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Dunkelhaft: Thriller
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eBook442 Seiten5 Stunden

Dunkelhaft: Thriller

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Über dieses E-Book

In einem lichtlosen Verlies erwacht die sechzehnjährige Helene aus tiefer Bewusstlosigkeit. Im ersten Moment glaubt sie an einen Alptraum. Der Alptraum erweist sich jedoch viel zu schnell als entsetzliche Realität: Sie ist in einem fensterlosen Keller gefangen, sie kann sich nicht erinnern, wie sie dorthin gekommen ist und sie hat keine Ahnung, warum sie hier eingesperrt wurde ...
SpracheDeutsch
HerausgeberGmeiner-Verlag
Erscheinungsdatum1. Feb. 2006
ISBN9783839232385
Dunkelhaft: Thriller

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    Buchvorschau

    Dunkelhaft - Claudia Puhlfürst

    Titel

    Claudia Puhlfürst

    Dunkelhaft

    Thriller

    Impressum

    Alle Personen und Namen sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig

    und nicht beabsichtigt.

    Besuchen Sie uns im Internet:

    www.gmeiner-verlag.de

    © 2006 – Gmeiner-Verlag GmbH

    Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

    Telefon 07575/2095-0

    info@gmeiner-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    1. Auflage 2006

    Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

    Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

    Unter Verwendung eines Fotos von sxc.hu

    Gesetzt aus der 9,5/13 Punkt GV Garamond

    ISBN 13:978-3-8392-3238-5

    Bibliografische Information

    der Deutschen Bibliothek

    Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese

    Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

    detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

    über http://dnb.ddb.de abrufbar.

    1

    Das Mädchen versuchte, die Augen zu öffnen, aber die Lider waren schwer wie Blei. Ihre Zunge fühlte sich pelzig an. Im Kopf hämmerte und pochte es. Das Mädchen kannte diese Anzeichen. Sie hatte Fieber. Vielleicht eine Grippe. Mama würde kommen und ihr heißen Tee ans Bett bringen. Und sie konnte zu Hause bleiben und brauchte morgen nicht in die Schule zu gehen. Aber um Mama mit dem Tee erscheinen zu lassen, musste sie zuerst einmal die müden Augen aufkriegen. Also, auf jetzt, ihr schlappen Dinger! Im Zeitlupentempo klappte das rechte Lid hoch. Das linke folgte.

    Schwärze.

    Das Mädchen machte mühsam die Augen noch einmal zu und öffnete sie vorsichtig erneut.

    Nichts zu sehen. Kein Lichtstrahl drang in ihr Zimmer. Es war pechrabenschwarze Nacht überall.

    Sie ließ ihre Augen hin- und herrollen. Die Bewegung der Muskeln war deutlich zu spüren, aber diese blöden Glotzen sahen trotzdem nichts. Noch einmal klappten die Lider herunter und wieder herauf, wie bei einer Puppe.

    Da war nichts. Allmählich schmerzten die Augäpfel vom angestrengten Starren.

    Vielleicht träumte sie nur, dass sie die Augen geöffnet hatte, und in Wirklichkeit waren sie noch immer fest geschlossen. Das war schon vorgekommen. Sie hatte auch schon geträumt, fliegen zu können. Oder auf einem Pferd dahinzugaloppieren. Oder sich mit Tobey Maguire besser gesagt mit Tobias Vincent Maguire zu treffen. Wunderbare Erlebnisse. Beim Erwachen waren die Abenteuer verblichen und hatten sich zurückgezogen.

    Manchmal wurde das Mädchen auch von schlechten Träumen geplagt. Teuflische Gestalten aus Horrorfilmen, Untote, Axtmörder oder Freddy Kruger verfolgten sie im Schlaf. Dann war sie froh, aufzuwachen.

    Man konnte nie ganz sicher sein, ob man tatsächlich träumte. Vielleicht wussten Erwachsene, wie man das machte. Sie jedenfalls kannte keine Möglichkeit, es zu überprüfen.

    Sie versuchte, die Zehen zu krümmen. Die waren schläfrig und wollten nicht. Ihre Gedanken wanderten weiter. Der rechte Arm lag halb unter dem Körper, der linke über der Hüfte. Und die Oberfläche des Kopfkissens kratzte ein bisschen an ihrer Wange.

    Sie war so unendlich müde.

    Das hier war bestimmt einer von diesen furchtbaren Alpträumen. Sie würde noch ein bisschen weiterschlafen und wenn sie erwachte, wäre alles wie immer.

    Das Mädchen ließ die müden Lider wieder nach unten sinken, zog die Decke über die Schultern und rollte sich zusammen.

    2

    »Ich hole mir noch ein Glas Saft.« Seine Frau drückte sich mit beiden Armen aus dem Sessel hoch und zog die Falten ihrer lilafarbenen Jogginghose glatt. »Soll ich dir noch ein Bier mitbringen?« Sie griff nach der leeren Flasche vor ihm.

    »Ja, aus dem Kühlschrank bitte.« Auf der Marmorplatte des niedrigen Couchtisches war ein Ring aus Wasser zurückgeblieben. Er beugte sich vor und griff nach der Fernbedienung. Nachrichten im Ersten. Zuerst kam – wie immer – Politik. Politik interessierte ihn nicht. Diese Schauspieler steckten doch alle unter einer Decke.

    Regina kam zurück. Mit der Linken balancierte sie ihr Saftglas, seine Bierflasche hing zwischen Zeige- und Mittelfinger der Rechten. Unter dem Arm klemmte eine angefangene Rolle Küchenkrepp.

    Sie saugte den Wasserfleck vor ihm auf, polierte dann die Oberfläche und stierte eine Sekunde lang den glatten Marmor an, bevor sie ein weiteres Küchentuch abriss und fein säuberlich faltete, um die mitgebrachte Flasche darauf zu stellen.

    Manfred legte seine Hand um den Flaschenhals. Feuchte Kälte drang durch die Finger. Die Biertulpe links von ihm wartete nun schon das zweite Mal vergebens darauf, benutzt zu werden. Er trank lieber aus der Flasche. Es schmeckte echter. Echte Kerle waren nicht etepetete. Sie brauchten kein Glas.

    Seine Frau nippte an ihrem Saft und lehnte sich zurück. Steuern, Krankenversicherung, Arbeitslosenverwaltung. Bla, bla, bla.

    »Mach mal lauter.« Regina setzte sich aufrecht hin und nickte mit dem Kinn in Richtung Bildschirm. »Ich möchte das hören.«

    »... Prozess gegen Marc Dutroux begonnen.« Ein Reporter stand in einer unscheinbaren Straße vor einem unscheinbaren Gebäude und referierte mit betroffenem Gesichtsausdruck über den Ablauf der Taten dieses Ungeheuers.

    Jetzt wendete er sich einem bärtigen Mann mittleren Alters zu. »... Paul Marchal, der Vater von An, eines der ermordeten Mädchen.« Der Reporter schob dem Bärtigen das Mikro unter die Nase und ließ diesen vom Verschwinden seiner Tochter erzählen.

    Manfred legte die Fernbedienung auf den Tisch und beobachtete seine Frau. Regina starrte mit nach vorn geschobenem Unterkiefer auf den Bildschirm. Ihr Gesichtsausdruck wechselte ständig von fasziniert zu angeekelt und wieder zu fasziniert.

    »... 1996 wurde Dutroux schließlich gefasst. Und nun wird ihm hier –« der Reporter zeigte mit der Rechten auf das Gebäude hinter sich »– in Arlon der Prozess gemacht. Wir werden weiter über den Fall berichten.« Schnitt. Nächste Nachricht.

    Er nahm einen Schluck und ließ den Mund ein wenig offen, um das bittere Prickeln an den Innenseiten der Wangen besser schmecken zu können.

    »Ich glaube das alles nicht.« Seine Frau ließ zischend die angehaltene Luft entweichen und schüttelte den Kopf. »Was ist das bloß für ein Monster.« Sie nahm einen Schluck Orangensaft und drehte den Ton leiser. »Und wieso klagen die ihn jetzt erst an, fast zehn Jahre später? Der Reporter hat gesagt, man hätte ihn 1996 gefasst. Was haben die in der Zwischenzeit gemacht?«

    »Keine Ahnung. Es interessiert mich auch nicht.« Manfred wandte seinen Blick ab. Er hatte keine Lust, sich mit seiner Frau über belgische Verhältnisse zu unterhalten. Er hatte überhaupt keine Lust, sich zu unterhalten. Er musste nachdenken.

    Dieser Dutroux hatte mehrere Mädchen gefangen gehalten. In einem Keller. Es wurde spekuliert, ob eine Bande von Kinderschändern dahinter steckte. Die belgische Justiz schien wenig Interesse daran zu haben, den Fall aufzuklären. Wieso hatte es sonst acht Jahre bis zum Prozessbeginn dauern können? Aber das war gar nicht die entscheidende Frage. Der Mann auf dem Sofa streichelte mit dem Daumen über das feuchte Etikett der Bierflasche. Viel interessanter war: Was hatte dieser Dutroux mit den Mädchen gemacht? Wozu wurden sie dort in diesem Kellerverlies gefangen gehalten?

    ›Und nun zum Wetter.‹ Regina streckte eilig ihre Hand nach der Fernbedienung aus und erhöhte die Lautstärke. Der Wetterbericht war das Wichtigste.

    Manfred nahm einen großen Schluck. Das Bier wurde allmählich warm. Die Medien hatten nichts darüber gebracht, was mit diesen Mädchen dort geschehen war. Über den Ort, in dem Dutroux jahrelang gewohnt hatte, die Nachbarn, seine Familie, vermeintliche Komplizen, das Verlies und seine Ergreifung war ausführlich berichtet worden. Aber das eigentlich Interessante verschwieg man. Oder wussten sie es nicht? Nach acht Jahren? Zwei hatten doch überlebt. Sie konnten erzählen, was Dutroux mit ihnen angestellt hatte. Vielleicht wollte man die beiden schützen.

    Glatt schmiegte sich der Flaschenhals an seine Unterlippe. Der letzte Rest Bier gluckerte aus der Flasche. Er stellte sie zurück. Fein säuberlich auf den gefalteten Küchenkrepp.

    »Was willst du sehen?« Regina wartete seine Antwort nicht ab, sondern setzte gleich fort. »Im Ersten kommt ein Tatort.«

    »Von mir aus.« Manfred erhob sich, steckte den Zeigefinger in die leere Flasche und hob sie an. Der Krepp klebte an der Unterseite und fiel dann ab. »Ich hole mir noch ein Bier.«

    In der Küche war es still. Er öffnete das Fenster und schaute über den Hügel hinab zur Straße. Die Katze des Nachbarn saß am gegenüberliegenden Gartenzaun und hielt den Kopf schräg, so als lausche sie einer fernen Melodie. Im Kühlschrank lagen noch drei Pils. Sehr gut. Regina hatte vorgesorgt. Sie gab sich Mühe. Jedenfalls in dieser Beziehung. Was man von anderen Dingen leider nicht behaupten konnte.

    Was das Äußere seiner Frau anging, konnte man von Bemühungen nichts erkennen. Sie ließ sich gehen. Ausgeleierte Jogginghosen, schlabbrige Pullover, keine Schminke. Die Hüften gingen mehr und mehr in die Breite. Und der gelegentliche Sex mit ihr war sterbenslangweilig. Immer das Gleiche. Immer die Missionarsstellung. Manchmal schob sie Kopfschmerzen vor, um ihre Ruhe zu haben. Das alles war Gift für die Potenz.

    In seinen Fantasien war sie ein sechzehnjähriges Mädchen, das er in die Kunst der Liebe einführte. Willig und gelehrig. Manfred drückte mit der Linken das Fenster an den Rahmen und kippte es an.

    Willig und gelehrig. Das führte ihn wieder zu der Frage von vorhin zurück. Was hatte dieser Dutroux mit den gefangenen Mädchen gemacht? Er nahm ein Pils aus dem Kühlschrank.

    Eine reizvolle Vorstellung. Ein gefügiges Mädchen in einem sicher verschlossenen Raum, immer bereit, wenn ihr Gebieter Lust auf sie hatte. So ein junges, knackiges Ding würde sich seinen Forderungen nach einer kurzen Zeit der Eingewöhnung ohne Widerstand fügen und nicht jeden zweiten Abend Kopfschmerzen vortäuschen wie seine Angetraute. Deren Fleisch im Übrigen auch allmählich schlaff und wabbelig wurde.

    Das Wabbelfleisch hockte in seinem angestammten Sessel und blickte nicht einmal auf, als er zur Tür hereinkam. Sie war gefesselt von realitätsfremden Verbrechen, die sich ein überbezahlter Drehbuchautor ausgedacht hatte. Er ließ den Daumen aus der Flasche ploppen und nahm einen langen Zug.

    Dutrouxs Mädchen waren in einem Keller eingesperrt gewesen. Manfred schloss die Augen und spürte den Samt des Sofas an der Rückseite der Oberschenkel. Das Bier machte die Beine schwer. Und die Frau von diesem Dutroux hatte scheinbar über all das Bescheid gewusst. Die Frau und noch ein paar andere Komplizen. Nicht besonders intelligent. Schon das sprach dafür, dass dieser Schwachkopf die Kleinen nicht für sich allein gefangen hielt. Warum hätte er sonst andere einweihen sollen? War doch logisch, dass die dann auch ein Stück vom Kuchen abhaben wollten. Und die Gefahr der Entdeckung wuchs mit jedem Mitwisser. Dieser Dutroux war ein hirnloser Dummkopf. Und das hatte er nun davon. Sie waren ihm auf die Schliche gekommen.

    Er jedenfalls würde nicht so gedankenlos vorgehen. Wenn man so eine Entführung richtig plante und vorbereitete, würde nie im Leben jemand es herausfinden. Komplizen waren ganz schlecht. Und warum die süße Frucht mit jemandem teilen? Nein, man musste allein dafür schuften und konnte dann den Lohn der Mühen auch allein genießen. Und das eigene Haus war auch nicht besonders geeignet, um dort eine süße kleine Sklavin zu halten. Nicht, wenn man eine putzsüchtige Frau hatte, die auch den Keller regelmäßig aufräumte.

    Seine Blase drückte. Das war der einzige Nachteil von Bier. Er sah das gerötete Gesicht seines Kumpels Ralf vor sich. ›Weißt du, warum Bier so schnell durchläuft?‹ Ralf hatte in Erwartung seiner Antwort gegrinst. ›Weil es nicht erst die Farbe wechseln muss.‹ Gemeinsam mit den anderen hatte Manfred losgegrölt und mit der flachen Hand auf den glatt polierten Eichentisch der Dorfkneipe gehauen. Ralf war ein Spaßvogel.

    Er erhob sich. Regina schaute ihm mit gleichgültigem Gesicht nach und wandte sich dann wieder ihrem Tatort zu.

    Das Neonlicht im Bad flackerte zuerst ein bisschen und beruhigte sich dann. Die Klobrille war auch an der Unterseite makellos weiß. Keine Urinflecken, keine verdächtigen braunen Spritzer. Da kannte seine Frau nichts. Sauberkeit musste sein. Regina putzte täglich. Manfred zielte in die Mitte des Beckens und betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Dieser Dutroux hatte so durchschnittlich ausgesehen. Nichtssagend. Der nette Nachbar von nebenan.

    Der Mann in dem dreiteiligen Spiegel des Kosmetikschränkchens kniff das rechte Auge zu und beobachtete, wie gleichzeitig der rechte Mundwinkel nach oben wanderte.

    Ein Allerweltsgesicht. Genau wie Manfred Rabicht eins hatte. Der Durchschnittsmann schüttelte den letzten Tropfen ab, verstaute sein bestes Stück wieder in der Hose und drückte auf den Spülknopf. Vom Klostein blau gefärbtes Wasser strudelte ins Becken. Es roch schwach nach Chlor.

    Im Hinausgehen wischte er mit der Linken über den Lichtschalter und ließ die Tür einen Spalt offen, damit der Raum durchlüften konnte. Das Bad hatte kein Fenster. Es war nachträglich eingebaut worden. Nicht besonders geschickt, ein Badezimmer ohne Fenster, aber es hatte keine andere Möglichkeit gegeben. Nun war es eine Dunkelkammer. Eine Dunkelkammer ohne Tageslicht. Dunkelzelle.

    Manfred rieb sich mit den Fingern über die Stirn und stieß die Wohnzimmertür auf. Regina saß nach vorn gebeugt in ihrem Sessel, das halbvolle Saftglas in ihrer Rechten nach links gekippt.

    »Pass auf, dass du nichts verschüttest.« Er deutete auf ihre Hand.

    »Oh.« Regina sah hoch. »Ich war in Gedanken. Ein spannender Film ist das. Es geht um eine Autoschieberbande.« Sie nahm einen Schluck und stellte den Orangensaft auf den Couchtisch.

    Manfred Rabicht lächelte und strich seiner Frau im Vorübergehen über die Schulter. Eine Autoschieberbande! Direkt aus dem Leben gegriffen! Ganz toll. Er ließ sich auf die Couch plumpsen und griff nach dem Bier. Amüsier dich nur, mein Täubchen. Dann hast du wenigstens nachher keine Kopfschmerzen. Nachher, wenn dein lieber Ehemann ein bisschen Spaß mit dir haben möchte. Der Mann auf der Couch hatte den Gesichtsausdruck einer Katze, die gerade dabei ist, den Sahnetopf auszuschlecken. Er würde sich im Dunkeln über Regina hermachen und sich dabei vorstellen, sie sei eine knackige fünfzehnjährige Jungfrau, die er in die Kunst der Liebe einführte.

    3

    Das Mädchen rannte über eine Blumenwiese und ließ die Arme wirbeln. Samtige Schmetterlinge gaukelten vor ihr her. Es duftete nach frisch gemähtem Gras. Vom Apfelbaum schneiten zartrosa Blütenblätter herab.

    Nur die Stille war seltsam. Kein Vogel zwitscherte, keine Grille zirpte. Das Laub bewegte sich lautlos an den Ästen. Nichts war zu hören.

    Das Mädchen blieb stehen, sah sich um und versuchte, probehalber in die Hände zu klatschen. Hölzern bewegten ihre Arme sich aufeinander zu und verharrten, bevor die Handflächen sich berühren konnten. Sie wollte weiterlaufen, aber die Luft schien sich in Sirup verwandelt zu haben. Nur mühsam lösten sich die Füße ein paar Zentimeter vom Boden und schoben sich schwerfällig nach vorn. Der Erdboden erzitterte leicht. Irgendetwas Massiges war hinter ihr und kam geräuschlos stampfend näher. Das Mädchen konnte den heißen Pestatem des Wesens im Nacken spüren.

    Lauf, Helene, lauf! Schnell. Rette dich!

    Ihr Kopf wollte losrennen, wollte mit aller Macht davonrasen, aber die störrischen Beine verhakten sich ineinander und als sie sich endlich mühsam entwirrt hatten, kamen sie keinen Zentimeter voran. Helene trat auf der Stelle und stürzte zu Boden.

    Bebend lag sie auf der taufeuchten Wiese und versuchte, ihren keuchenden Atem unter Kontrolle zu bekommen, damit das Monster sie nicht hören konnte. Vielleicht übersah das Ungeheuer ja das zitternde Mädchen und trampelte von dannen.

    Sie spürte, dass sie röchelte und jetzt konnte sie auch etwas hören. Rasselndes Ein- und wieder Ausatmen. Die taufeuchten Grashalme direkt vor ihren Augen verblassten und die Wiese verschwand.

    Und sie lag auch nicht zusammengekrümmt auf der Seite, sondern auf dem Rücken, die Beine ganz gerade, die Arme seitlich neben dem Körper. Ihr Kopf war nach hinten überstreckt und der Mund stand ein wenig offen.

    Es gab kein Ungeheuer hinter ihr. Es gab keine Blumenwiese und keinen Blütenschnee vom Apfelbaum. Das alles war nicht wirklich. Ein schlechter Traum.

    Sie hatte

    schon wieder

    einen dieser Alpträume.

    Helene hob den kraftlosen Arm und fuhr sich mit der Handfläche über das Gesicht. Ihre Wangen waren feucht. Sie musste im Traum geweint haben.

    Sie würde jetzt gleich die Augen öffnen und sehen, dass sie in ihrem Bett lag. In ihrem nachtdunklen Teenagerzimmer, beschützt von all den Plüschtieren aus Kindertagen, dem alten Fusselteddy Freddy und der dicken Babypuppe Leila. An den Wänden die Poster ihrer Lieblingsgruppen. Im Hintergrund würde der runde Mond gemütlich zum Fenster hereinblinzeln und die Blätter des Kirschbaumes würden sanft hin und herschaukeln.

    Bei drei. Eins, zwei ...

    Helenes Augen blieben geschlossen. Nur noch ein paar Sekunden. Sie hatte Angst. Was, wenn das hier nicht ihr weiches Kuschelbett war? Was, wenn rings um sie wieder diese tintenschwarze Nacht waberte, in der man überhaupt nichts sehen konnte? So, wie in dem schlimmen Alptraum gestern? Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, wie es ausgegangen war.

    Aber, was soll es denn sonst sein, du dumme Trine. Du machst jetzt sofort die Augen auf und vergewisserst dich. Sei kein Feigling. Du bist ein starkes Mädchen. Also los.

    Das Mädchen kniff die Lider einen Moment lang fester zu und öffnete sie dann einen Spalt, um die Umgebung erst einmal vorsichtig zu testen.

    Finsternis.

    Jetzt riss sie die Augen weit auf.

    Nichts. Schwarze, schwarze Nacht.

    Kein Mond, kein Kirschbaum, keine dicke Leila, keine Poster.

    Absolute Lichtlosigkeit.

    4

    »Take good care of my baby ... never let her go ...«

    Leise dudelte die softe Männerstimme aus dem Radio-wecker durch das dunkle Schlafzimmer. Regina seufzte, drehte sich um und zog das Kissen über den Kopf. Sie würde ganz sicher nicht mit ihrem Mann aufstehen. Manfred schob das Deckbett beiseite. Die Morgenluft berührte mit kalten Fingern zuerst seine Füße und tastete sich dann an den nackten Beinen nach oben.

    Er konnte spüren, wie sich die Härchen an den Schenkeln aufrichteten. Es wurde allmählich Zeit, zu langen Schlafanzügen überzugehen. Wie ein Turner am Pferd schwang er die Beine nach links und setzte sich gleichzeitig auf. Seine Zehen krümmten sich für eine Sekunde, als die Fußsohlen die Bodenfliesen berührten. Manfred drückte auf den Aus-Knopf und machte dem Gejaule den Garaus.

    5:38 zwinkerten die grünleuchtenden Ziffern ihm zu. Zeit, aufzustehen, Herr Rabicht.

    Das Bett knarrte, als er in seine Hausschlappen schlüpfte, sich erhob und zum Fenster schlurfte. Gerade erst Anfang September und die Tage wurden schon wieder merklich kürzer. Er legte die Hand auf den kalten Metallriegel und sah zum Nachbargrundstück hinüber. Man konnte förmlich zusehen, wie der Garten verwilderte, seitdem sich niemand mehr darum kümmerte. Der alte Bochmann war im Juli gestorben. Einfach so. Herzinfarkt hatten die Ärzte diagnostiziert. Ein schöner Tod. Mit einundachtzig war es auch nicht zu früh. Manfred drückte das Fenster an den Rahmen, riegelte es zu und tapste ins Bad.

    Die Neonröhre klickte erst ein paar Mal, ehe sie ansprang. Das viel zu helle Licht ließ ihn älter aussehen. Er wandte den Blick von seinem müden Spiegelgesicht ab und griff nach der Zahnbürste mit den verbogenen Borsten. Karl war ein guter Nachbar gewesen. Hielt Haus und Garten in Schuss. Auch nachdem seine Erna das Zeitliche gesegnet hatte, brachte er ab und zu Tomaten oder eine Gurke aus dem kleinen Gewächshaus herüber. Von Zeit zu Zeit war Manfred auch bei ihm drüben gewesen und sie hatten ein kühles Bier zusammen gezischt. Er spülte mit Mundwasser nach. Es roch nach grüner Minze.

    Und nun war der Alte tot. Und schon ein paar Wochen später vergammelte da drüben alles. Wer weiß, wie es erst im Haus aussah. So weit er wusste, gab es keine direkten Erben. Erna und Karl hatten keine Kinder gehabt. Was geschah mit Haus und Hof, wenn der Eigentümer verstarb und keine Erben da waren? Legte der unersättliche Staat seine habgierigen Hände darauf?

    Er stieg aus der Dusche und zog das Badetuch von links nach rechts über die Schultern und den Rücken. Vielleicht sollte man sich einmal danach erkundigen. Nicht, dass durch den allmählich verwildernden Garten noch Einbrecher angelockt wurden. Man konnte nie wissen. Manfred Rabicht warf das Handtuch über die Chromstange und richtete die Kanten gerade aus. Sein Spiegelgesicht blickte jetzt fröhlicher drein. Bereit, den Tag zu beginnen. Er griff nach den Boxershorts und schlüpfte dann in die rote Arbeitshose mit dem Brustlatz. Schwarze Socken, dunkelbraunes Hemd. Ein Hausmeister sollte nicht schick, sondern funktional gekleidet sein. Die Badezimmertür fiel mit einem Schmatzen ins Schloss und er drückte sie wieder auf, damit der feuchte Dunst abziehen konnte.

    Der Nachthimmel hinter dem Küchenfenster begann, sich dunkelgrün zu färben. Das Haus des Nachbarn duckte sich schwarz und klein unter die riesigen Fichten. Es schien zu trauern.

    Manfred Rabicht besaß noch immer Karl Bochmanns Schlüssel. Niemand hatte ihn nach dem Tod seines Nachbarn danach gefragt. Karl hatte einen Schlüssel von ihnen, sie hatten einen Schlüssel von Karl. Das war so üblich. Und warum hätte er ihn freiwillig abgeben sollen? So konnte man wenigstens ab und zu nach dem Rechten sehen.

    Und vielleicht sollte er genau das in den nächsten Tagen einmal tun. Nach dem Rechten sehen. Den Rasen mähen. Regina konnte indessen in der Nachbarschaft herumfragen, warum noch keine Erben aufgetaucht waren. Schließlich hatten sie das Recht, zu erfahren, wie es weitergehen würde.

    Er öffnete den Klappverschluss der Kaffeedose und schaute auf die letzten Krümel am Boden. Regina hatte mal wieder nicht nachgefüllt. Und wie immer war nicht sie diejenige, die am frühen Morgen nach unten stapfen und Nachschub holen musste. Auf dem Weg dorthin nahm er die Klappkiste mit den leeren Flaschen mit.

    Der Keller war ein Labyrinth, typisch für alte Häuser. Es gab etliche Kammern. Für Kohlen, für Vorräte, für Werkzeug. In den meisten lagerte ein Berg unsortierten Zeugs. Das war seine Schuld. Er fand nie Zeit, dort mal gründlich aufzuräumen. Den Vorratskeller hielt Regina in Schuss. Manfred schnüffelte. Es roch nach alten Kartoffeln und feuchter Erde. Er mochte den Kellergeruch schon seit seiner Kindheit. Er versprach Kühle und Dunkelheit. Und leckere Vorräte. Kompott und Marmelade.

    Die Kaffeepackungen standen genau in Augenhöhe, in Reih und Glied auf den Brettern. Prodomo von Dallmayer. Regina kaufte nur diese Sorte. Er war teuer, aber sie behauptete, das sei der einzig wahre Kaffee. Kopfschüttelnd betrachtete Manfred das Etikett, stolperte im gleichen Augenblick über eine Kante im Betonboden und fing sich mit dem linken Arm an der Wand ab.

    In Karls Keller gab es keinen Betonboden. Das Haus nebenan besaß noch den festgestampften, unverwüstlichen Lehmboden von früher. ›Geh mir weg mit diesem neumodischen Schnickschnack.‹ hatte Karl gesagt. ›Ein richtiger Keller braucht keinen Betonboden. Siehst du irgendwelche Unebenheiten hier? Ist es irgendwo feucht?‹ Dann hatte der Alte sich ächzend nach dem Bierkasten gebückt und im Aufrichten mit dem Kopf geschüttelt. ›Nichts da! Solange ich lebe, kommt hier kein Betonboden hin. Ein Kohlenkeller braucht kein Fenster, ein Kellerfußboden keinen Beton. Das war so und das bleibt so.‹ Dann war er, sich den krummen Rücken haltend, nach oben geschlurft und Manfred war ihm gefolgt wie ein Hündchen seinem Herrn.

    Ein Kohlenkeller braucht kein Fenster.

    Seit mindestens zehn Jahren hatten Karl und Erna eine Ölheizung. Gegen diesen Luxus hatte sich der alte Griesgram nicht gewehrt. Aber seinen guten alten Kohlenkeller wollte er auch nicht einfach so aufgeben. Also blieb der Raum, wie er war. Ein finsteres Loch von drei mal vier Metern. Zu nichts nütze.

    Zu nichts nütze.

    Manfred stach mit der Schere ein Loch in die fest verschweißte Tüte, damit sie sich entspannen konnte, schüttelte das Pulver nach unten und schnitt den oberen Falz ab. Kaffeeduft stieg ihm in die Nase.

    Er schaltete die Maschine ein und suchte im Kühlschrank nach den belegten Broten, die seine Frau schon am Vorabend vorbereitet hatte. Im Küchenradio gab Opa Unger von ›Radio PSR‹ altbackene Witze zum Besten. Manfred kontrollierte die Uhrzeit. Zehn nach sechs. Er hatte genau noch zehn Minuten, um zu frühstücken.

    Manfred Rabicht kam ungern zu spät. Er nahm seine Arbeit ernst. Der Besuch im Keller hatte ihn vier Minuten gekostet, die jetzt fehlten.

    Im Schritttempo, um nicht anzuecken, fuhr er das Auto aus der Garage. Jetzt war es schon fast hell. In der Luft lag ein Geruch von fernem Kartoffelfeuer.

    Manfred Rabicht bog auf die Straße ein und betrachtete im Vorüberfahren nachdenklich das geduckte Haus seines Nachbarn. Es schien auf etwas zu warten.

    Er hielt vor dem großen Tor, stieg aus, schob den Schlüssel in das verrostete Schloss und nahm sich zum hundertsten Mal vor, es zu ölen. Hinter den Eisenstangen wartete der Schulhof auf das allmorgendliche Getümmel.

    Der Hausmeister fuhr in die hinterste Ecke, stellte das Auto vor der Werkstatt ab, stieg aus und sah sich um. Auf dem Abfallcontainer stritten sich zwei Krähen um undefinierbare Reste. Hinter ihm knirschte der Kies. Die Sekretärin bugsierte ihr Auto auf ihren Stellplatz, schachtelte sich hinter dem Lenkrad hervor, winkte ihm zu und schloss den Hintereingang auf. Der Tag konnte beginnen.

    5

    Der Hausmeister legte die große Rohrzange neben ihre kleineren Gefährten und schob die beiden oberen Hälften des Werkzeugkastens zusammen, bis das Schloss einrastete. Fünfzehn Uhr. Für heute reichte es mit der Arbeit. Schließlich war morgen auch noch ein Tag.

    Natürlich könnte Manfred Rabicht etwas Besseres sein, als gerade Hausmeister. Er war intelligent, kein Zweifel. Aber ihm genügte das hier, ihm fehlte der Ehrgeiz.

    Klar, hätte er damals Abi machen und studieren können. Die Voraussetzungen dazu waren da gewesen, aber er hatte Geld verdienen und nicht noch jahrelang die Schulbank drücken wollen. Abitur und Studium, das hieß: Mindestens sechs Jahre keine Knete. Nichts für ihn.

    Manfred Rabicht presste einen Zentimeter der körnigen Waschpaste heraus und rieb dann die Handflächen aneinander. Grauer Schaum strudelte ins Waschbecken. Er würde jetzt bei Helga im Sekretariat noch einen Kaffee trinken und dann nach Hause verschwinden.

    Nach der Klempnerlehre hatte er zuerst ein paar Jahre bei seinem Meister gearbeitet. Handwerker verdienten im Osten gutes Geld. Und nach der Wende, als leider Schluss mit der schönen Westknete und der Sonderbehandlung gewesen war, hatte sich durch einen glücklichen Zufall dieser Job hier ergeben. Ihm gefiel es, Hausmeister zu sein. Keiner konnte so richtig nachprüfen, was er arbeitete und ob er arbeitete.

    Auf dem Weg nach oben betrachtete er die rissigen Kellerwände des alten Gebäudes und klimperte dabei mit dem riesigen Schlüsselbund in seiner Kitteltasche. Ein bisschen neue Tünche würde dem ehrwürdigen Gemäuer nicht schaden, aber es war kein Geld da.

    Neben einer massiven Eisentür konnte man noch die Abkürzung ›LSR‹ erkennen. Seit übersechzig Jahren prangten die Buchstaben dort. Die ehemals rote Farbe war zu einem bräunlichen Rosa verblichen, aber man konnte es noch immer lesen. Der Raum dahinter war ein fensterloses Loch. Zu DDR-Zeiten hatte man hier die Ausrüstung für den Unterricht in Zivilverteidigung gelagert. Gasmasken, Schutzanzüge, Krankentragen, Sani-Taschen. Manfred Rabicht war sich heute, nach all den Jahren, noch immer nicht im Klaren darüber, ob die senilen Bonzen in Berlin tatsächlich geglaubt hatten, mit diesen Mitteln einen Krieg gewinnen zu können.

    Er stieg die Steinstufen nach oben und versuchte sich zu erinnern, wann er den Raum hinter der Tresortür zum letzten Mal betreten hatte. Es musste Jahre her sein.

    Vielleicht sollte man den Luftschutzraum mal wieder inspizieren. Aber nicht mehr heute. Heute musste Manfred Rabicht erst einmal das Haus seines lieben Ex-Nachbarn Karl abchecken. Er klopfte dreimal kurz, einmal lang an die Tür des Sekretariats und trat, ohne auf ein »Herein« zu warten, ein.

    Regina war nicht zu Hause. Am Flurspiegel klebte in Augenhöhe eine Haftnotiz. Manfred trat dichter heran und las. ›Bin bei Margot.‹ Der Zettel verdeckte seine Augen. Es sah aus, wie der Balken, der bei Zeitungsfotos zum Unkenntlichmachen von Gesichtern verwendet wurde. Nur dass er nicht schwarz, sondern gelb war. Er riss die Notiz ab und zerknüllte das Papier. Frau Rabicht war also bei ihrer Busenfreundin zum Kaffeeklatsch. Das konnte dauern. Gelegenheit für ihn, seine guten Vorsätze in die Tat umzusetzen und im Haus nebenan nach dem Rechten zu sehen.

    Er zog die Haustür hinter sich zu und sah sich um. Die Dahlien ließen ihre schweren Köpfe nach unten hängen. Rot und orange loderten Farbfetzen durch das Bohnenspalier. Der eindringliche Duft nach Dillblüten weckte Erinnerungen an eingeweckte Gurken.

    Vom Komposthaufen erhob sich ein Schwarm grünschwarz schillernder Fliegen und brummte missbilligend über den näher kommenden Störenfried. Kaum war er vorbei, ließen sich die Aasfresser wieder auf den ausgekochten Knochen nieder, die Regina dort achtlos hingeworfen hatte. Manfred nahm sich vor, sie daran zu erinnern, dass Fleischreste nicht auf den Kompost gehörten. Das lockte nicht nur widerliche Schmeißfliegen, sondern auch Marder und andere Raubtiere an.

    Im hinteren Bereich des Gartens machte der Zaun einen Knick. Er blieb stehen und drehte sich um. Die Fichten, die noch vor zehn Jahren so hübsch wie kleine dunkelgrüne Pyramiden ausgesehen hatten, verdeckten nun fast ihr gesamtes Haus. Nur oben links lugte noch ein Eckchen des Schlafzimmerfensters heraus. Die niedrige Pforte zwischen den Brombeersträuchern kreischte beim Aufstoßen entrüstet und er nahm sich vor, sie demnächst mit etwas Kriechöl zum Schweigen zu bringen.

    »Da bin ich, Karl. Will mal nach dem Rechten gucken. Das ist doch auch in deinem Sinne, nicht wahr?« Manfred Rabicht sah nach oben in den glatt blauen Himmel und hatte für einen kurzen Moment das Gefühl, der Alte schaue mit prüfendem Blick auf ihn herab.

    Die Ähren der Grashalme reichten ihm bis zu den Knien und benetzten den Saum seiner Hose mit Wassertröpfchen. Wie schnell entwickelte sich aus einer gepflegten Wiese eine Wildnis, wenn sich keiner darum kümmerte. Vereinzelt schimmerten noch ein paar übrig gebliebene dunkelrote Brombeeren zwischen den Blättern der wuchernden Sträucher hervor. Es sah aus wie eine Illustration in einem alten Kinderbuch.

    Er stieg die drei Stufen zur Hintertür hinauf. Lautlos drehte sich der große Schlüssel im Schloss. Mit einem kleinen Quieken schwang die weiß lackierte Tür auf und gab den Blick auf die Küche frei. Manfred trat ein, zog die Tür hinter sich zu und sah sich um.

    Das Rosenmuster von Ernas selbst gehäkelten Gardinen zeichnete sich lichtdurchbrochen auf dem dunkelgrünen Linoleum ab. Auf den Schränken lag eine graue Staubschicht. Und es roch ungewaschen

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