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Tiroles: Roman
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eBook275 Seiten4 Stunden

Tiroles: Roman

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Über dieses E-Book

Ein historischer Lederhosenwestern – authentisch, spannend und mit Ironie erzählt
Es ist schon ein Pech, dass Josef beim Wildern erwischt wird. Wirklich brenzlig wird es, als er – aus Versehen – den Herrn Baron erschießt. Jetzt muss er so schnell wie möglich so weit wie möglich weg, denn die Staatsgewalt in Gestalt des Oberstleutnants Rebitzki ist schon hinter ihm her. Josef schlägt sich von Südtirol bis nach Triest durch, heuert auf einem Schiff in die Neue Welt an. Wir schreiben das Jahr 1864, Mexiko gehört zum Habsburgerreich, und der Tirolés, wie sie ihn hier nennen, gerät bald in die Auseinandersetzungen zwischen Kaisertreuen und Rebellen. Doch auch als er sich in einem fruchtbaren Tal niederlässt und mit Indianern eine Kolonie gründet, kommt er nicht zur Ruhe. Rebitzki, nach Mexiko strafversetzt, ist ihm schon wieder auf den Fersen …
SpracheDeutsch
HerausgeberRetina
Erscheinungsdatum16. Okt. 2017
ISBN9788899834098
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    Buchvorschau

    Tiroles - David Casagranda

    Anmerkungen

    In der Nacht hatte es geregnet, weshalb der Almboden noch vom Morgennebel verdeckt war, der sich erst in ein paar Stunden lichten würde, sobald die Sonne warm genug schien. Auch aus diesem Grund war der Josef ein kleines Stück weit in den Wald abgestiegen. Hier, zwischen den Bäumen, hatte er ausreichend Sicht auf den Wildwechsel. Weil ihn fror, zog er den Lodenumhang enger um seine Schultern und drückte den Hut fester auf die krause Wolle, die auf seinem Sturschädel wuchs. Lange würde er ohnehin nicht mehr bleiben können. Wenn die Melkerinnen mit ihrer Arbeit fertig waren, musste er zurück sein und die seine als Kaser beginnen. Aha, da rührte sich doch was. Oho, ein ganzes Rudel Rehe. Vorneweg ein stattlicher Zehnender, ihm folgten drei Ricken. Für Kitze war es noch zu früh im Jahr. Moment, da kam noch eine vierte Geiß, hm, sie humpelte ein wenig; wahrscheinlich hing sie deshalb etwas zurück. Vielleicht war sie von einem Luchs angefallen worden und gerade noch entkommen. Die würde er aufs Korn nehmen. Da verhoffte der Bock, Josef konnte seinen Spiegel ganz klar ausmachen. Wie sich das bei Rotwild so gehört, blieben auch die Ricken stehen. Josef lag gut gegen den Wind. Er nahm den Stutzen lautlos von der Schulter, legte an, zielte und drückte ab. Die Geiß kippte um wie ein Bierkrug bei der traditionellen Rauferei auf dem Dorffest zur Kirchweih. Blattschuss.

    Noch während er aufstand und sich auf den Weg zu seiner Beute machte, lud er den Stutzen neu. Er war geübt und geschickt, es dauerte nicht lange. Trotzdem dachte er einen Augenblick lang an die Geschichten von diesen neuen Hinterladern, mit denen die Preußen dem Hörensagen nach seit Kurzem ausgerüstet waren. Damit sollte man ungeheuer schnell und fast wie von selbst laden können. Bis so was allerdings den Weg in die österreichischen Alpen fand, würde noch viel Schnee schmelzen müssen. Er schaute wieder aufs Reh. Es tat keinen Mucks, aber man wusste ja nie. Wenn’s doch kein Blattschuss war, musste man dem Tier den Fangschuss geben. Auch sonst war’s bestimmt besser. Wildern konnte lebensgefährlich werden, falls man erwischt wurde. Tatsächlich, links hinter ihm raschelte es. Saggra, da war jemand auf dem Weg zum Hochstand. Kruzifix, das war der Toni, der Jagdaufseher. Bei ihm war der Baron, dem gehörte die Jagd, aber sollte der nicht in der Hauptstadt sein? Augenblick, da war noch ein Dritter, der Kleidung nach wohl dieser Oberstleutnant Rebitzki, ein Vetter des Barons, wie es schien, von dem die Leute beim Ochsenwirt erzählt hatten. Sie fürchteten den Polizeioffizier, auch die paar, die gar nichts ausgefressen hatten. Hinter vorgehaltener Hand tuschelte man, wenn auch nur ganz leise, er hätte sein Handwerk noch bei Metternich gelernt. Solche Leute reizte man nicht. Ganz im Gegenteil, wenn es sich irgendwie einrichten ließ, ging man ihnen aus dem Weg. Außerdem hieß es, er würde schon bei nächster Gelegenheit zu einem der jüngsten Obersten der k. u. k. Polizei befördert.

    Natürlich hatte der Toni den Josef erkannt. Und rief ihn an: „Bleib stehen, Oberkalmsteiner, ergib dich!" Selbstverständlich rief der Toni den Josef nicht auf Hochdeutsch an, aber Tirolerisch hatte sich bislang unverständlicherweise noch nicht als Weltsprache durchgesetzt. Wir (Pluralis Majestatis für: der Schreiber) tragen diesem tragischen Umstand in der vorliegenden Erzählung Rechnung und verzichten weitgehend auf Dialektbegriffe.

    Das würd’ euch so passen. Bloß schade um das schöne Reh. Josef warf ihm noch einen bedauernden Blick zu, dann sprang er querab talwärts, so schnell er nur konnte. Keine hundertfünfzig Fuß weiter unten begann dichtes Unterholz, da konnten sie ihn lange suchen, zumal sie keine Hunde dabeihatten. Was war denn das? Zuerst spürte er den Luftzug, ganz knapp neben seinem rechten Ohr, dann schlug die Kugel in den Baum vor ihm ein. Erst jetzt hörte er den Knall, und gleich noch einen. Die schossen ihm nach! Aber nicht mit ihm. Er ließ sich fallen, rollte hinter eine dicke Fichte und brachte den Stutzen schon wieder in Anschlag. Bei seinen Verfolgern rührte sich was. Ohne nachzudenken drückte Josef ab, zum zweiten Mal an diesem Morgen. Eine Gestalt fiel ebenso unspektakulär um wie vorhin das Reh. Noch ein Volltreffer. Mist, das war der Baron. Es gab keinen Zweifel. Jacke und Hut, wie sie sich kein Dörfler jemals würde leisten können, sowie deutlich ergrauter Spitzbart. Der Toni trug einen schwarzen Vollbart, der ihm zugegebenermaßen ganz ausgezeichnet stand und mit dem er nicht nur bei den Mägden gut ankam, die Gerüchte im Dorf wollten von wenigstens zwei adligen Damen wissen, die zu seinen Opfern gehörten. Außerdem war ihm bestens bekannt, dass der Josef einen treffsicheren Stutzen führte, und er passte wohlweislich auf. Der Rebitzki war gut zwanzig Jahre jünger als der Baron, noch dazu kampferfahren. Deshalb war er, wie auch der Toni, rechtzeitig in Deckung gegangen. Nicht so der Baron. Herrgott, was musste dieser verwöhnte Stubenhocker derart langsam sein! Kein Mensch blieb bei einem Schusswechsel einfach stehen. Damit forderte man die Kugel doch geradezu heraus. Josef war stocksauer. Half aber alles nichts. Er wusste sofort, dass er jetzt so schnell wie möglich so weit weg musste, wie’s ging. Er konnte weder ins Dorf noch auf die Alm zurück. Wahrscheinlich versuchte der Toni, ihm den Weg auf die Alm abzuschneiden, während der Polizeipinsel ins Dorf lief. Selbst wenn Josef kurz vor ihm ankommen sollte – sowieso schwer, er durfte sich ja nicht sehen lassen, sonst bekam auch er ein Stück Blei ab –, würden ihm schon wenige Minuten später die Polizisten auf den Pelz rücken, die mit dem Rebitzki aufs Sommerschlösschen gekommen waren. Dass diese hochwohlgeborenen – was waren die eigentlich? Schön, er selbst war vielleicht ein Wilddieb, weil er sich ab und zu was schoss, aber damit war er in der Gegend beileibe nicht allein. Gut, waren diese Adligen eben Tagediebe. Dass die ohne Hilfe nicht einmal dorthin kamen, wohin sogar ihr Kaiser zu Fuß geht, dabei kann der nicht einmal das Hosentürl selber aufmachen. Die Polizisten waren auch gar nicht das größte Problem, die waren alle aus der Hauptstadt, die konnte er mühelos abhängen. Aber da waren die Jagdhelfer, die kannten sich in der Gegend genauso gut aus wie der Josef. Ein paar von denen wilderten zwar nicht weniger als er selbst, aber darauf würde jetzt niemand groß herumreiten. Schau, da kamen schon vier den Weg herauf. Hätte er sich ja denken können, dass solche Hearischen gleich ein halbes Dutzend Leute brauchten, um ein einziges mickriges Reh zu erwischen und ins Tal zu bringen. Nur nichts selbst machen. Ihm jedenfalls blieb nichts anderes übrig. Er würde erst ein paar Stunden lang nach Osten um den Bergstock herum bis fast zum kleinen Weiler laufen müssen. Das konnten sie nicht vor ihm schaffen. Bis die erste Meldung das Dorf erreichte und sich berittene Boten aufmachten, musste er da schon durch sein. Aber sich ja nicht sehen lassen, nicht einmal bei der Margareth, wie schade. Sonst hätte er gleich die halbe Tiroler Gendarmerie auf dem Hals. Gendarmen gab’s zwar erst seit gut zehn Jahren, aber schießen konnten sie trotzdem. Über den südlichen Sattel könnte er in nur einem Tag das Badiotische erreichen. Dann weiter ins Ampezzanische. Nur weg.

    Oberstleutnant Franz Ferdinand von Rebitzki war gar nicht wohl in seiner Haut. Zwar hatte er alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen, sogar einen Steckbrief anfertigen lassen, aber trotzdem gab es – eine volle Woche nach dem Anschlag – noch immer keine Spur von dem Bösewicht. Ein gewisser Josef Oberkalmsteiner, offensichtlich ein notorischer Wilderer. Da war Rebitzki allerdings vorsichtig. Seiner Ansicht nach waren alle Tiroler in der Hinsicht nicht ganz stubenrein. Mit diesem Oberkalmsteiner schien auch sonst so einiges nicht zu stimmen. Erst mal war er ein uneheliches Kind, gut, so was kam auch andernorts vor. In diesem Fall freilich war nicht einmal bekannt, wer der Kindsvater war. Im Dorf munkelte man von einem lombardischen Pferdehändler, einem windigen Hundsbratenfresser. Aber die Mutter, die seit mittlerweile acht Jahren verstorbene ehemalige Hausmagd Katharina Oberkalmsteiner, unverheiratet und, soweit bekannt, ohne zumindest nähere Verwandtschaft, hatte sich bis zuletzt beharrlich geweigert, seinen Namen zu nennen. Warum wohl? Unter Umständen hätte sie ein wenig Unterstützung für ihren Sprössling bekommen. Auf der einen Seite könnten sich so die Sympathien erklären, die der Oberkalmsteiner offensichtlich für die Märzrevolution hegte. Er hatte immerhin mehrmals, wenn auch in trunkenem Zustand – damit stand er bestimmt nicht allein da – im Wirtshaus kräftig gegen das angestammte Herrscherhaus gewettert.

    Andererseits hatte er Matura! Als uneheliches Kind hatte er das Gymnasium bei den Stiftsherren besucht und die Reifeprüfung mit guten Noten bestanden. Jetzt wusste niemand besser als Rebitzki, wie teuer so eine Stiftsschule war, er musste selbst zu Hause in Nimburg für zwei Söhne sorgen. Die Katharina hatte nichts gehabt, so viel war schon mal sicher. Wer hatte also für den Josef bezahlt? Oberstleutnant von Rebitzki war zwar pflichtschuldigst Katholik, aber nicht naiv. So was trieb einem der Polizeidienst schon bald aus. Die Verbindung Hausmagd, uneheliches Kind und für die unteren Stände unerschwingliche Schule im Stift ließ ihn eher an einen geistlichen Herrn denken. Schließlich gab es Geschichten in allen Dörfern, keineswegs nur im Habsburgerreich, denen zufolge ein Priester nach dem anderen genau den gleichen Versuchungen erlag wie ein junger Polizeioffizier. Im aufmüpfigen Oberitalien etwa wusste der Volksmund: scopa come un prete, er vögelt wie ein Pfaffe. Pfaffen galten dort als sexuell besonders leistungsfähig, da sie den lieben langen Tag keine schwere körperliche Arbeit zu verrichten brauchten und am Abend nicht zum Umfallen müde waren wie gewöhnliche Untertanen. Wie auch immer. An sich lag man in Österreich mit Matura sozusagen in trockenen Tüchern. Trotz allgemeiner Schulpflicht seit nahezu hundert Jahren sah’s mit den tatsächlichen Lese-, Schreib-, Rechen- und sonstigen schulischen Künsten im Allgemeinen düster aus. Aber der Oberkalmsteiner war Jahr für Jahr als Kaser auf die Alm gegangen, anstatt es sich in einer bequemen und ordentlich entlohnten Stelle in irgendeiner Schreibstube gemütlich zu machen. Das stimmte doch hinten und vorn nicht. Nur, wenn schon im Dorf niemand mehr wusste, kannte der Oberkalmsteiner selbst überhaupt seinen Vater? Bei wem sonst konnte er sich verstecken?

    Hier im Dorf war so weit alles unter Kontrolle. Aber mittlerweile war der Täter schon seit einer Woche flüchtig. Zu Fuß konnte er in den Bergen allerdings nicht weit gekommen sein. Andererseits, wie sollte man in so einem Gelände einen einzigen Menschen finden? Außer, jemand verriet ihn, wie damals beim Andreas Hofer und den anderen Anführern des Tiroler Aufstands. Wie lange war das eigentlich her? Auch schon bald fünfzig Jahre. Oder sogar schon mehr? Tatsächlich, schon fünfundfünfzig. Überhaupt, diese Berge. Rebitzki sehnte sich nicht zum ersten Mal in sein schönes, flaches Böhmen zurück. Da konnte man ein beliebig großes Gebiet einfach von Truppen durchkämmen lassen, sofern einem genug Leute bewilligt wurden. Aber hier? Überall Felsen und Schluchten. Abgesehen von Adel und Geistlichkeit kein Mensch, mit dem man hätte reden können. Und wenn man mal mit einem reden musste, verstand man ihn nicht. Die Leute hier grummelten ein Kauderwelsch, mein lieber Herr Gesangsverein! Weiter im Süden sprach man wenigstens Italienisch und noch so eine merkwürdige Sprache, wie hieß die gleich? Ladinisch, genau. Das waren zumindest richtige Sprachen, entweder man konnte sie oder eben nicht. Aber dieses Tirolerisch!

    Apropos Süden. War der Oberkalmsteiner vielleicht doch nach Süden geflohen? Hoffnungslos. Gut, die Leute im Dorf behaupteten auch, er könne klettern wie eine Gams. Also könnte er heil über die Berge gekommen sein. Zwar unwahrscheinlich, aber immerhin möglich. Nehmen wir mal an, sein Vater wäre wirklich ein Lombarde, er kannte ihn und suchte entweder bei ihm selbst oder seinen Angehörigen Schutz. Dazu müsste er erst durchs Ampezzanische, dann runter bis an den Unterlauf der Etsch, wohl nach Padua. Von da an müsste er sich westlich halten, in Richtung Mailand. Aber der Oberkalmsteiner hatte höchstwahrscheinlich keinen einzigen Kreuzer in der Tasche. Zu Lichtmess hatte er zwar seinen Lohn als Kaser erhalten, wie es seit alters her Brauch war, aber Rebitzkis Leute hatten alles, auf Heller und Pfennig, in seiner Unterkunft auf der Alm sicherstellen können. Abgesehen vom Lohn waren da noch fünf alte Silbertaler. Der Bursche hatte augenscheinlich ordentlich gespart. Bei sich trug er ziemlich sicher kein Geld. Wer nahm schon Geld zum Wildern mit? Er müsste sich durcharbeiten oder aufs Stehlen verlegen. Schön, er war gesund und kräftig, konnte auch ein wenig Italienisch und Ladinisch, dank seiner Schulbildung sogar Latein und Altgriechisch. Rebitzki seufzte. Er hatte den Steckbrief an alle Amtsstuben in der weiteren Umgebung schicken lassen, aber das dauerte natürlich seine Zeit. Noch dazu gab auch die Personenbeschreibung nicht gerade viel her. Vierundzwanzig Jahre alt, etwas mehr als fünfeinhalb Fuß hoch, schlank, aber kräftig, braune Augen, dunkles, gelocktes Haar, 130 bis 135 Wiener Pfund schwer. Keine besonderen Kennzeichen. Davon gab’s viele im Reich. Mit der Kleidung konnte man ebenfalls nicht viel Staat machen. Genagelte Schuhe, Lederhosen sowie Hüte, Jacken und Umhänge aus Loden waren in Tirol naturgemäß alltäglich. Wenn sich der Verbrecher inzwischen nicht schon neues Gewand besorgt hatte.

    Dass ausgerechnet ihm so etwas passieren musste. Schon das mit dem Reh war nichts weniger als eine Blamage. Der Adel pochte auf seine Vorrechte, da kannten die nix. Wilddiebstahl war kein Kavaliersdelikt, wie diese Bergtrottel zu denken schienen. Andererseits sind die auch alles andere als Kavaliere. Aber der Baron! Gut, Rebitzki hatte ihn nicht besonders gut leiden können, eigentlich hielt er ihn für einen halbsenilen Weichling. In Ordnung, wie es so schön hieß, man konnte sich seine Familie nicht aussuchen. Dafür hatte der Baron Verbindungen bis direkt zum Hof. Seine Gattin war immerhin die Lieblingsbase des Ministers, seines eigenen ranghöchsten Dienstherrn, abgesehen von Ihro Majestät, dem Kaiser, selbstverständlich. Wenn sie, seine Tante, die Gräfin, nicht völlig in diesen unfähigen Dödel verschossen gewesen wäre, hätte es diese Heirat nie und nimmer gegeben. Ein einfacher, nicht einmal besonders begüterter Baron! Nur weil er gut aussah. So was hätte es früher nicht gegeben. Da entschieden noch die Familien, wer wen bekam. Das kam davon, dass in letzter Zeit sogenannte Liebesehen modern geworden waren. Sogar Erzherzog Maximilian sagte man eine solche nach. Ob das überhaupt stimmte? Bis vor Kurzem war er doch Hals über Kopf in die portugiesische Maria Amalia verliebt gewesen, die war immerhin eine Prinzessin. Obwohl nur in Brasilien, aber doch standesgemäß. Eigentlich schade, dass sie so früh gestorben war. Und schon ein Jahr später ehelichte er die belgische Prinzessin Charlotte. Auch standesgemäß. Soll trotzdem eine Liebesheirat gewesen sein. Der Max, dieser Schwerenöter, kam also auch bei den Damen gut an, nicht nur beim Volk. Aber so war’s nun mal. Rebitzki seufzte noch einmal. Besonders tief. Der Minister soll getobt haben. Dass Rebitzki überhaupt nichts dafürkonnte, stand gar nicht zur Debatte. Sollte der Oberkalmsteiner nicht schon sehr bald gefasst werden, konnte er, Oberstleutnant Franz Ferdinand von Rebitzki, trotz all seiner sonstigen Verdienste damit rechnen, einen kleinen Polizeiposten irgendwo auf dem Balkan zu befehligen. Wenn er Glück hatte.

    „Was gibt’s?, schnauzte er den Wachhabenden an, der nach den vorgeschriebenen drei Schritten vorschriftsmäßig stehen blieb, die Hacken zusammenknallte, dass die Gläser auf der kleinen Anrichte neben Rebitzkis Sekretär leise klirrten, salutierte und schnarrte, was zwar nicht vorgeschrieben, aber gerade bei sehr jungen Leutnants sehr beliebt war, sie kamen sich dann besonders schneidig vor: „Melde gehorsamst, Herr Oberstleutnant, wir haben ihn gesehen.

    „Wer hat wen gesehen?"

    „Melde gehorsamst, der Posten in Auronzo hat den Oberkalmsteiner gesehen."

    „In Auronzo? Seid ihr sicher?" Er riss dem wachhabenden Leutnant die Depesche ungeduldig aus der Hand.

    „Auf jeden Fall hat man einen gesichtet, auf den das Signalement passt, Herr Oberstleutnant. Er war mit einem welschen Grattler dort, der aus dem Val Badia, dem Gadertal, kam, schreiben sie."

    „Ich kann selbst lesen, Leutnant!", erwiderte Rebitzki in seinem kältesten Tonfall, der auch noch höheren Diensträngen als Leutnants den Angstschweiß auf die Stirn trieb. Hm, er ist einem Diensthabenden dort eigentlich nur aufgefallen, weil er zum ersten Mal da war. Und noch dazu mit einem Grattler, der zwar immer zum Viehmarkt dorthin fuhr, aber bislang jedes Mal allein gekommen war.

    „Warum hat man ihn nicht gleich verhaftet?" Die Kälte in der Stimme gefror zu Packeis.

    „Melde gehorsamst, Herr Oberstleutnant, ich kenne auch nur die Depesche." Der blutjunge Polizeileutnant Giovanett aus dem Etschtal litt Höllenqualen. Er fürchtete wohl nicht ganz zu unrecht, dass dem Vorgesetzten das italienische Sprichwort ambasciator non porta pena, den Boten trifft keine Schuld, wenn nicht unbekannt, so doch egal war.

    „Wie sind wir eigentlich mit Auronzo verbunden?" Giovanett glaubte, nicht richtig zu hören. Rebitzki hatte indirekt zugegeben, etwas nicht zu wissen.

    „Brieftauben. Nicht direkt. Zwischenstation in Cortina."

    „Wie lange?" Giovanett, der heimlich las, sogar Gedichte, hegte den Verdacht, Polizei und Militär pflegten diese extrem knappe Ausdrucksweise, die sich praktisch auf Stichworte beschränkte, hauptsächlich, um Peinlichkeiten wie Grammatik- oder Satzbaufehlern zuvorzukommen.

    „Halber Tag."

    „Sofort Depesche. Gott, wenn wir endlich Kabelverbindung bekämen. Verstärkt Kontrollen auf allen Straßen – Moment, er wird versuchen, über Longarone und Belluno entweder nach Vicenza oder Padua, dann nach Verona und von dort aus weiter nach Westen zu kommen. Wir müssen ihn unbedingt erwischen, bevor er entweder die Grenze zu den Venedigern im Süden oder gar die Lombardei im Westen erreicht. Konzentriert euch auf die Straßen nach Westen. Ich fresse einen Ladestock, wenn er nicht dahin will."

    „Zu Befehl." Giovanett machte auf dem Absatz kehrt. Er war froh, vorerst unbeschadet davongekommen zu sein. Auch er war trotz seiner Jugend nicht mehr ganz naiv und ihm war klar, dass jetzt, da das nigelnagelneue Königreich Italien alle Anstrengungen unternahm, sich die frühere Republik, die berühmte Serenissima, unter den Nagel zu reißen, keine Amts- und von der Bevölkerung ohnehin nirgends Hilfe zu erwarten war. In der Lombardei noch weniger als anderswo. Dort hatten sie den Radetzky noch lange nicht verdaut.

    „Pfiati, Nando. Grazie di tutto."

    „Ciao, Sepp. Fil Klik." Nando sprach Italienisch und Ladinisch viel besser als Deutsch, schlug sich aber mehr als achtbar, wenn man bedachte, dass er nicht einmal lesen und schreiben gelernt hatte. Schulpflicht hin oder her, arme Leute setzten ihre Kinder nach wie vor in irgendeiner Form zum Geldverdienen ein, sobald sie nur gehen konnten.

    Sie reichten sich die Hände und umarmten sich kurz. Als er Nando kurz vor Pedraces getroffen hatte, war Josef gerade dabei gewesen, einen fürchterlichen Bock zu schießen. Er kannte die Gegend nur vom Hörensagen und hatte beabsichtigt, bei La Villa nach Westen ins Grödnertal zu gelangen. Der Grattler Nando war im Lauf seines langen Lebens mit seinem von einem Muli gezogenen Karren schon fast überall gewesen und erklärte Josef die Wegverbindungen sowie die mit den jeweiligen Strecken verbundenen Gefahren sehr genau. Als Grattler beförderte man häufig nicht nur amtlich zugelassene Güter und war sowieso zu arm, um notfalls dem Wachtmeister ein kleines Trinkgeld zustecken zu können. Folglich setzte man alles dran, es gar nicht erst zu Begegnungen mit den k. u. k. Kontrollposten kommen zu lassen. Durch das Grödnertal wäre Josef nach Brixen, dann möglicherweise Bozen und vielleicht sogar bis Trient gekommen, aber abgesehen von den Reichsgrenzen gab es im Augenblick wohl keine besser bewachte Strecke als die zwischen Innsbruck und Verona. Die k. u. k. Südbahn fuhr schon seit einigen Jahren bis Bozen. Von dort bis Innsbruck arbeitete man wie besessen und selbstverständlich unter strengster Militär- sowie Polizeiaufsicht an der Brennerüberführung. Viel zu gefährlich.

    Nando hatte ihm den Flüchtling auf den ersten Blick angesehen, aber nichts gesagt. Josef wusste, er wäre verloren, würde ihn der betagte Grattler verraten. Er war fix und fertig, als er ihn traf. Zum Glück gab’s in den Bergen überall Wasser, so hatte er wenigstens keinen Durst leiden müssen. Aber er hatte seit drei Tagen nichts Richtiges mehr zwischen die Zähne bekommen, nur Kräuter und Wurzeln gekaut. Für Beeren und Pilze war’s genauso wie für Kitze noch viel zu früh im Jahr, an schattigen Stellen lag der Schnee noch fast bis in die Talniederungen. In seiner Lage durfte er keinen Schuss wagen, darauf warteten die doch nur. Fallenstellen kaum auch nicht infrage, das dauerte viel zu lange. Er wusste, früher oder später würde er sich jemandem anvertrauen müssen. Abgesehen vom Hunger, hatte er sich auch noch verlaufen. Was heißt verlaufen, er wusste schon ziemlich genau, wo er sich befand, aber er hatte keine genauen Vorstellungen davon, wohin er überhaupt flüchten sollte. Nach dem ersten Schreck hatte er sich noch zu seiner Entscheidung beglückwünscht, den Weg nach Süden zu suchen. Aber wohin auf dem Stiefel? Er erinnerte sich noch bestens an die Landkarte aus dem Schulunterricht und wusste im Großen und Ganzen um die politische Lage. Ab und zu war eine gediegene Ausbildung wirklich nicht zu verachten. Zwar war ganz Venetien unter österreichischer Herrschaft, aber seit der Märzrevolution kam es immer wieder zu Aufständen. Es war klar, dass die Habsburger langsam, aber sicher die Kontrolle verloren. Dort wäre er schon mal besser aufgehoben als in den sogenannten Kernländern, in denen k. u. k. Uniformen nicht automatisch als Bedrohung wahrgenommen

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