100 Jahre Oktoberrevolution: Irrweg oder Ausweg?
Von Edition Berolina
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Über dieses E-Book
die Bolschewiki konfrontiert waren und für die sie eine Lösung suchten (und nicht immer fanden), herrschen heute – in deutlich anderer Form, im Kern unverändert – erneut. Nicht in erster Linie historische Ereignisgeschichte wird hier aufbereitet, sondern die Autoren präsentieren einen vielstimmigen Debattenbeitrag zur Frage: Wie aktuell ist die Oktoberrevolution heute noch?
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Buchvorschau
100 Jahre Oktoberrevolution - Edition Berolina
www.buchredaktion.de
Einleitung
»Sollte nicht das 20. Jahrhundert im Singular das Jahrhundert der Revolution genannt werden?«
Hans Heinz Holz
»Die Bolschewiki haben gezeigt, dass sie alles können, was eine echte revolutionäre Partei in den Grenzen der historischen Möglichkeiten zu leisten imstande ist.«
Rosa Luxemburg
Wie steht es um das programmatische Erbe der Oktoberrevolution? Kann der Blick auf die Taten der Bolschewiki etwas anderes sein als ein Ernst-Busch-Liederabend – nostalgische Verklärung und wehmütige Rückschau auf bessere, aber nun mal unwiederbringlich verlorene Zustände?
Es ist mehr als 25 Jahre her, seit das politische Vermächtnis der Oktoberrevolution, der sowjetische Staatenblock, in den Orkus der Geschichte gerissen wurde. Die Folgen dieser verheerenden Niederlage sind noch immer nicht verarbeitet – nicht politisch oder organisatorisch, nicht theoretisch. Was von linker Politik nach der durch das Abrissunternehmen New Labour besorgten Zerstörung der Arbeiterbewegung derzeit übrig geblieben ist, sind Defensivgefechte, partikulares Emanzipationsstreben oder die Sehnsucht nach einem neokeynesianischem »New Deal«. Die Verkümmerung der Linkspartei durch nach rechts scherende »Gastrecht«-Debatten sowie Regierungsverantwortungsgeraune und die Erpressbarkeit deutscher Gewerkschaften durch Standortpolitik stimmen ratlos – auch wenn antisolidarische Sonderinteressen und theoretische Verwirrung innerhalb der Linken wahrlich kein neuer Befund sind.
Zwar ist das Unbehagen an den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen durch den neoliberalen Kahlschlag, durch die imperialistischen Kriege auf dem Balkan und im Nahen Osten und nicht zuletzt mit der Finanz- und Eurokrise wieder gewachsen. Es äußert sich jedoch nur hier und da progressiv, nicht selten allerdings reaktionär. Der Zustand der fortschrittlichen Seite kennzeichnet sich dabei in der Regel durch ein hohes Maß an Unbestimmtheit. Dort, wo linke Organisationen in den vergangenen Jahren zu einer relevanten Kraft herangewachsen waren, die zu übergehen nicht mehr möglich war, zeigte sich schnell deren programmatische und strategische Unzulänglichkeit, sofern man unterstellen darf, dass ihnen an wirklicher Veränderung lag.
Die russischen Revolutionäre verfochten demgegenüber einen universalen, die gesamte Menschheit umfassenden Anspruch. Unter ökonomischen und politischen Bedingungen, die schwerer kaum hätten sein können, machten sie sich daran, das Projekt der Aufklärung aus seinen feudalen und kapitalistischen Fesseln zu lösen.
Die Autoren des Bandes beabsichtigen keine historiographische Rekonstruktion der Oktoberrevolution und ihrer Folgen. (Sofern sich da überhaupt wesentlich Neues entdecken ließe – verstanden nämlich als Sammlung verborgener Fakten, die eine grundlegende Revision überkommener Geschichtsschreibung verlangten –, wären andere, besser Informierte da ganz ohne Zweifel geeigneter.) Reine Historisierung bedeutete zudem, die Sache als etwas ein für alle Mal Erledigtes zu betrachten, was sie aber nicht ist.
Die Oktoberrevolution und ihre Errungenschaften sind vielmehr die irgendwie entrückte, aber zugleich naheliegende Referenz zur Vermessung der gegenwärtigen Misere – das Vergangene, das noch nicht (wieder) ist. Wer die bleibende Relevanz der Oktoberrevolution als epochales Ereignis erörtern will, muss sich jedoch von dogmatischen Marxismus-Leninismus-Sprüchen fürs Poesiealbum wie auch von neoexistentialistischen Ereignisphilosophien verabschieden: Denn die Fragen, die sich die Bolschewiki stellten beziehungsweise mit denen sie konfrontiert waren und für die sie eine Lösung suchten (und nicht immer fanden), stellen sich heute in anderer Form erneut; sie am Schreibtisch lösen zu wollen, wäre dumm. Gelingt es aber, sie ideologiekritisch und historisch-materialistisch im Lichte aktueller Debatten zu verhandeln, wäre dies angesichts des akuten theoretischen Bankrotts der Linken bereits nicht wenig.
Daniel Bratanovic
im Juli 2017
Reinhard Lauterbach
Begünstigende Altlasten – Über den Zusammenhang von Februar- und Oktoberrevolution
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war das russische Zarenreich der mächtigste Staat des kontinentalen Europas¹. Die Niederlage der bürgerlichen Revolutionen von 1848/49 in Mitteleuropa war nicht zuletzt auf die politische Rückendeckung und militärische Unterstützung zurückzuführen, die Russland der preußischen und der österreichischen Monarchie gewährte. Sie verschaffte dem Land die Beinamen des »Gendarmen Europas« und der »Zitadelle der Konterrevolution«.
Doch als wenige Jahre nach der Niederschlagung der bürgerlichen Revolution Russland versuchte, seine Machtposition auf eigene Rechnung auszuspielen, stellten sich die Grenzen seiner Macht heraus. Das Bestreben, über eine Schwächung der Türkei die Kontrolle über den Ausgang des Schwarzen Meeres zu gewinnen, stieß auf den Widerstand Großbritanniens und Frankreichs, der damals führenden kapitalistischen Großmächte. Im Krimkrieg (1853–1856) brachten sie dank überlegender Militärtechnik und eines weiter entwickelten Transportwesens Russland eine blamable Niederlage bei.
Vor allem die Tatsache, dass die schlecht geführte russische Armee nicht einmal die Festung Sewastopol hatte verteidigen können, gab der Petersburger Bürokratie zu denken. Eine weitere lineare Verstärkung der Armee war weder vom Staat finanzierbar noch für die Volkswirtschaft des Landes tragbar. Denn traditionell waren etwa fünf Prozent eines männlichen Jahrgangs aus den Reihen der leibeigenen Bauern zu einem 25-jährigen Militärdienst zugunsten des Staates »konfisziert« worden. Diesen Anteil zu erhöhen und die Armee einfach zu verstärken, hätte die Gutswirtschaft, die auf unentgeltlicher Zwangsarbeit der Leibeigenen beruhte, nicht ausgehalten. Denn diese Zwangsarbeit war extrem unproduktiv, wurde mit Techniken verrichtet, die sich seit dem Mittelalter kaum verändert hatten. Das bedeutete: Es war – ähnlich wie beim Pyramidenbau – die schiere Zahl der Arbeiter, die eine gewisse Masse an Mehrwert erzeugte, von der die Gutsbesitzer und der zaristische Staat sich erhielten. Über seine »Rate« machte sich kaum ein Ausbeuter Gedanken. Auch Modernisierer Russlands wie Zar Peter I. (»der Große«) Anfang des 18. Jahrhunderts hatten dem Adel als Ausgleich für höhere Ablieferungspflichten gegenüber dem Staatshaushalt eine umso striktere Kontrolle über die Leibeigenen zugestanden. Deren Los verschlechterte sich in dem Maße, in dem die Ansprüche des Staates wuchsen. Auch die besten Köpfe der Gutsbesitzerklasse verstanden das und kritisierten es teils von humanistischen Positionen aus, teils aus Effizienzerwägungen. Die Leibeigenschaft wurde ab den 1840er Jahren in der russischen Öffentlichkeit – sie äußerte sich vor allem in der Literatur – immer stärker in Frage gestellt.
Die Bauern-Soldaten etwa nach einem kürzeren Dienst wieder in die Leibeigenschaft zurückzuschicken, galt als politisch nicht praktikabel. Es gab auch so schon ständig kleinere oder größere Bauernaufstände; dieses Unruhepotential noch durch an der Waffe ausgebildete entlassene Soldaten zu verstärken, die eventuell bei ihrer Entlassung noch nicht durch einen – nach den damaligen Bedingungen – praktisch lebenslangen Militärdienst physisch und psychisch ruiniert waren, wollte die Regierung nicht riskieren.
Als das erfolgversprechende Gegenmodell einer Militärreform galt die preußische Wehrpflichtarmee der Epoche der antinapoleonischen »Befreiungskriege«. Sie beruhte auf einem relativ kleinen stehenden Heer und umfangreichen und schnell mobilisierbaren ausgebildeten Reserven. Die Spitzenbeamten des Zaren wussten, dass in Preußen die Aufhebung der Leibeigenschaft die praktische und politische Voraussetzung dieser Reform gewesen war. So mehrten sich die Überlegungen, diesen Schritt auch in Russland zu gehen. Der 1855 auf den Thron gekommene Zar Alexander II. war – anders als sein reaktionärer Vater Alexander I. – zu diesem Reformschritt bereit. Am selben Tag im März 1856, an dem russische Diplomaten in Paris den Friedensvertrag zur Beendigung des Krimkriegs unterzeichneten, sprach er in einer Rede vor Vertretern des Moskauer Adels davon, es sei besser, die Leibeigenschaft kontrolliert »von oben« aufzuheben, als »von unten« dazu gezwungen zu werden.
Es brauchte noch weitere fünf Jahre, bis diese Bauernbefreiung im Februar 1861 offiziell verkündet wurde. Ihre Ausführungsbestimmungen sorgten dafür, dass ihre Hauptnutznießer die Gutsbesitzer wurden. Denn die Bauern bekamen mit ihrer rechtlichen Freiheit zwar so viel Land, wie ihnen offiziell zu ihrer Subsistenz zuerkannt wurde: durchschnittlich 4,5 Hektar pro männlicher Arbeitskraft, im unfruchtbaren Norden mehr, im fruchtbaren Süden Russlands weniger. Doch sie starteten in die Freiheit mit einer schweren Schuldenlast. Denn sie mussten dieses Land bezahlen. Nicht direkt an den Gutsbesitzer, so viel Geld hatten die Bauern natürlich nicht parat. Stattdessen finanzierte der Staat den Freikauf vor und verpflichtete die Bauern, ihm diese Freikaufsumme in Raten über 49 Jahre mit sechs Prozent Zinsen zurückzuzahlen. Damit der Fiskus nicht angesichts einer absehbaren Masse an »Privatinsolvenzen« verelendeter Bauern auf seinen Forderungen sitzenblieb, wurde die Befreiung allerdings nicht bis zum Schluss getrieben: Die Dorfgemeinschaft blieb bis 1903 als ganze dem Staat gegenüber für die Rückzahlungen haftbar. Diese Haftungsgemeinschaft war mit regelmäßigen Umverteilungen des Landes unter den Bauernfamilien verbunden, wobei die Zahl der Esser oder die der männlichen Arbeitskräfte als Kriterium diente. Teile der oppositionellen Intelligenz sahen hierin die Grundlage für einen eventuellen eigenen russischen Weg zum Sozialismus; politisch hielt sich diese Strömung in Gestalt der Sozialrevolutionäre bis in die Anfangsjahre der Sowjetunion.
Die Folgen der »Bauernbefreiung« waren also:
• Stagnation der Produktivität auf dem Dorf. Denn solange das Land individuell bewirtschaftet, aber regelmäßig umverteilt wurde, hatte keiner der Bauern ein Interesse daran, durch rationelle Produktion und Bodenverbesserung die Grundlage für den Erfolg seines Nachfolgers auf dem betreffenden Acker zu schaffen.
• Der Zwang für die Bauern, aus dem fürs knappe Überleben kalkulierten Stück Land trotzdem auf Kosten der Subsistenz der eigenen Familie Erträge für den Markt zu produzieren, um die Schulden gegenüber dem Staat zu bezahlen.
• Außerdem mussten die Bauern für lange Übergangsfristen trotzdem noch jeweils vierzig Arbeitstage pro Mann und dreißig pro Frau für die Gutsherren arbeiten – grob gerechnet also zehn, unter Berücksichtigung des langen Winters praktisch wohl eher zwanzig Prozent der Arbeitszeit einer Bauernfamilie –, davon den Großteil im Sommer, wodurch ihre Arbeitskraft auf den eigenen Feldern fehlte.
• Die Ausstattung der Gutsbesitzerklasse mit Kapital für den Start in die agrarkapitalistische Wirtschaftsweise. Daran ändert die Tatsache nichts, dass zahlreiche Gutsbesitzer nicht in der Lage waren, dieses Startkapital bestimmungsgemäß zu nutzen. Die Verschuldung der Gutsbesitzer als Klasse wuchs. Anton Tschechow hat dem unter den neuen Bedingungen nicht lebensfähigen Teil der einst herrschenden Klasse in der Gestalt der Ranewskaja im – kurz vor der Revolution von 1905 entstandenen – Kirschgarten ein literarisches Denkmal gesetzt.
• Die Ingangsetzung einer internen Migrationswelle solcher von ihren Produktionsbedingungen geschiedenen Menschen aus dem Dorf, wo es sich immer schlechter überleben ließ, in die Städte, wo die allmählich entstehende Industrie Arbeitskräfte brauchte. In der Praxis waren Mischformen wie bäuerliches Heimgewerbe oder jahreszeitlicher Wechsel zwischen Fabrikarbeit im Winter und Rückkehr aufs Dorf im Sommer verbreitet, denn die Dorfgemeinschaft verlangte den Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft, ansonsten drohte das Stück Ackerland, der Familie bei der nächsten der regelmäßigen Umverteilungen des Bodens verloren zu gehen.
Der völlig unverhüllte Klassencharakter dieser »Bauernbefreiung«, der deren humanistisch-moralisches Element zur Farce machte, verschaffte dem zaristischen System allerdings auch eine neue Schicht von Gegnern. Sie entwuchsen nicht mehr nur dem aufgeklärten Adel – so wie noch in der Generation von Alexander Herzen oder Pjotr Kropotkin –, sondern zunehmend auch einer Schicht, die der Staat im Interesse der Professionalisierung seiner inneren Verwaltung selbst heranzog: der »verschiedenen Ständen entstammenden« Intelligenz (Rasnotschinzy). In diese Schicht gingen sowohl Kinder verarmender Gutsbesitzer ein, denen der Landbesitz keine Existenz mehr garantierte, als auch beispielsweise Söhne – Töchter sehr selten – von elementar gebildeten nichtadligen Schichten wie orthodoxen Geistlichen und Kaufleuten. Die Intelligenzija war als Faktor in der russischen Gesellschaft nicht zu unterschätzen; nicht nur wegen ihrer Bildung und Artikulationsfähigkeit, sondern auch deshalb, weil sie zum Beispiel bei der Volkszählung von 1894 mit 2,7 Prozent der Bevölkerung zahlenmäßig deutlich stärker ausgewiesen wurde als das Industrieproletariat mit 1,7 Prozent.
Die Intelligenz war entweder freiberuflich oder – überwiegend – für die »Landschaften« (Zemstwa) tätig, regionalen und – wenn auch nach einem mehrstufigen Wahlrecht – immerhin gewählten Selbstverwaltungsgremien. An sie hatte der Zentralstaat die meisten Aspekte der Staatsgewalt, die weniger mit Herrschaft zu tun hatten als mit Verwaltung, delegiert. Die Zemstwa bauten Straßen, betrieben Krankenhäuser und Schulen; man kann sie als organisatorischen Kern einer bürgerlichen Modernisierung des Zarenreichs aus sich heraus verstehen. In ihren Reihen entstand der russische Liberalismus, gewann das russische Bürgertum politische Qualifikationen.
Vor allem an den Hochschulen Russlands agitierten außerdem radikale Kritiker des autokratischen Systems. Ihre erste Generation orientierte sich auf die Befreiung der Bauern als der zahlenmäßig stärksten Klasse der damaligen Gesellschaft. Die »Volkstümler« pflegten dabei die Vorstellung, die Elemente