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Caller off Duty
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eBook173 Seiten2 Stunden

Caller off Duty

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Über dieses E-Book

7:07 Uhr – Identitätsverlust – wer zur Hölle ist er – Christoph Kayser oder Max Mustermann? Statt im Callcenter soll er plötzlich als Erpresser arbeiten. Ständig wechselnde Perspektiven stellen immer mehr infrage, ob er nun Max, Christoph oder doch jemand ganz anders ist. Wer soll er sein? Wer will er sein? Und wer trifft diese Entscheidung – gibt es überhaupt eine Wahl? Das Selbstbild immer als Gegenspieler, versucht er, die Puzzleteile seiner Identität im Alltag einer offensichtlich völlig absurden Welt wiederzufinden.
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag der Ideen
Erscheinungsdatum1. Aug. 2017
ISBN9783942006859

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    Buchvorschau

    Caller off Duty - Matthias Hockmann

    Balanzia

    Identitäter

    Caller

    Caller Off Duty

    Wer sich ein grobes Bild von einer Person machen möchte, kann ein simples Informationsdreieck aufspannen: Name, Alter, Beruf. Als Beispiel:

    Gregor Brönner

    52 Jahre

    Call-Center Agent

    Auf diese Weise wird schnell und effizient eine mit Sicherheit klischeelastige Vorstellung von einem gealterten Berufstelefonisten erzeugt, dessen wahre Identität sich natürlich nicht auf dieselben drei Punkte runterbrechen lässt. Sogar Gregor Brönner ist komplexer als das, ohne ihm jetzt allzu viel Persönlichkeit zuzusprechen. Ob dasselbe für mich gilt, bleibt abzuwarten. Meinem eigenen Informationsdreieck fehlt nämlich seit 07:07 Uhr eine Ecke:

    Christoph Kayser

    Alter bekannt

    Call-Center Agent

    Ich kenne mein Alter nicht, weil ich die Zeitspanne ausgeblendet habe, die es definiert. Deshalb ist die Person, die ich darstelle, mit dem Menschen, der ich bin, nicht verbunden. Zwischen den beiden herrscht Funkstille, seit der Kontakt abgebrochen wurde. Dieser Zustand fühlt sich, wenn ich ehrlich bin, ein kleines bisschen schizophren an, aber Schizophrenie als Diagnose lehne ich ab. Ich bin ja nicht geisteskrank. In diesem Sinne hole ich tief Luft, verstelle meine Stimme und sage:

    »Wunderschönen guten Tag, mein Name ist Kayser, Christoph Kayser. Hätten Sie vielleicht fünf Minuten Zeit für eine kurze Umfrage? Wir erkunden das Nutzerverhalten von …«

    Der Anruft wird unterbrochen, und CallQuest, unser künstlich intelligenter Sklaventreiber, wirft mich sofort in den Verteiler zurück. Das Freizeichen ertönt keine zweieinhalb Sekunden später, nach dem ersten Klingeln hebt jemand irgendwo in Hessen ab. Ich wiederhole meine Begrüßungsformel, werde abgewürgt, bevor ich »Umfrage« sagen kann, und direkt einer neuen Adresse zugewiesen. CallQuest erwischt eine Telefonnummer, die nicht vergeben ist, danach eine, die zurzeit nicht erreichbar ist und dann eine Mailbox in München. Diese Verbindung unterbreche ich selbst, weil wir Anrufbeantworter nicht besprechen sollen. Die Rückrufwahrscheinlichkeit sei zu gering, sagt Gregor. Der sitzt links neben mir am Fenster und tippt mich gerade mit seinem übergroßen Zeigefinger an: »Ich habe jetzt mein erstes Interview geführt.«

    »Schön für dich«, gebe ich angefressen zurück. Ich gönne ihm seinen Erfolg nicht. Gestern hat er schon zwei gemacht, und das weiß ich, weil er vorhin damit rumgeprahlt hat.

    »Achtzehneinhalb Minuten«, freut er sich.

    »Da hatte wohl jemand Gesprächsbedarf – Rentner?«

    »Nein. Siebenundzwanzig.«

    »Frühpensioniert?«

    »Witzbold. Willst du mir meine neue Bestzeit madig machen?«

    »Selbst für achtzehneinhalb Minuten müsste der eigentlich Schadensersatz verlangen.«

    »Sie. Aber ich gebe dir Recht: Eine kleine Vergütung wäre angemessen.«

    »Und besser für die Trefferquote allgemein.«

    »Gewiss. Der Kunde möchte natürlich austesten, wie weit er ohne kommt.«

    »Typisch Bank«, behaupte ich, ohne wirklich zu wissen, was typisch für eine Bank ist. Ich nehme es bloß an. Kunde jedenfalls wird bei uns ein Unternehmen genannt, das eine statistische Erhebungen in Auftrag gibt, die uns mindestens eine Woche lang mit Telefonaten beschäftigt. Ob sich eine Umfrage für den Befragten lohnt, kann uns dabei prinzipiell egal sein, aber die Aussicht auf ein Incentive erleichtert das Verkaufsgespräch. Glücklicherweise verkaufen wir ihm kein Produkt sondern die Bedeutsamkeit einer Statistik. Es sei wie mit Bundestagswahlen, erzähle ich manchen: Der Wähler gibt nur eine Stimme ab, aber jede Stimme zählt. Im vorliegenden Fall sei es zum Beispiel extrem wichtig, das Nutzerverhalten vor Bankautomaten unter 10- bis 30-Jährigen zu erfassen, um mit den natürlich anonym ausgewerteten Daten eine bessere Zukunft für kommende Generationen im Sinne der Bankautomatenbedienfreundlichkeit zu schaffen. Was wäre die Welt bloß ohne diesen Service? Richtig – dieselbe.

    »Übrigens«, klärt Gregor mich auf, »Rentner fallen aus dem Raster.«

    »Nicht mehr lange«, antworte ich belustigt, denn ich weiß zufällig über Konferenzraum C4 Bescheid. Den darf von uns 08/15-Callern keiner betreten, und dafür gibt es einen Grund, den ich offiziell nicht kenne, mir jedoch inoffiziell erschließen kann – schon erstaunlich: Welche Windungen mein Hirn so dreht, um nach Rom zu kommen, ist mir weiterhin ein Rätsel, aber die erstellten Verknüpfungen erscheinen mir logisch. »Alle Wege führen nach Rom«, meinte Gregor während der Tagesrunde. Eine Tatsache, die ich beruhigend finde, selbst wenn es sich dabei um ein unbestätigtes Gerücht handelt.

    »Das haben wir nicht zu entscheiden«, entscheidet er in Reaktion auf meinen Kommentar. Der alte Mann hat offenbar kein Ohr für Sarkasmus. »Wenn die Zielperson unter zehn oder über 30 ist, klickst du auf das vorgesehene Kästchen und wirst automatisch …«, er unterbricht sich und klopft mit dem Riesenzeigefinger an sein Headset, um mir verständlich zu machen, dass er ein Umfrageopfer in der Leitung habe: »Ja, hier Brönner, vielen Dank fürs Abheben! Haben Sie zehn Minuten Zeit für mich? Das wäre eine gute Investition, kann Ihnen versprechen! Wieso? Nun, ich rufe im Auftrag der Erfolgsbank an! Dort haben Sie ein Konto, sagt mein Computer. Darf ich meinem Computer vertrauen?«

    Er ruft die Maske für ein neues Interview auf – ich kassiere einen Korb aus dem Saarland. Der Riesenfinger beackert die linke Computermaustaste, und der Gregor daran wirft mit Glückwünschen um sich, weil er einen Zielgruppentreffer vermerken darf. Gehetzt rattert er den Fragenkatalog ab, um seine achtzehneinhalb Minuten von eben zu unterbieten. Gelegentlich gibt er ein Kichern von sich, das wie »gnhihihi« klingt.

    Ich bin genervt. Gregor Brönner ist, statistisch gesehen, der erfolgreichste Caller bei uns. Ein hagerer, überkorrekter Hampelmann, der 12 Euro die Stunde einstreicht und dick Provision kriegt. Er telefoniert erst eine Stunde auf diese dämliche Bankstudie und ist bereits beim zweiten Interview! Ich wünsche ihm einen Abbruch. Meines Erachtens nimmt er den Job zu ernst. Außerdem stinkt er nach abgestandenem Schweiß. Ich mag ihn nicht. Trost finde ich in dem Gedanken, dass Telefone in Zukunft immer smarter werden und bald auch Körpergeruch übertragen wird. Dann muss sich Gregor verdammt warm einpacken. Gehässigkeit kommt von zu viel Niederlage, denke ich. Ein feiner Zug ist das natürlich nicht gerade, aber Gregor bringt halt das Charakterschwein in mir zum Vorschein. Seine autistische Professionalität macht mich wahnsinnig!

    Nach einer Rufumleitung durch CallQuest nehme ich meinen Roboterdienst wieder auf und erhalte die erste Anzeigendrohung für heute. Auf mein Anraten hin löscht CallQuest die Nummer aus dem Verteiler. Sicher ist sicher, wenngleich ich nichts zu befürchten habe. So ist der Job. An einigen Tagen läuft es besser, an anderen läuft es schlecht. Heute, Dienstag, läuft es komplett anders. Heute ist der Tag, an dem ich vergessen habe, wer ich bin.

    Alltagsfertig stand ich um 07:07 Uhr vor meiner Wohnungstür im dritten Obergeschoss, um abzuschließen. Offensichtlich bin ich ein gewissenhafter Mensch, weil sich die Türe zum Treppenhaus von außen nicht öffnen lässt. Die Klinke zu meiner Wohnung ist ein fest fixierter, silberner Knauf mit Schlüsselloch. Vielleicht bin ich ein Doppelt-hält-besser-Mensch, im besten Fall kein leichtsinniger. Als ich den Schlüssel drehte, blieb meine Aufmerksamkeit für Sekunden am Türspion hängen, und ich weiß noch, dass ich mir ausmalte, im Wohnungsflur von meinem eigenen Selbst beobachtet zu werden. Es musterte mich durch den Spion mit Augen aus Glas, stand da wie ein Bestatter auf einer Beerdigung und initiierte telepathisch den Auftakt des Weltuntergangs. Erschrocken zog ich den Schlüssel ab und erkannte, dass plötzlich alles gelöscht war, womit ich mich je identifiziert hatte!

    Mein Leben vor dem Abschließen war ein nie gelebtes, XY eine unbekannte Nummer in der Datenbank des allmächtigen Programmierers. Ausgeschlossen, mit dem Schöpfergeist dieses Hirnficks in Dialog zu treten, ausgeschlossen, die damit verbundenen Konsequenzen richtig einzuschätzen. »Verdrängung ist König«, sagte ich mir also und fahre bis jetzt ganz gut damit, zumal ich kein sonderlich gefühlsbetonter Mensch bin. Mit Panik kann ich wenig anfangen, deshalb reduziere ich sie auf ein Minimum. Richtig beschissen fühlt es sich eh nur an, wenn ich zu lange darüber nachdenke, was einen Menschen zum Menschen macht oder einen Beruf zur Berufung. Solche Fragen lassen sich mangels Lebenserfahrung schlecht beantworten und treiben einen höchstens in den Wahnsinn. Zum Glück habe ich meinen Job noch. Erstens lenkt er mich von meiner Identitätskrise ab, und zweitens wäre ich ohne ihn lediglich

    Christoph Kayser

    Alter bekannt

    Beruf bekannt

    Nachdem ich mich von mir abgespalten hatte, klammerte ich mich mangels Optionen an das bisschen Routine, das mir geblieben war: Ich stieg um 07:24 Uhr in den Bus – die Haltestelle liegt bei mir um die Ecke, ganz in der Nähe einer uralten, knallgelben Telefonzelle – und fuhr zur Arbeit, wo ich nach der Tagesrunde im Besprechungszimmer seit 08:17 Uhr mit gesichtslosen Menschen telefoniere. Gesichter brauchen wir nicht; wir sind ein Call- und kein Skype-Center.

    »Das ist jetzt aber wirklich ärgerlich!«, ruft Gregor. »Wo ist mein Interview hin?«

    Zwischenblick, übersetze ich mir gedanklich das Wort »Interview«, runzle die Stirn darüber und fange gleichzeitig einen Anruf ab: »Wunderschönen guten Tag, mein Name ist …« Ich stutze: Bin ich wirklich Christoph Kayser? Klingt wie ausgedacht, vermute ich. Die meisten Caller verwenden Pseudonyme. Bin ich auch so ein Typ? Ein Pseudonym-Typ? Eher ja. Das verrät mir mein Bauchgefühl. Sofern es tatsächlich mein Bauchgefühl ist und nicht das von Christoph Kayser. Aber wie soll ich das rauskriegen? Gregor fragen? Apropos, warum muss der heute eigentlich unbedingt neben mir sitzen?

    »Jaaa?«, fragt die Reibeisenstimme in der Leitung. »Hallo?«

    »War der Techniker gestern nicht da?«, regt sich Gregor auf, fuchtelt mit den Armen und beschließt, bei der Abteilungsleitung eine Beschwerde vorzutragen. So könne er nicht arbeiten. Das sei unprofessionell. Er schiebt sich an mir und meiner Nachbarin, einer jungen Frau mit Kopftuch, vorbei. Sie telefoniert auf eine andere Studie in einer anderen Sprache, nimmt sich aber die Zeit, ihm einen Fluch zuzuwerfen. Per Blickkontakt. Ich nehme an, dass sie Türkin ist, entweder weil ich auf diese Assoziation sozialisiert bin oder rassistisch. Ich hoffe auf Sozialisierung, weil ich politisch korrekt zu sein scheine …

    »Junger Mann«, fährt die Stimme in meiner Leitung fort. »Wer sind Sie, bitte schön?«

    »Äh, Kayser ist mein Name, Christoph Kayser.«

    »Prima. Damit hätten wir die erste Hürde genommen.« Die Stimme hustet. »Wobei kann ich Ihnen helfen?«

    »Ich bin Caller.«

    »Was ist das?«

    »Jemand, der in einem Call-Center arbeitet.«

    »Call-Center? Wie interessant! Mit Ihnen wollte ich ja schon immer einmal telefonieren!«

    »Das trifft sich gut«, antworte ich lachend. »Ich habe gerade zehn Minuten Zeit!«

    Angestrengt versuche ich herauszufinden, um welches Geschlecht es sich handelt. Mein Datensatz ist unvollständig, und der Begrüßung habe ich nicht die Aufmerksamkeit geschenkt, die ich mir nun rückwirkend gewünscht hätte. Egal. Oberste Regel eines Callers: gnadenlos weiterquatschen. »Die meisten fühlen sich von uns belästigt«, quatsche ich weiter.

    »Das sagt der Friedhelm auch immer. Der ist nicht gut auf euch zu sprechen. Teletubbys nennt der euch, weil er den Beruf so albern findet. Und Telefonterroristen, weil er so oft von euch angerufen wird. Ist aber von Natur aus auch sehr miesepetrig, der Friedhelm. Das können Sie mir glauben! Der regt sich über Gott und die Welt auf. Sie klingen ja ganz nett, junger Mann. Wie alt sind Sie denn?«

    »Siebenundzwanzig«, rate ich und starte eigenmächtig das Interview. Die erste Frage lautet: Wie alt sind Sie? Darunter finde ich vier Kästchen:

    bis einschließlich 10 Jahre

    11 bis 20 Jahre

    21 bis 30 Jahre

    31 Jahre oder älter.

    »Als ich in dem Alter war«, erzählt die Stimme in der Leitung, »gab es euren

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