"Es schreit der Stein in der Mauer" (Habakuk 2,11): Biographische Skizzen zur jüdischen Geschichte Offenburgs
Von Martin Ruch
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Doch 1933 begann erneut eine Zeit der Verfolgung. Etwa 200 jüdische Menschen konnten nur durch Flucht den Verbrechern entkommen, während weitere 100 Offenburger Juden ermordet wurden. 1945 war zum dritten Mal in der Geschichte die jüdische Gemeinde Offenburgs ausgelöscht.
Umso wichtiger ist daher die Suche nach ihren Lebensspuren und dem Wirken der jüdischen Männer und Frauen. In mehreren Dokumentationen ist dies inzwischen geschehen. Eine weitere Sammlung wird mit diesem Lesebuch vorgelegt. Es will Lebensläufe schildern und Namen in Erinnerung rufen.
Jiskor (hebr.)! Erinnere Dich!
Martin Ruch
Martin Ruch (Offenburg), freelance publicist on regional and cultural history topics, including the history of Offenburg's Jews.
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Buchvorschau
"Es schreit der Stein in der Mauer" (Habakuk 2,11) - Martin Ruch
Titelbild:
Gedenkstein, Offenburg, Rammersweierer Str., Text:
Es schreit der Stein in der Mauer (Habakuk 2,11)
über die Erschlagenen, die hier begraben sind.
Ihre Seele sei eingebunden im Bündel des Lebens.
Im Frühjahr 1945 fanden auf dem Bahngelände in Offenburg über
40 jüdische Zwangsarbeiter ihr Massengrab.
Rückentitel:
Gedenkstein 2017, erneut von unbekanntem Täter beschmiert bzw. verbrannt.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Ein Gedenkstein
Xaver Alexander: Ein getaufter elsässischer Jude wird erster Wirt des „Salmen" in Offenburg
Heinrich Schnurmann: Herkunft aus dem Ortenauer Landjudentum
Dr. Fritz Schnurmann: Anthroposophischer Arzt und Christ mit jüdischen Wurzeln
Ludwig Kahn: Der Hellseher
Dr. Paul Kahn: Rechtsanwalt und Vorsteher der jüdischen Gemeinde Baden-Baden
Eduard Cohn: „Mein Leben"
Leon Sanik: Rückkehr eines ehemaligen jüdischen Zwangsarbeiters
Erika Heymann-Geck: Eine Gerechte unter den Völkern
Werner Bloch: Aus der Heimat vertrieben. Eine neue Heimat gefunden.
Literatur
Vorwort
Die vorliegende Sammlung stellt weitere Namen aus der jüdischen Geschichte Offenburgs vor und versteht sich damit als ergänzender Mosaikstein in einer Reihe von Publikationen (siehe Literaturliste im Anhang). Diese historischen Portraits entstanden im Laufe einer langjährigen Beschäftigung mit dem Thema und sind das Ergebnis einer Sammlung möglichst vieler greifbarer historischer Belege zum Judentum in Offenburg. Ein erster Versuch dazu war 1987 ein Aufsatz über den historischen Gasthof Salmen und dessen spätere Umwidmung zur Synagoge durch die israelitische Kultusgemeinde Offenburgs im Jahr 1875 gewesen. Es schien mir deshalb plausibel zu sein, mit der Vorstellung neuen Quellenmaterials zum ersten Wirt dieses Gasthofes, Xaver Alexander, zu beginnen. Er war als Jude namens Elias Alexander in Hagenau erstmals genannt worden und hatte sich dort taufen lassen, bevor er, nun mit dem Namen Xaver Alexander, nach Offenburg in die katholische Reichsstadt übersiedelte. Man hat ihn und später auch seine Kinder, die „Judenbuben, dort aber noch gelegentlich an seine frühere Herkunft aus dem Judentum erinnert. Konversion, Assimilation, Antisemitismus – bereits diese Biographie des „Salmen
-Wirts enthält Themen, die das jüdische Leben in der Stadt prägten, wie auf der anderen Seite ein tiefer selbstverständlicher Glaube an den einen Gott der Thora.
Im Judentum gab und gibt es wie in allen Religionen unterschiedliche Haltungen zur Religiosität. Jenen, die sich im öffentlichen Bereich als Juden bekannten und sich im Gemeindeleben engagierten, standen auch Menschen gegenüber, die mit diesem Glauben gebrochen hatten, die ihm indifferent oder gar ablehnend gegenüberstanden. Sie kamen wohl aus jüdischer Tradition, hatten eine jüdische Mutter, und wollten sich doch nicht mehr als Juden bezeichnet sehen. Die Nationalsozialisten haben später darauf keine Rücksicht genommen. Allein mit ihren Rassengesetzen definierten sie „den Juden" und verfolgten, diskriminierten und ermordeten diese Offenburger Menschen. Im vorliegenden Buch werden daher auch Personen vorgestellt, die sich zwar selbst nicht mehr als Juden bekannt haben, jedoch von den Zeitumständen dafür erklärt wurden.
Hilfe zu leisten für die Verfolgten war in den Jahren des Dritten Reiches leider keine Selbstverständlichkeit. Und doch gab es Menschen, die den Mut dazu aufbrachten. Zu ihnen zählte Erika Heymann-Geck. Sie stammte aus sozialdemokratischem Elternhaus in Offenburg, ihr Vater, der Journalist und Reichstagsabgeordnete Adolf Geck, war ein toleranter Humanist, der mit seiner Frau Marie auch die Kinder in diesem Sinn erzog. Über Erikas Glauben als Erwachsene ist nichts bekannt. Sie heiratete zwar den aus jüdischem Haus stammenden Stefan Heymann. Ob sie selbst aber auch zum Judentum konvertierte, ist fraglich. Ihre selbstverständliche Menschlichkeit verleugnete sie auch nicht im Exil und so nahm sie in Holland jüdische Flüchtlinge in ihrer Wohnung auf, bis sie selbst deswegen verfolgt und in ein Lager deportiert wurde. Sie starb wenige Jahre nach Kriegsende an den Folgen der Haft. Im Jahr 2011 wurde sie aufgrund ihrer Hilfe für verfolgte Juden als „Gerechte unter den Völkern" posthum ausgezeichnet und geehrt. Sie verdient es, in das kollektive Gedächtnis der Stadt und in dieses Buch aufgenommen zu werden.
Ein Gedenkstein
Das Titelbild dieses Buches erinnert an einen Gedenkstein für jüdische Zwangsarbeiter, die 1944 bei Reparaturarbeiten an den Offenburger Gleisanlagen der Reichsbahn ums Leben kamen. Seit 2001 steht dieser einfache Sandstein in der Nähe des vermuteten Massengrabes. In hebräischer Schrift und mit deutschem Kommentar versehen, will er ein Zeugnis ablegen, eingeleitet mit dem alttestamentarischen Bibelspruch: „Es schreit der Stein in der Mauer" (Habakuk 2:11). Doch inzwischen (2017) ist dieser Stein bereits zum fünften Mal Opfer von Vandalismus und Brandstiftung geworden. Zwar konnte die Tafel durch Spenden aus der Öffentlichkeit stets wieder erneuert werden. Doch stehen wir nun vor der Frage, ob man dieses gefährdete Erinnerungsmal nicht an einen besser geschützten Standort umsetzen sollte. Auf jeden Fall aber dokumentieren diese Zerstörungen, dass es heute noch Leugner der Verbrechen des Nationalsozialismus gibt, auch in Offenburg. Gegen diesen Versuch der Vernichtung von Erinnerung muss Widerstand geleistet werden. Dieses Buch zeigt deshalb die Botschaft des Steines sichtbar auf dem Titel und erzählt im Inneren seine Geschichte, sie kann nicht mehr gelöscht werden. Sie ist auch online weltweit sichtbar und legt in großen und kleinen Bibliotheken zweifaches Zeugnis ab: von den unschuldigen Opfern des Faschismus im Offenburger Bombentrichter an der Bahn und vom immer noch lebenden Ungeist.
„Ihr aber lernet, wie man sieht, statt stiert/ Und handelt, statt zu reden noch und noch. / So was hätt‘ einmal fast die Welt regiert! / Die Völker wurden seiner Herr, jedoch / Dass keiner uns zu früh da triumphiert – / Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch." (Berthold Brecht)
Xaver Alexander: Ein getaufter
elsässischer Jude wird erster Wirt des
„Salmen" in Offenburg
Der einzige Weg für einen Juden, Bürgerrecht in der katholischen Reichsstadt Offenburg zu erhalten, führte noch bis ins 19. Jahrhundert nur über die Taufe. In Offenburg haben zwei Juden diesen Weg beschritten, und ihre bürgerliche Existenz lässt sich in den Akten über Jahre hinweg verfolgen: Peter Marx, Handelsmann in Offenburg, und Xaver Alexander, Wirt. Doch verschaffte ihnen auch die Taufe noch nicht die völlige und unbestrittene Gleichberechtigung. Ein antijüdischer Geist der Mitbürger schlug immer wieder durch, wie zu zeigen sein wird.
Eigentlich ist es nicht korrekt, den bewusst zum Katholizismus konvertierenden Xaver Alexander als Juden zu bezeichnen, hatte er doch sein Glaubensbekenntnis als Erwachsener gewechselt. Woher wir dies wissen? Ein Hinweis von Irmgard Schwanke führte zur Recherche in den Kirchenbüchern der Stadt Hagenau. Frau Schwanke hatte mit großer Sorgfalt für ihre Dissertation „Fremde in Offenburg: Religiöse Minderheiten und Zuwanderer in der Frühen Neuzeit (Konstanz 2005) die Ratsprotokolle der Stadt gesichtet und dabei über Xaver Alexander herausgefunden: „Der aus Hagenau im Elsaß stammende Händler Xaver Alexander bat im August 1766 mit seiner Hagenauer Ehefrau Maria Anna Gandnerin und zwei Kindern zunächst vergeblich um das Bürgerrecht.
(S. →)
Elias Alexander, 1759, Taufeintrag Kirchenbuch der Hagenauer Pfarrkirche St. Georg.
Tatsächlich steht im Kirchenbuch der Hagenauer Pfarrkirche St. Georg (Onlineabruf http://archives.bas-rhin.fr/rechercher/documents-numerises/registres-paroissiaux-et-documents-d-etat-civil/) am 14.10.1759: „Hodie decimo quarto mensio octobris anni milesimi septinqugesimi quinquagesimi noni a me infra scripto rectore ad sanctum Georgium intra Hagenovam Baptisatus est Elias Alexander bonus adolescens Judaeus annorum circiter viginti duorum oriundus ex hac civitate … impositum fuit nomen Maria Ludovicus Xaverius (Heute, am 14. Oktober 1759, wurde vom Unterzeichneten, dem Pfarrherr zu Sankt Georg in Hagenau, getauft der ehrenwerte Elias Alexander von hier, ein junger Jude von ungefähr 22 Jahren … und er hat den Namen Maria Ludovicus Xaverius angenommen)."
Ob Xaver Alexander sich der Liebe wegen hat taufen lassen? Denn bereits im Folgejahr 1760 finden wir seinen Heiratseintrag im