keineswegs wie beispielsweise die Familie Bammer von »höherer Geburt« war, sondern lediglich einfacher Angestellter, verfügte ich provokanterweise über ein gesundes Selbstbewusstsein – eine Tatsache, die der Eigentümerfamilie suspekt war. Oft wurde mir von der Chefin in Gesprächen signalisiert, ich möge mich doch bescheidener, unterwürfiger geben. Den anfänglichen Intentionen der Geschäftsleitung, mich als »Zuträger« oder »Ausrichter« zu verwenden, war ich stets mit Ablehnung begegnet. Mein Selbstvertrauen schöpfte ich alleine aus der Tatsache, dass ich permanent ein hohes Quantum an guter Arbeit ablieferte, was mir von verschiedenster Seite immer wieder attestiert wurde. Ich hatte bereits vor meinem Eintritt in die Firma umfassende Kenntnisse in allen für diese Tätigkeit erforderlichen Programmen erworben. Kreativität, Verlässlichkeit und Organisationstalent waren mir wohl in die Wiege gelegt worden. Stets absolvierte ich auf eigene Kosten in meiner Freizeit wertvolle Fortbildungen, war also immer am Ball. Mein durchschnittlicher jährlicher Krankenstand lag über all die Jahre bei 0,4 Tagen. Die Chefin war aber trotzdem nie glücklich mit mir. Für sie war es extrem wichtig, Menschen um sich zu haben, die »geformt«

    werden konnten – ein Luxus, den ich nicht bieten konnte. Dennoch war ich der tiefsten Überzeugung, dass alle vorab genannten Vorzüge und das Damoklesschwert der »Abfertigung alt« mich vor einem Schicksal, wie es Frank getroffen hatte, bewahren könnten.

    Dieser 15. Mai war ein ganz normaler Arbeitstag. Die Chefin kam um neun. Eine Veranstaltung zum 30-jährigen Firmenjubiläum war in Vorbereitung. Auch ein privates Fest der Firmeninhaber warf seinen Schatten voraus – eine Einladungskarte für die Gäste musste rasch produziert werden. Wenige Minuten vor Dienstschluss hastete der Junior mit wichtiger Miene in mein Büro. »Kommst bitte rasch mit mir zum Chef!« Schreibblock und Kugelschreiber in der Hand folgte ich ihm ins Büro des Seniors. Dieser machte ein Gesicht, als plagte ihn Bauchgrimmen. »Nehmen Sie bitte Platz ... ich habe leider keine sehr guten Nachrichten für Sie …« Dann erklärte er mit Leidensmiene, wie leid es ihm tue, aber der böse Markt lasse ihm keine andere Chance. Die Preise seien überall im Keller, ein eigener Marketingmann daher ein unfinanzierbarer Luxus. Nein, man wolle alle meine Arbeiten künftig extern erledigen lassen, das sei sicher günstiger, als dafür jemanden fix zu beschäftigen. Dann erklärte er, dass ich ab sofort freigestellt sei. Ich möge doch bitte unverzüglich alle privaten Fahrnisse von meinem Arbeitsplatz entfernen und den Firmenschlüssel seinem Sohn aushändigen. Er habe sich dazu entschlossen, diesen Schritt noch so rechtzeitig zu tun, dass meine Chancen auf dem Arbeitsmarkt intakt seien. »Sie sind ja noch jung – wie alt sind Sie jetzt – 45? Da kommen Sie sicher gleich wieder wo unter, in einer Druckerei vielleicht ...« Natürlich wusste ich zu diesem Zeitpunkt, dass der »böse Markt« dem Chef kürzlich einen schönen Ferrari beschert hatte, um den herum bereits im Jahr zuvor eine herrliche Garage mit integrierter Schießbahn und einem Kühlhaus für Wildbret gebaut worden war, wohl größer als die Wohnung der meisten Mitarbeiter seiner Firma. Aber es hätte vermutlich keinen Sinn gehabt, in diesem Augenblick mit meinem Wissen aufzutrumpfen.

    Bereits wenige Wochen später werkelte an meinem Arbeitsplatz ein junger, williger Praktikant, der um die Weihnachtszeit seine Fixanstellung erhalten sollte. Das zeigt, wie sehr man sich als Chef eines Unternehmens irren kann, denn gelogen wird Herr Bammer ja wohl nicht haben.

    Das war es dann also. Ich hatte mich eigentlich bereits ganz gut damit arrangiert, noch für viele Jahre für diese abgehobenen, intriganten Leute zu arbeiten. Mein Job war nämlich klasse. Es gab natürlich auch etwas zähere Arbeiten, aber insgesamt hatte ich bei der Umsetzung meines Aufgabengebietes große Freiheiten. Auch kamen regelmäßig neue Bereiche hinzu, vor allem organisatorischer Natur. Die Kollegen waren wunderbar. Dieser Gemeinschaft trauere ich noch heute nach. Man wusste genau, in welchem Umfeld man reden konnte und wo Vorsicht geboten war. Je ernster sich unsere »Manager« gaben, desto lustiger war es für jene, die um die psychologischen Vorgänge dahinter wussten. Viele waren froh, mir Dinge anvertrauen zu können, die niemals unsere Ebene verlassen durften. Ich setzte mich oft mit Leidenschaft für Anliegen ein, deren Berechtigung ich erkannte, die aber von der Eigentümerfamilie für unwichtig erachtet wurden. Dennoch liebte ich meine Arbeit, die Rahmenbedingungen konnte ich akzeptieren. Das war nun von einer Sekunde auf die andere Vergangenheit.

    Meine Frau holte mich an diesem Tag ab. Es war geplant, Besorgungen für den unmittelbar bevorstehenden Urlaub zu erledigen. Natürlich rief ich sie an, ob sie mir beim Räumen meines Arbeitsplatzes behilflich sein könne. Das konnte der Junior nicht verbieten. Also stand er die nächste halbe Stunde mit betretener Miene in meinem Büro und blickte abwechselnd an die Decke und auf den Boden. Zwischendurch folgten hektische Blicke auf das iPhone, aber dieses schien gnadenlos. Nicht ein einziges Mal in diesen 30 Minuten eine Nachricht, ein Anruf oder irgendwas. Keiner schien ihn zu brauchen, er musste sich mit dem Anblick eines Mitarbeiters quälen, der in den letzten dreizehneinhalb Jahren seine Arbeit mit Freude und Enthusiasmus stets zuverlässig erledigt hatte, der in dieser Zeit dank seiner Fähigkeiten und seiner Motivation eine gut funktionierende Abteilung aufgebaut hatte und den er in diesem Augenblick auf die Straße zu setzen im Begriff war. Das tolle, neue iPhone schwieg. Kein Anruf. Kein SMS. Nichts. Fast hätte er mir leidgetan.

    Am nächsten Morgen tat ich etwas, das in dieser Firma noch nie zuvor jemand getan hatte. Üblicherweise trat nach einer überraschenden Kündigung oder Entlassung eines langjährigen Mitarbeiters der Chef vor die wichtigsten Angestellten und informierte diese mit aufgesetzter Leidensmiene aus erster Hand. Dies war mir wohl bewusst. Um 7 Uhr 30 wäre also der Zeitpunkt gewesen, wo der Chef die Neuigkeit verkündet hätte – noch bevor irgendjemand etwas ahnen oder darüber tuscheln hätte können. Ich jedoch war um 6 Uhr 30 bereits am Computer. Die E-Mail-Adressen der meisten Angestellten hatte ich im Kopf. So sandte ich folgendes Mail an meine Noch-Kollegen:

    »Leider wurde ich gestern Abend ziemlich überraschend gekündigt und werde wahrscheinlich bis zum Ende meines Dienstverhältnisses nicht mehr in der Firma anwesend sein. Daher möchte ich mich auf diesem Wege ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit bei jedem Einzelnen von Euch bedanken! Es hat mich sehr gefreut, so viele Jahre ein Teil dieses guten Teams gewesen zu sein!«

    Zumal ich wusste, dass ein Teil der Kollegen seine Mails am Handy empfängt und der Rest der Belegschaft zwischen 6 Uhr 45 und 7 Uhr 15 am Arbeitsplatz eintrifft, konnte ich ziemlich sicher sein, dass des Chefs Überraschung eine solche wohl nicht mehr sein würde, ich hatte ihm diesbezüglich also die Show gestohlen.

    Ab in den Urlaub

    Soll man in den Urlaub fahren, wenn man soeben gekündigt wurde? Wenn man nicht weiß, wie sich die Finanzen der Familie in den nächsten Monaten und Jahren entwickeln? Wenn man nicht weiß, wie das Leben überhaupt weitergeht? Wenn man auch nicht weiß, ob man überhaupt abschalten kann? Trotzdem – man soll!

    In Domland war das Wetter wie die Stimmung: trüb, nasskalt, regnerisch. Diesseits des Montanatunnels hingen die Schwaden tief. Die Montanaalm – gewohnheitsmäßig der erste Stopp auf jeder Reise in den Süden – zeigte sich mit 6° und Nieselregen ziemlich unwirsch. Jenseits der beiden Tunnel waren die Schwaden strahlend hell, blitzblaue Fenster in den Wolken erhellten auch die Stimmung. Mit jedem Kilometer nahm die Dramatik des vorletzten Abends ab, verlor sich bereits in der Ferne vergangener Tage und Ereignisse. Die grünen Hänge, die stattlichen Höfe hoch über der Autobahn zogen gemächlich vorüber.

    Urlaub ist immer eine andere Welt, ganz unabhängig davon, aus welcher Situation man startet. Die Stimmung wurde zunehmend heiterer. Wenn man meine Gesamtsituation der letzten Jahre retrospektiv betrachtete, so hatte ich zwar eine erfüllende und – das muss man auf alle Fälle zugeben – auch fair bezahlte Arbeit. Aber wie den meisten anderen Mitarbeitern wurde einem täglich vermittelt, wie minderwertig man doch war. Wie wenig Bedeutung es doch hatte, dass man zumindest jene Informationen bekam, die für die eigene Arbeit eigentlich unerlässlich sind. Dass E-Mails an Vorgesetzte prinzipiell nicht beantwortet werden. Dass man eine Standpauke erhält, wenn man sich erlaubt, bei Mails an den Chef eine Lesebestätigung anzufordern – man glaube demnach wohl, der Chef habe nichts Besseres zu tun, als die E-Mails seiner Mitarbeiter zu lesen. Wie selten vor allem der Chef persönlich in der Firma ansprechbar war und wie wenig auskunftsfreudig die paar Eingeweihten waren, wenn man probierte, einen eventuellen Anwesenheitstermin unseres Altvordersten zu eruieren! Nicht weil man ohne ihn die Arbeit nicht genau so gut erledigen hätte können, nein, vielmehr deshalb, weil man permanent Gefahr lief, einen famosen Anschiss zu erhalten, sobald man im Sinne eines raschen Arbeitsfortgangs selbst eine Entscheidung getroffen hatte. Im Nachhinein betrachtet wirkte das Ganze auf mich ohnehin so, als hätte man schon seit Jahren versucht, mir einen Abgang aus eigenem Antrieb möglichst schmackhaft zu machen.

    Diese Vermutung hatte ich bereits etwa ein Jahr vor meiner Kündigung, als man plötzlich das Büro der Chefin in direkte Nachbarschaft zu meinem Büro verlegte. Unsere Chefin war quasi die Leiterin des firmeninternen Geheimdienstes. Im Gegensatz zum Chef und dem Junior war sie fast immer anwesend. Nicht etwa deshalb, weil sie für die Herren in deren Abwesenheit irgendwelche Entscheidungen hätte treffen können, nein, sie durfte ja nicht einmal alleine entscheiden, welche Farbe die Tischdecken für die Weihnachtsfeier haben sollten. Jedoch sie war in der Firma Augen und Ohren des Chefs, zumindest fühlte sie sich dazu berufen. Stets auf der Suche nach irgendwelchen skandalösen Vorgängen, die sie – dank ihrer negativen Lebenseinstellung – hervorragend zu interpretieren und zu verstärken verstand und die sie schließlich dem heimkehrenden Chef in stundenlangen Problemgesprächen servierte. Das hatten bereits viele Kollegen erfahren müssen. Es war dann immer extrem schwierig, dem aufgeregten Chef die Tatsachen realistisch darzulegen und ihn von der Harmlosigkeit eines Vorfalls oder einer Aussage zu überzeugen. Nun also sollte die Geheimdienstgeneralin für alle Zeit mein Nachbarbüro belegen, dies bei stets geöffneter Tür. Sogar der Öffnungswinkel der Tür war meist exakt eingestellt – mein Bildschirm wurde von der Glastür direkt zum Schreibtisch der Chefin projiziert. Möglich, dass man glaubte, ich würde mich nun selbst von dannen stehlen, schließlich hätte man sich die Abfertigung in Höhe von vier Monatsgehältern gespart. Dafür wären sich eventuell die Winterräder für den Ferrari ausgegangen.

    So rollten wir über die slowenische und über die kroatische Grenze und ich begriff langsam, dass diese Kündigung auch einen unglaublichen Befreiungsschlag für mich bedeutete. Nie wieder würde ich es nötig haben, mich von diesen Menschen demütigen zu lassen. Endlich müsste ich nicht mehr Rücksicht darauf nehmen, dass die Interessenslage der Familie Bammer bis in den letzten Winkel meines Privatlebens hinein ihre Auswirkungen hat. Nicht dass ich plötzlich große Lust darauf gehabt hätte, mir plötzlich ein Flinserl am Auge stechen oder ein neckisches Bärtchen wachsen zu lassen. Aber von diesem Tage an würde dies für mich möglich sein, ohne dass ich deshalb ein Mitarbeitergespräch haben würde. Wenn ich einen Leserbrief schriebe, bräuchte ich keine Angst zu haben, dass mein Chef sich dadurch auf den Schlips getreten fühlen könnte. In meiner Freizeit könnte ich plötzlich wieder jedermann treffen (in der Firma war es nämlich überaus verpönt, Kontakt zu jemandem zu halten, der das Unternehmen – aus eigenem Antrieb oder auch passiv – verlassen hatte). Mit jedem Meter, den wir uns vom grauen Domland entfernten, schwanden die trüben Gedanken und wuchs die Begeisterung über die ungeahnten Erleichterungen, welche diese Wende mit sich bringen würde.

    Der erste Abend in Kroatien. Auch hier hatte sich die Wolkendecke nicht gänzlich gelichtet. Aber anstatt sechs hatte es hier 20 Grad. Und plötzlich trat unter der Wolkendecke die Abendsonne hervor. Der Weg ins Restaurant war schlagartig in pures Gold getaucht, vor einem dunkelgrauen Wolkendach leuchteten die Bäume, die steinernen Häuser und die Felder erschienen in nie gesehener Pracht. Eines war klar – die Entwicklung der vergangenen Tage sollte für mich den Aufbruch in ein neues, ein besseres Dasein bedeuten.

    Es war kurz vor Ende Mai, als wir aus Kroatien heimkehrten. Das Bewusstsein, dass es für mich jetzt eine Fülle an Möglichkeiten und Chancen gab, sorgte für gute Stimmung. Ich hatte beschlossen, mich so rasch wie möglich beim AMS als Arbeit suchend zu melden, wiewohl ich ja noch fast drei Monate in meinem alten Dienstverhältnis »beschäftigt« sein würde. Es war klar, dass ich während des auslaufenden Dienstverhältnisses keinerlei neue Beschäftigung annehmen würde, dies hätte der Geschäftsleitung einen willkommenen Anlass für eine »Fristlose« geboten, die Abfertigung wäre dann wohl futsch gewesen. Also beschloss ich, dass dieser Sommer der »Sommer meines Lebens« werden sollte. Seit meinem Abschluss am Gymnasium vor 31 Jahren hatte ich in keinem Sommer mehr als zwei Wochen Urlaub gehabt. Nun würde ich zumindest Juni, Juli und den halben August in Freizeit verbringen »müssen« – insgesamt keine schlechten Aussichten. Wie sehr hatte ich in den vergangenen Jahren damit gehadert, die herrlichen, heißen Sommertage bei heruntergelassener Jalousie im wahlweise heißen oder eben klimagekühlten Büro verbringen zu müssen. Und wie es sich mit schönen Sommertagen ebenso verhält, setzte meist kurz vor Dienstschluss ein heftiges Gewitter ein, ein Pech für Berufstätige. Dafür sollte mich dieser Sommer entschädigen. Tat er aber nicht – der 2014er-Sommer war der wechselhafteste Sommer seit vielen Jahren. Kaum ein Tag, an dem das Thermometer über 25° stieg. Dennoch – auch die für Domland typischen Dauerregentage blieben uns erspart, so sollte es zumindest für einige herrliche Bergwanderungen reichen.

    Beim AMS

    Anfang Juni hatte ich meinen ersten Termin beim AMS. Ich betrat dieses Gebäude zum ersten Mal in meinem Leben. Mein Termin war für 10 Uhr 15 angesetzt, ich begab mich in den dritten Stock. Nachdem die angegebene Zimmertür auch um 10 Uhr 20 noch verschlossen blieb, wagte ich ein zaghaftes Klopfen. Nichts. Ich bemerkte einen Herrn, der – geschäftig mit dem Handy telefonierend – den kurzen Flur auf und ab ging. Als er, wieder einige Minuten später, sein Gespräch beendet hatte, sprach ich ihn an, ob er der für mich zuständige Berater sei. »Nein«, meinte er kurz, er habe im nämlichen Raum bereits um zehn Uhr seinen Termin gehabt, aber es sei niemand drin. Der Flur mündete in ein kleines Rondell, an dessen gegenüberliegender Seite sich bereits seit einiger Zeit eine aparte Brünette mittleren Alters mit einer Kaffeetasse in der Hand herumdrückte, dann wieder hinter einer Tür verschwand und schließlich – es war etwa 10 Uhr 30 – um das Rondell herum zum besagten Raum kam. Der Herr begab sich flugs zur Eingangstür, ich ebenso. »Wer sind denn Sie?«, fragte mich die Dame. Ich nannte meinen Namen und bemerkte, dass ich um 10 Uhr 15 meinen Termin bei ihr gehabt hätte. »Ja, da müssen S’ aber jetzt warten, weil es kann ja immer nur einer zu mir herein.« Nun ja, darauf würde ich mich als Klient des AMS wohl einstellen müssen, schließlich war ich ja bald nicht mehr in der Rolle des Beitragszahlers, sondern in jener des Bittstellers. Nach etwa zehn weiteren Minuten beschloss ich, mir beim nahen Supermarkt eine Zeitung zu besorgen, das dumpfe Herumsitzen war ich ja noch nicht so gewohnt. Knapp fünf Minuten später war ich wieder vor Ort, konnte aber durch die Scheibe aus Strukturglas nicht erkennen, ob mein Vorgänger noch in der Besprechung war. So nahm ich Platz und begann zu lesen. Es war kurz vor elf, als ich neuerlich zaghaft klopfte. Diesmal wurde ich hineingebeten. Die Dame war noch intensiv mit ihrem Computer beschäftigt. »Ich habe schon nach Ihnen gesehen, aber Sie waren ja nicht mehr da«, sprach sie und warf mir einen strafenden Blick zu. Aus dem Drucker fuhr mit leisem Summen ein Zettel, den die Beraterin akkurat faltete, in ein Kuvert steckte und in einen Nebenraum brachte. Dann nahm sie wieder Platz. »Bitte, was kann ich für Sie tun?«, meinte sie, während sie ca. 30 cm vor sich auf ihren Schreibtisch starrte. Ich erklärte kurz, dass ich in etwa zweieinhalb Monaten arbeitslos werden sollte und ich mich daher bereits vormerken lassen wolle. »Ja, aber dann haben Sie ja noch eine Arbeit, was tun Sie denn dann schon hier?« Sie wies mich dann auf die Möglichkeit hin, dass ich mich jederzeit elektronisch beim AMS als Arbeit suchend anmelden könne, und wollte mich nach etwa zwei Minuten tunlichst loswerden. Nun erwies ich mich aber als etwas hartnäckig:

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