Wortlos
Von Uve Kirsch
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Buchvorschau
Wortlos - Uve Kirsch
Wortlos
Ein Jakobsweg-Roman
Uve Kirsch
Impressum
Copyright an „Wortlos": Uve Kirsch, 2017
1.illustrierte Auflage
Covergestaltung und Layout: Alexander Schölzel,
Agentur 110%, Info@agentur110.de
Frontcoverillustration: Ralph Matthis
Illustrationen: Ralph Matthis
ralph@matthis-design.de
ISBN: 978-3-96246-193-5
Verlag GD Publishing Ltd. & Co KG, Berlin
E-Book Distribution: XinXii
www.xinxii.com
Ich widme dieses Buch meiner Familie und allen Freunden, die mich bei diesem Roman unterstützt haben und natürlich den vielen tollen Menschen, die ich auf dem Camino kennenlernen durfte.
Inhaltsverzeichnis
Bahnhof
Nachtankunft
Jeder geht hier seinen eigenen Camino
Kammermusik
Lenka
Nahtod
Casa Fernanda
Lagerfeuer
Mein Camino
These boots are made for ...
Ghosts
Schöne Welt
Das musste mal raus
Singen und Brandschatzen
Therapie?
Espiritual
Malefiz
Partypilger
Day full of wonders
Nachtschatten
Speedbootpilgern
Wir müssen mal reden
Badespaß
Santiago’s calling
World’s end
Black Water
Freundschaftsbecher
Costa da Morte
Santiagonacht
We get what we deserve
Time has come
O du fröhliche
Nachhall
Bahnhof
Der Zigarettenqualm stinkt. Eine Gruppe südländischer Männer, die mit zwei ebenfalls südländischen Frauen flirten, steht auf dem Bahnsteig. Alle haben stylische Frisuren, machen laute Kommentare in einer Sprache, die ich nicht kenne und versuchen, die Aufmerksamkeit der Frauen zu gewinnen. Sie rauchen alle. Meine Frau ist vom Gestank und dem Gewese genervt und wir verziehen uns ans Ende des Bahnsteigs. Hier zieht es unangenehm. Es ist kalt, der gerade aufkommende Frühling wird durch eine einbrechende Kaltfront rüde gestoppt. Sie hat nur eine dünne Wolljacke an und friert. Eine Durchsage kommt, der Regionalzug hat fünf Minuten Verspätung. Ich schnaube, sie rollt genervt mit den Augen, die Kinder spielen Fangen um uns herum. Jetzt beginne ich zu frieren, oben rum ist alles ok, die Windjacke schützt mich gegen Zug, die Hose ist eine dünne Wanderhose „ideal für mediterrane Gegenden und dazu zählt Brandenburg ganz sicher nicht. Wir stehen wartend nebeneinander, der Rucksack wie eine niedrige Säule zwischen uns. Aus den fünf Minuten werden zehn. Sie wird jetzt richtig ungeduldig und ich nervös. Was ist, wenn der Zug ganz ausfällt? Noch habe ich Zeit, den Zug später kann ich gerade noch nehmen, dann wird es eng mit dem Check-in. Muss sie mich mit dem Wagen fahren? Sie trampelt mit den Füßen, sie mag keine Abschiede, schon gar nicht, wenn sie sich in die Länge ziehen. Aber dann sieht sie den Zug in der Entfernung heran rollen und sie entspannt sich. Eine Umarmung, ein schneller Kuss, ich steige ein und meine Familie steht vor meinem Fenster und wartet darauf, dass der Zug abfährt. Der setzt sich ruckelnd in Bewegung, die Frau wirft mir einen Kuss zu, die Kinder winken, dann rennen sie auf dem Bahnsteig und versuchen, mit dem immer schneller werdenden Zug mitzuhalten. Die Tochter ist am schnellsten, sie kann lange mithalten und rennt auf der Höhe meines Fensters. Am Bahnsteigende stoppt sie ein Eisengeländer. Der Sohn hechelt hinterher und hält sich die Seite. Sie winken, ich winke zurück, aber das können sie nicht mehr sehen. So sieht er also aus, der Beginn meiner Pilgerreise. Jetzt geht es los. Ab jetzt bin ich Pilger. Auf dem Sitz neben meinem steht mein Begleiter für die nächsten Wochen, der Rucksack. Da sind alle Dinge drin, die ich benötigen werde. Nicht viel mehr und ich hoffe sehr, nicht weniger. Ich gehe meine Packliste noch einmal durch. Habe ich etwas vergessen? Nein, eher habe ich zu viel eingepackt. Brauche ich unbedingt ein viertes Baumwoll-T-Shirt? Oder ein Buch? Auf dem West-Highland-Way letztes Jahr habe ich nicht ein Wort gelesen und kaum geschrieben. Diesmal habe ich mehr Zeit, ich will mich nicht hetzen, also habe ich eins eingepackt, und ein Notizbuch ebenfalls. Nach langem Abwägen nahm ich dann doch den etwas dickeren Schlafsack mit – es könnte kalt werden in den Nächten - und die leichten Turnschuhe, die ich auf einer Küchenwaage abgewogen habe. Sie waren zweihundert Gramm schwerer als meine festen Gummilatschen, aber wenn man mal abends in eine Stadt läuft, braucht man zumindest halbwegs vernünftiges Schuhwerk. Unter zehn Kilo wiegt der Rucksack und sieht mit der grünen Matte, die ich dabei habe, falls ich mal draußen übernachten muss, doch deutlich schwerer aus. Mit meinem Medikamentenkoffer könnte man in Nairobi ein Kinderkrankenhaus betreiben, denke ich, als ich nachzähle, wie viele unterschiedliche Blasenpflaster und Wundsalben ich dabei habe. Neben dem Zeug, auf das ich krankheitsbedingt ständig angewiesen bin, habe ich eine stattliche Auswahl an Kühlsalben, Kohle- und Schmerztabletten und Erkältungsmedikamente dabei. „Ausmisten kann ich das überflüssige Zeug ja immer noch
, denke ich. Eine junge Frau steigt in Seegefeld zu und wirft sich auf den gegenüber liegenden Sitz, ohne einmal von ihrem iPod hochzugucken. Bis zum Bahnhof Zoo wird sie ihr Gesicht nicht vom Bildschirm abwenden. Sie verpasst auch nichts, denn der Tag ist grau und der Frühling und das Grün halten sich noch zögerlich zurück. Ein klassischer Montag mitten im April. „In Portugal ist jetzt richtig Frühsommer!", freue ich mich - und auch darüber, dass ich die Sonnenmilch nicht vergessen habe. Ich gehe freiwillig, erkläre ich mir, aber warum gehe ich ihn überhaupt? Diese Frage habe ich mir schon ein paar Dutzend Mal gestellt. Warum gehe ich den Camino Portugues? Warum gehe ich Pilgern und nicht einfach Wandern? Warum will ich die Strapaze einer Pilgerung auf mich nehmen, auf Privatsphäre verzichten und in Massenunterkünften unterkommen, anstatt in einer gemütlichen Pension die Abende und Nächte zu verbringen? Was will ich über mich erfahren? Ich bin glücklich verheiratet, meine Kinder sind das Beste, was ich je gemacht habe. Auch sonst kann ich mich nicht wirklich beklagen. Gut, ich habe eine Krankheit, die man nicht wirklich braucht, aber damit kann man leben. Andere hat es schlechter getroffen, einige alte Klassenkameraden sind schon gestorben. Also, warum gehe ich Pilgern? Draußen werden die Regierungsbauten und der Reichstag vorbeigeschoben und ich freue mich auf zukünftige Schmerzen. Am Hauptbahnhof steigt ein schlanker Mann ein, Mitte vierzig, fast keine Haare. Er greift in seine Aktentasche und holt ein Buch hervor. Ein Buch? So etwas habe ich in der Bahn lange nicht mehr gesehen. Er liest und lässt sich durch nichts stören. Auch nicht durch mich, als ich ihn frage, was er liest, denn das Buch steckt in einem Schutzumschlag. Vielleicht hat er meine Frage schlicht nicht gehört. Wir rollen vorbei an Adlershof und ich erinnere mich an eine Firma, die hier in der Nähe saß und zu der ich häufig fuhr. Sie hat mich eine Menge Zeit, Lebensenergie und gute Laune gekostet, einfach deshalb, weil sie mit dem Auftrag, der ihr erteilt wurde, völlig überfordert war. Das Schlimmste war dieser Zeitverlust: Anstatt einfach zu sagen, was nicht klappt, tat der Geschäftsführer auch angesichts der größten Fehler so, als sei er Herr der Lage – was offensichtlich nicht der Fall war und log munter weiter über die vermeintlichen Fortschritte. Wir mussten die Firma schließlich kündigen, nach drei Monaten voll von Irrwegen, Mängeln und offensichtlicher Unfähigkeit. Shit – so viel unnötig verlorene Energie! Aber wieso rege ich mich immer noch über sie auf? Die nächste Firma, die schließlich den Job wuppte, war ein Glücksgriff. So fügt sich dann doch alles. Der Zug rollt an und ich vertreibe meine negativen Gedanken. Diese Zeit ist vorbei, mein berufliches Leben hing kurzzeitig an einem seidenen Faden, aber schlussendlich ging alles glatt.
Mein Gegenüber hat bis jetzt nicht ein Mal aufgesehen und dabei fortwährend gegrinst. Er legt das Buch ab und steckt es in seine Tasche. Er will aussteigen. Ich wiederhole meine Frage von vor ein paar Minuten. Ein Buch, das einem zum Schmunzeln bringt, kann nicht ganz schlecht sein. Er zieht es wieder heraus, schiebt den Schutzumschlag herunter und ich lese: ‚Am Arsch vorbei geht auch ein Weg‘. Den Autor kann ich nicht erkennen, zu schnell packt er es wieder in seine Tasche. Ist das ein erster Fingerzeig für meinen Camino? Ich nehme viele Dinge sehr persönlich, genau wie diese Sache mit der Firma aus Adlershof, die mir über Wochen meine Stimmung verhagelt hat. Andererseits habe ich es zugelassen, dass die Probleme nahe an mich heranrückten. Sollte ich die Dinge mit mehr Gelassenheit betrachten? Wie entwickelt man eine LMAA-Haltung? Durch Meditation oder Achtsamkeitstraining? Entspannungsübungen oder durch Drogen? Und wenn ja, durch welche? Keine Ahnung. Ich beschließe, darüber nachzudenken. Da ist es, mein erstes Mantra.
In der Schlange vor dem Check In tummelt sich eine portugiesische Schülergruppe, die sich aufgeregt quer über alle Absperrungen hinweg lautstark miteinander verständigt. Zuviel Hormone. Ich stehe mittendrin, verstehe kein Wort und genieße das Gequassel in einer Sprache, die mir fremd ist und trotzdem vertraut. Ich kann kein Wort Portugiesisch, aber es klingt fast wie Französisch. Das kann ich, vielleicht komme ich ja damit durch.
Nachtankunft
Die Maschine setzt zum Landeanflug an und ich erwache. In meinen Ohren knackt es, ich habe schon immer Schwierigkeiten mit dem Druckausgleich, jetzt trage ich eine verschleppte Stirnhöhlenvereiterung mit mir rum, die die Beschwerden verschlimmert. Ich nehme hektisch mein Nasenspray. Es wirkt und ich schlucke mehrfach hintereinander. Vielleicht habe ich Glück und diese furchtbaren Schmerzen bleiben mir erspart. Das Lichtermeer Portos erscheint im kleinen Rechteck des linken Kabinenfensters. Wie Wellen hebt und senkt sich das Gefunkel, pulsierend wie schwarzrotglühende Holzkohle. „Oder wie auskühlende Lava, denke ich und erinnere mich daran, dass Portugal schon von verschiedenen schweren Erdbeben heimgesucht wurde. Oder war das nur in Lissabon? Ich beschließe es zu googeln. Der Druck auf meine Ohren wird nicht stärker, anscheinend komme ich glimpflich davon. Das Fahrwerk setzt unsanft auf, die Maschine scheint zu hüpfen und kommt dann kurz darauf abrupt zum Stehen. Die Ryanair-Fanfare erklingt. Hinten in der Kabine wird geklatscht. Alles strömt raus. Am Gepäckband gehe ich erstmalig in meiner Linienfluggeschichte als klarer Sieger hervor: Mein Rucksack ist der erste, der auf dem Band erscheint, und zwei Minuten später stehe ich vor der Abfertigungshalle, bestaune das Gewirr von Betonbrücken, Straßenunterführungen und Bahnlinien und lasse mir den noch sonnenwaren Nachtwind um die Nase wehen. Ich mache mein Handy an, suche Google Maps, doch ich bekomme kein Netz. ‚Im Netz nicht registriert‘ zeigt mir mein Display an und ich kann nicht einmal im Internet erkunden, wie ich mich dort anmelde. Shit! Ich krame die blasse, zu Hause ausgedruckte Karte von der Umgebung des Airports und des Hostels, in dem ich gebucht habe, aus meinem Rucksack hervor und denke „Ok, es geht auch analog!
und laufe los. Doch das tut es nicht, denn ich verlaufe mich sofort. Ich latsche entlang einer Schnellstraße, die immer schmaler und dunkler wird und geradewegs ins Nirgendwo zu führen scheint. Es gibt keinen Gehweg. Die Straße wirkt verlassen, trotzdem taucht wie von Geisterhand alle paar Minuten ein Auto auf, das mit siebzig Stundenkilometern einen halben Schritt an mir vorbeibrettert. Irgendwann bemerke ich, dass ich schon seit einer Viertelstunde in die vollkommen falsche Richtung trabe und drehe um. Richtig, ich habe eine kleine Seitenstraße übersehen, die wie eine Einfahrt zu einem Gewerbepark aussieht. Sogar ein Schild zum Hostel hängt an einer Straßenlampe, allerdings in vier Meter Höhe und die Laterne ist kaputt. Ich finde die Unterkunft nach zweihundert Metern. Eine müde Frau am Empfang erklärt mir die wesentlichen Einrichtungen des Hauses. Es ist alles sehr übersichtlich. Im Aufenthaltsraum läuft der riesige Fernseher, eine Sendung über eine Tattoo-Convention. Ich sehe Hände in Gummihandschuhen, die mit Tätowierpistolen hantieren. Eine Einstellung bleibt lange auf dem schmerzverzerrten Gesicht des Kunden stehen. Warum wird so etwas gezeigt? Es gibt Dinge, die brauche ich nicht. Ein netter Mitarbeiter erklärt mir, wie ich mich in das WLAN der Herberge einwähle. Ich stümpere an meinem Handy herum, er nimmt es mir entschlossen aus der Hand und zwei Minuten später bin ich auch im portugiesischen Netz angemeldet. Ich schicke eine WhatsApp-Nachricht an die Meinen und teile mit, dass ich grundsätzlich noch lebe. Dann gehe ich nach oben. Ich schlafe in einem voll belegtem Sechs-Bett Zimmer, klettere unbeholfen auf mein oberes Etagenbett und verbringe eine unruhige Nacht.
Jeder geht hier seinen eigenen Camino
Am Frühstückstisch bin ich verzweifelt um Orientierung bemüht. Wo bin ich? Wo starte ich? Was soll das alles hier? Warum gibt es keine Roggenbrötchen? Ich habe noch keinen Plan für den Tag. Erst nach Porto oder gleich von hier loslaufen? Ich unterhalte mich mit einem Pärchen. Er ist Weißrusse mit polnischen Wurzeln, sie Polin. Beide leben in Deutschland. Sie wollen an der Kathedrale in Porto starten. Das klingt logisch. Ich hänge mich an sie und bin froh, jemanden zu haben, der weiß, was er will. Die beiden sind fit und wirken gut vorbereitet. Anders als ich haben sie sich über die örtlichen Gegebenheiten informiert und wissen sogar wie diese idiotischen Fahrscheinautomaten für die Metro funktionieren. Ich stehe ratlos vor so einer Kiste und versuche zu durchschauen, worauf man drücken muss und dann kommt er, presst drei Knöpfe und wir halten die Fahrscheine in der Hand. Anerkennend zeige ich ihm den Daumen.
Der Zug ist voll, ich sehe noch andere Reisende, sind das auch Pilger? Die beiden Polen reagieren reserviert auf mich. Sie sind zwar freundlich zu mir, aber gleichzeitig auch eine Spur abweisend. Ich habe das deutliche Gefühl, sie wollen unter sich bleiben. Wir laufen von der Metrostation Trindate in Richtung Altstadt. Auf einem Hügel direkt am Douro thront die Kathedrale. „Da geht’s los", denke ich, während ich von dem morgendlichen Porto fasziniert bin. Die Stadt brodelt. Sie ist laut und sie riecht nach Meer. Überall wuseln Menschen durcheinander, hupen Autos, knattern Mopeds. Die Cafés sind geöffnet und trotz der noch recht frühen Stunde schon gut gefüllt. Dann stehen wir zusammen mit zwei Busladungen betagter Touristen vor dem Hauptportal der Kathedrale und machen Fotos. Im Inneren ist es dunkel, eine Orgel wiederholt die immer gleiche Tonfolge. Bin ich hier in einer Warteschleife und weiß es nur nicht? Mir wird plötzlich speiübel, kurz nachdem eine mäßig interessierte Mitarbeiterin hinter dem Servicetresen, die fortwährend mit jemandem lautstark telefoniert, den ‚Start-Stempel‘ in meinen Pilgerausweis drischt. Hektisch verschwinde ich im nächsten Lokal und stürze mich kopfüber in die Kloschüssel. Mein Frühstück bin ich los. Das polnische Paar steht vor dem Lokal und wartet. Ich denke, ich habe meinen Anfall überwunden und gehe raus. Doch die Übelkeit kommt wieder. Ich bitte sie noch, kurz auf meinen Rucksack aufzupassen, der unbewacht an der Außenwand lehnt, bevor ich wieder aufs Klo rennen muss. Als ich endlich wieder die Toilette verlassen kann, sitzt eine ältere Dame am Nachbartisch neben meinem Rucksack und lächelt mich wissend an. Das deutsch-weißrussisch-polnische Pärchen ist spurlos verschwunden. Die beiden schienen jedenfalls nicht traurig, mich zurücklassen zu können. So sieht sie also aus, die vielzitierte Pilgersolidarität. Aha, so so.
Ich ziehe ein erstes Fazit: Der Beginn meines Caminos ist ein glatter Fehlstart. Ich warte noch eine Weile ab, ob mein Magen weiter rumort, doch der verhält sich von nun an friedlich. Ich studiere den Stadtplan. Der Camino läuft entlang einer Hauptausfallstraße, die dem Fluss Douro folgt. Links der Fluss, rechts die Hauptstraße. Nein danke, das will ich nicht. Ich drehe um und trabe zurück zur Station Trindate. Ich stehe vor dem Fahrscheinautomaten und glaube, ich weiß, wie es geht und versuche ein Ticket zu ziehen. Das geht gewaltig schief. Ein uniformierter Metromitarbeiter greift mir dummem Touristen unter die Arme und zieht mir ein Ticket mit drei Handgriffen. Ein paar Minuten später kommt meine Bahn. Sie zuckelt durch Vororte, dann kommt Matosinhos, diese riesige Abwurfzone für bewohnbare Betonwürfel. Der Ort ist kein Vorort, sondern eine richtige Stadt. Über einhundertsiebzigtausend Menschen leben hier. Einzig der Geruch des Meeres weist darauf hin, dass man sich in der Nähe der Küste befindet. Der Rest ist eine Orgie von Stahlbeton und Blech. Ich rolle mit der Metro durch diese Gebäudewüste und eine Frau redet heftig auf mich ein. Ich verstehe nichts, kein Wort. Sie wirkt dabei nicht unfreundlich und redet jetzt langsamer. Keine Chance. Sie redet jetzt lauter, aber ich zucke verständnislos mit den Achseln. Also spricht sie noch lauter, bis sie brüllt. Zwecklos. Endlich kapiert sie, dass ich sie nicht verstehe und verschwindet im hinteren Teil des Wagens. Sie zerrt einen jungen Mann mit langen Haaren aus seinem Sitz und zwingt ihn, seinen Kopfhörer abzunehmen und zu übersetzen. Widerwillig, leicht verunsichert und sichtlich genervt übersetzt dieser junge Mann mit dem leichten Oberlippenbartflaum ins Englische, was die Frau mir sagen will: Ich soll eine Station vor der Endstation aussteigen, so vermeide ich einen langen hässlichen Umweg. Ich danke ihr. Sie lächelt.
„Bon Camino", sagt sie und setzt sich wieder auf ihren Platz.
„Obrigado", sage ich und freue mich über ihre Freundlichkeit.
Ich steige eine Station eher aus und finde mich wieder an einer Brücke über das Hafenbecken von Matosinhos. Man erahnt die See am westlichen Horizont und Möwen umkreisen mich. Ich laufe los, aber ich bin viel zu warm angezogen. Am Ende der Brücke ziehe ich mein Hemd aus. Eine Frau passiert