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Reform des Bundestagswahlsystems: Bewertungskriterien und Reformoptionen
Reform des Bundestagswahlsystems: Bewertungskriterien und Reformoptionen
Reform des Bundestagswahlsystems: Bewertungskriterien und Reformoptionen
eBook282 Seiten2 Stunden

Reform des Bundestagswahlsystems: Bewertungskriterien und Reformoptionen

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Über dieses E-Book

Die Bundestagswahl 2017 hat gezeigt: Das Wahlsystem für den Deutschen Bundestag bedarf dringend einer erneuten Reform. Das im Jahr 2013 zuletzt reformierte Bundestagswahlgesetz gilt als zu kompliziert und intransparent, ist nur noch für Experten verständlich und kann zu unkontrollierten Vergrößerungen des Deutschen Bundestages führen. Bei der Bundestagswahl 2017 ist die Zahl der Abgeordneten von 598 auf 709 angestiegen – eine unnötige Vergrößerung des Parlaments, die durch eine rechtzeitige Reform des Wahlrechts vermeidbar gewesen wäre. Aber wie könnte eine nachhaltige Reform des Wahlsystems aussehen? Welchen Kriterien müsste es genügen und welche Reformoptionen stehen zur Verfügung? Auf diese Fragen gibt die vorliegende Publikation "Reform des Bundestagswahlsystems" Antworten und diskutiert konkrete Vorschläge für eine nachhaltige Wahlsystemreform.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum8. Nov. 2017
ISBN9783867938310
Reform des Bundestagswahlsystems: Bewertungskriterien und Reformoptionen

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    Buchvorschau

    Reform des Bundestagswahlsystems - Joachim Behnke

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    I.Das Wahlsystem von 2013: Entstehung, Funktionsweise und Reformbedarf

    Florian Grotz, Robert Vehrkamp

    Die Bundestagswahl 2013 fand nach einem neuen Wahlsystem statt, das erst kurz zuvor unter großem Zeitdruck verabschiedet worden war. Ob es seinen Praxistest bestanden hat, ist äußerst umstritten. Wenigen positiven Einschätzungen stehen zahlreiche kritische Urteile gegenüber. Nach überwiegender Meinung ist eine erneute Reform schon deshalb erforderlich, weil die jüngste Änderung des Bundeswahlgesetzes zwar einige Probleme gelöst, aber auch neue geschaffen hat.

    Warum hat man das Wahlsystem zum Deutschen Bundestag überhaupt reformiert, nachdem es jahrzehntelang nahezu unverändert geblieben war? Welche Funktionsprobleme sollten dadurch gelöst werden? Und welche neuen Probleme hat die Reform hervorgebracht?

    Mit diesen Fragen befasst sich das vorliegende Einleitungskapitel. Abschnitt 1 behandelt die Vorgeschichte der Wahlsystemreform. Er erklärt, wie das Bundestagswahlsystem entstanden ist, wie es bis 1990 funktioniert hat und warum es nach der Wiedervereinigung vom international gefeierten Modell zum Problemfall wurde. Abschnitt 2 zeichnet die wichtigsten Etappen des Reformprozesses nach, der von einer Nachwahl 2005 ausging und mit einer Wahlgesetzänderung endete, die 2013 in Kraft trat. Abschnitt 3 erläutert die Struktur und Funktionsweise des neuen Wahlsystems und zeigt auf, warum eine Reform der Reform unabweisbar ist.

    1. Das Wahlsystem zum Deutschen Bundestag: vom internationalen Modell zum Problemfall

    Das Wahlsystem umfasst diejenigen Bestimmungen des Wahlrechts, die die Form der Stimmabgabe und die Umrechnung von Wählerstimmen in Parlamentsmandate festlegen (Behnke, Grotz und Hartmann 2017: 57 ff.; Nohlen 2014). Das Wahlsystem ist für die Funktionsweise einer repräsentativen Demokratie von zentraler Bedeutung. Schon geringfügige Modifikationen wie das Anheben oder Absenken einer Sperrklausel können die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse und damit die parteipolitische Zusammensetzung der Regierung verändern. Gleichzeitig kann man Wahlsysteme detailliert gestalten. Sie bestehen aus heterogenen technischen Elementen, die fast beliebig miteinander kombinierbar sind und höchst unterschiedliche Effekte hervorbringen können. Hinsichtlich der politischen Auswirkungen unterscheidet man zwei Grundtypen von Wahlsystemen: Mehrheitswahl und Verhältniswahl.

    Mehrheitswahlsysteme zielen auf die Konzentration des parlamentarischen Parteiensystems und die Förderung von Einparteienregierungen. Deswegen sind sie so konstruiert, dass sie größere Parteien bei der Mandatsvergabe begünstigen. Dadurch wird jedoch meist die Proportionalität zwischen Stimmen- und Mandatsanteilen beeinträchtigt.

    Die idealtypischen Effekte von Verhältniswahlsystemen verhalten sich genau umgekehrt. Hier besteht das zentrale Ziel darin, einen möglichst exakten Proporz zwischen Stimmen- und Mandatsanteilen herzustellen. So wird eine adäquate Repräsentation kleinerer Parteien im Parlament erreicht. Aufgrund dieser Proporzwirkung leisten Verhältniswahlsysteme in der Regel keinen effektiven Beitrag zur Konzentration des parlamentarischen Parteiensystems.

    Die Struktur des Wahlsystems entscheidet mithin über die Zuweisung politischer Macht. Sie ist daher immer besonders umkämpft. Das war auch in der jungen Bundesrepublik der Fall (Jesse 1985: 92 ff.). So stimmte der Parlamentarische Rat (1948–1949) nur dahingehend überein, dass das Wahlsystem ausschließlich für die erste Bundestagswahl gelten sollte. Deswegen ist es bis heute nicht im Grundgesetz festgeschrieben und kann mit einfacher Bundestagsmehrheit verändert werden. Die institutionelle Ausgestaltung des Wahlsystems erwies sich dagegen als höchst kontrovers: Während die CDU/CSU für die relative Mehrheitswahl nach britischem Vorbild plädierte, favorisierten die SPD und die kleineren Parteien ein Verhältniswahlsystem.

    Schließlich einigte man sich darauf, einen Teil des Bundestages nach relativer Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen (Direktmandate) und den anderen Teil über Parteilisten zu besetzen (Listenmandate). Entgegen dem ersten Anschein war dies keine symmetrische Kombination von Mehrheits- und Verhältniswahl: Da die gewonnenen Direktmandate einer Partei auf ihre Listenmandate angerechnet werden sollten, wurde der Proporz zum entscheidenden Kriterium der Mandatsvergabe. Deshalb würden größere Parteien durch den Gewinn von Einerwahlkreisen keinen Mandatsbonus erhalten. Allein für den Fall, dass eine Partei mehr Direktmandate als Listenmandate erhielt, durfte sie diese überzähligen Sitze – sogenannte Überhangmandate – behalten, ohne dass die anderen Parteien einen Ausgleich dafür bekamen.

    Sieht man von dieser Ausnahme ab, so sollten die nach Mehrheitsregel vergebenen Mandate nicht die parteipolitische Struktur des Bundestages beeinflussen, sondern lediglich seine personelle Zusammensetzung. Das Bundeswahlgesetz (BWahlG) spricht daher von »einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl« (§ 1, Absatz 1). Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch hat sich die Bezeichnung »personalisierte Verhältniswahl« durchgesetzt.

    Zur Grundstruktur aus personalisierten Direktmandaten und proportional vergebenen Gesamtmandaten kamen weitere institutionelle Regelungen, die bis 1956 nochmals modifiziert wurden. Seitdem sind sie im Wesentlichen gleich geblieben und haben die Funktionsweise des Bundestagswahlsystems nachhaltig geprägt. Konkret zählen dazu:

    Zweistimmensystem. Seit der Bundestagswahl 1953 hat jeder Wähler zwei Stimmen: eine für einen Direktkandidaten im Wahlkreis und eine für die Landesliste einer Partei. Ursprünglich gab es nur eine einzige Stimme, mit der ein Wahlkreiskandidat und zugleich dessen Partei gewählt wurden.¹

    Landeslisten. Parteilisten dürfen ausschließlich auf Landesebene aufgestellt werden. Bundesweite Listen, die der Parlamentarische Rat ursprünglich vorgesehen hatte, wurden von den Ministerpräsidenten der Länder und den Alliierten abgelehnt.

    Sperrklausel. Seit 1953 muss eine Partei bundesweit mindestens fünf Prozent der gültigen Zweitstimmen erhalten, um an der Mandatsvergabe beteiligt zu werden. Bei der ersten Bundestagswahl hatte es noch ausgereicht, diese Prozenthürde in nur einem Bundesland zu überspringen.²

    Grundmandatsklausel. Parteien, die mindestens drei Direktmandate gewinnen, sind von der Sperrklausel ausgenommen. Vor 1956 war dafür ein Mandat erforderlich.

    Bundesweiter Stimmenproporz. Die Verteilung der Gesamtmandate auf die Parteien erfolgt nach bundesweitem Proporz der Zweitstimmen (Oberverteilung). Erst im nächsten Schritt werden die Mandate innerhalb der einzelnen Parteien proportional nach Zweitstimmen auf die jeweiligen Landeslisten verteilt (Unterverteilung), bevor schließlich die in einem Land gewonnenen Direktmandate von den entsprechenden Listenmandaten abgezogen werden. Vor 1956 wurde die gesamte Mandatsberechnung innerhalb der einzelnen Länder vorgenommen.

    50 Prozent Direktmandate. Der Anteil der Direktmandate an den Gesamtmandaten, der 1949 auf 60 Prozent festgesetzt worden war, wurde 1953 auf 50 Prozent verringert. Ungeachtet periodischer Veränderungen der regulären Abgeordnetenzahl wurde diese Relation bis heute beibehalten.

    Auch nach den genannten Modifikationen blieb das personalisierte Verhältniswahlsystem bis in die späten 1960er-Jahre umstritten (Grotz 2016: 232 f.). In der deutschen Politikwissenschaft gab es seinerzeit eine klare Präferenz für die Mehrheitswahl. Besonders prominent war hier die Position von Ferdinand A. Hermens. In seiner Schrift »Demokratie oder Anarchie« behauptete er, dass in der Weimarer Republik »nicht die Demokratie als solche« gescheitert sei, sondern nur »ihre durch Verhältniswahl geschwächte Variante« (Hermens 1968: V).

    Dolf Sternberger war ebenfalls der Ansicht, dass die »Gerechtigkeit« der Mandatsverteilung, die die reine Verhältniswahl in der Weimarer Republik hervorgebracht habe, zur »arithmetischen Zerlegung« des Parteiensystems geführt und so zum Aufstieg des Nationalsozialismus beigetragen habe. Die Verhältniswahl sei daher das »System des Krieges«, während die relative Mehrheitswahl die britische Demokratie stabilisiert habe und mithin das »System des Friedens« sei (Sternberger 1964: 34).

    Parallel dazu versuchte die CDU/CSU, ihre ursprüngliche Präferenz für ein Mehrheitswahlsystem durchzusetzen, zumal sie nun als stärkste bundespolitische Kraft davon besonders profitiert hätte. Allerdings traf diese Position auf den entschiedenen Widerstand der kleineren Regierungsparteien (FDP, DP) und der oppositionellen SPD. 1966 ergab sich die außergewöhnliche Gelegenheit zu einer »großen Wahlreform« (Sternberger 1964). Nachdem die erste Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD gebildet worden war, befürworteten auch die Sozialdemokraten ein mehrheitsbildendes Wahlsystem, weil sie sich davon die Entwicklung eines Zweiparteiensystems und somit eine alternierende Übernahme der Regierungsmacht versprachen. Am Ende machten sie jedoch einen Rückzieher, weil sie unter Mehrheitswahl eine dauerhafte Hegemonie der Union befürchteten und ihnen durch die koalitionspolitische Umorientierung der FDP eine neue Machtperspektive erwuchs. Mit Bildung der sozialliberalen Bundesregierung 1969 wurde ein Wechsel in Richtung Mehrheitswahl endgültig obsolet.

    In den 1970er- und 1980er-Jahren kam die Debatte über eine Reform des Bundestagswahlsystems fast vollständig zum Erliegen.³ Der wichtigste Grund dafür war, dass die personalisierte Verhältniswahl in diesem Zeitraum nahezu mustergültige Auswirkungen hervorbrachte (Grotz 2009b: 159 ff.). Hatte die Sperrklausel bis Ende der 1950er-Jahre noch etlichen kleinen Parteien den Einzug in den Bundestag verwehrt und dadurch jeweils über zehn Prozent »verlorene« Stimmen produziert, so verringerte sich dieser Filtereffekt kontinuierlich. Die Existenz der Prozenthürde hielt offenbar die allermeisten Wähler davon ab, ihre Stimme einer Kleinpartei zu geben und damit zu »verschwenden«. So kam es, dass bei den Bundestagswahlen 1972, 1976 und 1983 jeweils weniger als ein Prozent der Stimmen an der Sperrklausel scheiterte. Diese hohe Proportionalität ging allerdings nicht zulasten der Mandatskonzentration. Im Gegenteil: Die größte Bundestagspartei erhielt regelmäßig zwischen 45 und 49 Prozent der Sitze, die zweitgrößte nur etwas weniger. Damit zählte das bundesdeutsche Parteiensystem zu den konzentriertesten in Westeuropa.

    Auch das Zweistimmensystem wurde in dieser Phase positiv beurteilt, da es eine politisch differenzierte Stimmabgabe ermöglichte.⁴ Besondere Bedeutung kam hier dem Stimmensplitting zu, bei dem ein Wähler seine Erststimme für den Kandidaten einer Partei vergibt und mit der Zweitstimme eine andere Partei wählt. In den 1970er- und 1980er-Jahren profitierte davon vor allem die FDP (Nohlen 2014: 380 ff.): Da jeweils vor der Wahl bekannt war, mit welcher der beiden großen Parteien die Liberalen koalieren würden, entschieden sich zahlreiche Wähler dafür, ihre Zweitstimme der FDP zu geben und mit der Erststimme den Wahlkreiskandidaten des größeren Koalitionspartners (CDU/CSU bzw. SPD) zu unterstützen. Mithilfe dieser strategisch vergebenen Zweitstimmen, die großenteils von Anhängern der Union bzw. der SPD stammten und daher als Leihstimmen bezeichnet wurden, konnten die Liberalen stets in den Bundestag einziehen und als Zünglein an der Waage an die Regierung kommen.

    Auf diese Weise gelang es dem personalisierten Verhältniswahlsystem, die zentralen Ziele der Mehrheitswahl und der Verhältniswahl gleichzeitig zu erfüllen. Seit den 1980er-Jahren wurde es daher in der politikwissenschaftlichen Diskussion als internationales Erfolgsmodell gefeiert, weil es »das Beste beider Welten« in sich zu vereinen schien (Shugart und Wattenberg 2001a). Allerdings resultierte die rundum positive Funktionsbilanz nicht allein aus der institutionellen Struktur des Wahlsystems. Dies wird deutlich, wenn man seine Auswirkungen seit der Wiedervereinigung ansieht.

    Obwohl das Bundestagswahlsystem nach 1990 unverändert blieb, stieg die Disproportionalität zwischen Stimmen und Mandaten an. Ähnlich wie in den 1950er-Jahren produzierte die Sperrklausel nun einen höheren Anteil an verlorenen Stimmen. Den bisherigen Höhepunkt dieser Entwicklung markierte die Bundestagswahl 2013, als insgesamt 15,8 Prozent der gültigen Zweitstimmen auf Parteien unter der 5-Prozent-Marke entfielen und somit nicht im Parlament repräsentiert waren. Gleichzeitig sank die Konzentration des Parteiensystems, weil CDU/CSU und SPD nun mit drei kleineren Parteien – FDP, Bündnis 90/Die Grünen und PDS/Die Linke – in einer offeneren Wettbewerbssituation konkurrierten und die kleinen Parteien meist mehr als fünf Prozent der Zweitstimmen erhielten. Einer solchen Fragmentierung des Parteiensystems konnte die Sperrklausel nicht entgegenwirken, da sie keine Sitzprämien für große Parteien erzeugt, sondern alle Listen, die über fünf Prozent der Stimmen erhalten, gleich behandelt.

    Die sichtbarste Funktionsänderung des Bundestagswahlsystems, die dann auch zu der jüngsten Reformdebatte führte, war die deutliche Zunahme von Überhangmandaten. Wie Abbildung 1 zeigt, waren bei den elf Bundestagswahlen zwischen 1949 und 1987 nur insgesamt 17 Überhangmandate entstanden. Zwischen 1990 und 2009 fielen dagegen 80 Überhangmandate an – also fast fünfmal so viele in nur sechs Wahlen.

    Abbildung 1:Anzahl der Überhangmandate bei den Bundestagswahlen (1945–2009)

    Quelle: eigene Darstellung nach Nohlen (2014: 387)

    Politische Brisanz erlangte dieses Phänomen erstmals bei der Bundestagswahl 1994, als 16 Überhangmandate entstanden, die allesamt der CDU zugutekamen und somit der christlich-liberalen Koalition unter Helmut Kohl zu einer komfortableren Mehrheit verhalfen. Weil die Regierungsparteien danach keine Bereitschaft zeigten, das Wahlgesetz zu reformieren, zog die oppositionelle SPD gegen die Überhangmandate vor das Bundesverfassungsgericht, das die Klage 1997 – wenn auch nur äußerst knapp – zurückwies. Nachdem die Sozialdemokraten bei der Bundestagswahl 1998 zur stärksten Partei geworden waren und nun selbst in den Genuss von Überhangmandaten kamen, verloren sie wieder das Interesse an einer Wahlsystemreform. Auch die CDU/CSU ließ es dabei bewenden. Machtpolitisch schien das Problem entschärft zu sein, da beide Volksparteien offenbar davon ausgingen, dass immer die stimmenstärkste Kraft von den Überhangmandaten profitieren würde und somit das Wahlsystem keine einseitigen Vorteile produzieren würde.

    In der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft wurden die Überhangmandate weiterhin äußerst kritisch bewertet (Behnke 2007; Meyer 2010). Dabei ging es weniger um ihre Vor- und Nachteile für bestimmte Parteien als darum, dass ihre Entstehungsbedingungen hochgradig arbiträr waren. Grundsätzlich kamen Überhangmandate immer dann zustande, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewann, als ihr nach ihrem Zweitstimmenanteil zustanden. Das war normalerweise der Fall, wenn der Anteil der Direktmandate einer Partei in einem Land mehr als doppelt so hoch ausfiel wie ihr Anteil an Zweitstimmen. Nach dieser Faustregel erhielt eine Partei mit einem Zweitstimmenanteil von beispielsweise 30 Prozent dann Überhangmandate, wenn sie gleichzeitig über ihre Erststimmen mehr als 60 Prozent der Direktmandate gewonnen hatte.

    Vor diesem Hintergrund hätte man meinen können, dass der zahlenmäßige Anstieg von Überhangmandaten lediglich auf einem höheren Splitting von Erst- und Zweitstimmen basierte und daher schlicht mit der Wiedereinführung des Einstimmensystems rückgängig zu machen sei. Leider erwies sich das Problem als weitaus komplexer (Grotz 2000; Behnke 2003b). Die Entstehung von Überhangmandaten war bereits in der Grundstruktur der personalisierten Verhältniswahl, d. h. in der Kombination von personalisierten Wahlkreismandaten und proportional vergebenen Gesamtmandaten angelegt und wurde tendenziell durch die verrechnungstechnisch verbundenen Landeslisten verstärkt. Ursächlich war also eine ganze Reihe unterschiedlicher Faktoren, die sich in ihrer Wirkung wechselseitig verstärken oder aufheben konnten. Daher hätten auch unter einem Einstimmensystem Überhangmandate auftreten können, sofern nur die Vergabe der Direktmandate nach relativer Mehrheit und die Gesamtsitzverteilung nach Proporzprinzip erfolgt wären.

    Außerdem stellten Überhangmandate keine automatische Sitzprämie für die stimmenstärkste Partei dar. Theoretisch war es ebenso möglich, dass die zweitstärkste Partei davon profitiert, was zu einem Patt zwischen den politischen Lagern hätte führen können. Alles in allem beruhten Überhangmandate nicht auf der Intention der Wähler oder des Verfassungsgebers, sondern ergaben sich aus dem komplexen Zusammenwirken verschiedener Wahlsystemelemente unter einer gegebenen Stimmenverteilung.

    Ein Mechanismus, der im Zusammenhang mit der Entstehung von Überhangmandaten auftreten konnte, wurde in der wissenschaftlichen Debatte besonders problematisiert: das »negative Stimmgewicht« (Behnke 2015a). Demnach konnten weniger Stimmen für eine Partei dazu führen, dass sie mehr Überhangmandate erhielt; umgekehrt konnte ein Stimmenzuwachs für eine Partei auch die Entstehung eines Überhangmandats verhindern und ihr somit effektiv schaden.

    Die paradoxen Effekte des negativen Stimmgewichts wurden seit Ende der 1990er-Jahre ausführlich diskutiert und anhand von realen Wahlergebnissen illustriert. Freilich waren solche Szenarien immer ein arithmetisches Glasperlenspiel, weil negative Stimmgewichte nur ex post festzustellen waren. Aufgrund der komplexen Wechselwirkungen zwischen Wahlkreis- und Zweitstimmenergebnissen konnten sie nicht durch strategisches Wählen bewusst herbeigeführt werden. Dies galt jedoch nur unter der Bedingung, dass die Wahl auf dem gesamten Bundesgebiet gleichzeitig stattfindet. Bei Nachwahlen in einzelnen Wahlkreisen war es hingegen möglich, in Kenntnis der restlichen Ergebnisse den Mechanismus des negativen Stimmgewichts gezielt zu nutzen, um mehr Überhangmandate für eine bestimmte Partei zu generieren. Genau dieser Fall trat bei der Bundestagswahl 2005 ein und wurde damit zum Auslöser des längsten und kompliziertesten Reformprozesses in der bundesdeutschen Wahlgeschichte.

    2. Der bisherige Reformprozess (2005–2013)

    Der Prozess der jüngsten Wahlsystemreform vollzog sich in fünf Etappen:

    (1) 2005 kam es infolge einer Nachwahl in Dresden zu Verfassungsklagen gegen das bestehende Wahlrecht.

    (2) Diese Klagen führten im Juli 2008 zu einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das

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