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Chef vermisst: Roman
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eBook356 Seiten4 Stunden

Chef vermisst: Roman

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Über dieses E-Book

Nachdem ein amerikanischer Pharma-Multi einem schweizerischen Familienunternehmen unter die Arme greift, verliert dieses nach und nach an Bodenhaftung. Das Leben von Yves Pernin, Product Manager und sensibler Globalisierungsgegner, gerät dabei völlig außer Kontrolle. Er verzweifelt schließlich an seiner Ohnmacht, verschwindet spurlos. Dann wird der Finanzdirektor der Firma tot aufgefunden… Polizeichef Frank Clahsen beginnt die verzwickten Ermittlungen. Nach und nach kommen weitreichende Seilschaften ans Licht und die Grenzen zwischen Geschäft und Verbrechen zerfließen. Hans Rudolf Ruchti kennt sich aus in der Welt der sogenannten KMUs, denn er war selbst Unternehmensberater in dieser Szene. Als Berater für bessere Menschen – nicht für bessere Zahlen! Und in seinem spannenden Roman zeigt er, dass das eine das andere nicht ausschließen müsste.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum25. Okt. 2012
ISBN9783837250022
Chef vermisst: Roman

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    Buchvorschau

    Chef vermisst - Hans Rudolf Ruchti

    Oliver

    1  Donnerstag, 9. Dezember bis Donnerstag, 16. Dezember

    Donnerstag, 9. Dezember

    Der schwer beladene Sattelschlepper kroch laut brummend die steile Rampe zur Brücke über den Seyon hoch. Im Moment, als der Fernfahrer das Gaspedal langsam losließ, riss die schwarze Rauchfahne ab, die aus dem dicken Auspuffendrohr gequollen war.

    „Scheiße, gottverdammte Hurenscheiße!", zischte Padu Marsac zwischen zusammengebissenen gelblichen Zähnen. Er hatte auf einem breiten Kiesstreifen rechts vor der Brückeneinfahrt seinen fast siebzehn Meter langen Vierzigtonner-LKW abstellen und die vorgeschriebene und nun längst überfällige Ruhepause einlegen wollen. Seine Nerven lagen blank. Der frühe Wintereinbruch hatte mehrere Blockaden des Schwerverkehrs zur Folge gehabt und er war mit seinem Lieferprogramm – und damit mit seinem Einkommen – arg in Verzug. Mitten auf dem normalerweise freien Platz stand aber heute ein weißer Personenwagen und der nächstmögliche Rastplatz war viele Kilometer weiter oben im Jura. Marsac hupte lang anhaltend und fuhr seinen Brummi bis ganz knapp hinter den PKW. Er wusste genau, dass der Sattelauflieger immer noch auf die Fahrbahn ragte und schaltete die Pannenblinker ein. Dann stieg er aus und sah, dass beim AUDI Coupé die Scheibe auf der Fahrerseite heruntergelassen und die Fahrertüre nur angelehnt war. Er schaute in den Wagen. Der Funkschlüssel steckte. Er sah sich um. Niemand war in Sichtweite. Zögernd stieg er in den AUDI und wollte den Wagen umparken. Zuerst merkte Marsac, dass er im Fahrgastraum in eine Pfütze trat. Dann spürte er, wie sich der Stoff seiner Hose am Gesäß vollsog, weil auch die Sitzfläche nass war. In der Nacht hatte es stark geregnet. Erneut stieß er leise einen herben Fluch aus und fuhr das Auto sorgfältig ans Ende des Abstellstreifens. Er ließ die Scheibe hochgleiten, stieg aus und schloss die Fahrertüre. Mit gekonntem Schwung hievte er sich erneut in die Führerkabine, fuhr den LKW ganz von der Straße und überprüfte den Fahrtenschreiber: Schon wieder hatte er viel zu viel Fahrzeit aufgespult. Dann rief er die Polizei an und meldete das scheinbar herrenlose Fahrzeug.

    Die Polizeistreife traf zwanzig Minuten später ein, befragte Padu Marsac und untersuchte den AUDI.

    Marsac war im Nachhinein unglaublich peinlich, das Auto angefasst zu haben. Immerhin überprüfte die Polizei nur seine Papiere, nicht aber die Fahrdaten oder die Fracht. Er sagte den Polizisten nichts davon, dass er den Wagen verstellt hatte.

    Am Tag darauf gingen bei der Polizei zwei Vermisstenanzeigen ein. Die Angaben zu der einen Person deckten sich mit den Daten in den Wagenpapieren des verlassenen AUDI. Es handelte sich um James Herrmann Brown, 36jährig, deutsch-amerikanischer Doppelbürger, wohnhaft in der Schweiz.

    Die zweite vermisste Person hieß Yves Pernin, war 43 Jahre alt und Schweizer. Die beiden Männer waren in verantwortungsvollen Positionen der Firma LINUS AG. Ernst Fischer, CEO des betreffenden Unternehmens, hatte die Gemeindepolizei der Stadt Neuenburg avisiert.

    Freitag, 10. Dezember

    Frank Clahsen war seit dem 1. Dezember in der Sicherheitsdirektion der Stadt Neuenburg verantwortlich für die Gemeindepolizeiaufgaben. Den Posten ‚Polizeichef der Stadt‘ gab es in Neuenburg seit dem 1. Oktober nicht mehr. Für die klassischen Polizeiaufgaben war gemäß New Public Management nun auch in der Stadt die Kantonspolizei verantwortlich. In den Monaten August bis November war die notwendige Reorganisation der führungslosen Abteilung der Stadtverwaltung nur schleppend vorangekommen und Clahsen hatte mit dem neuen Amt, ohne es zu wissen, auch eine ganze Bürde Altlasten übernommen. Der frühere Polizeipräsident hatte das Amt wegen Unregelmäßigkeiten bereits im vergangenen Sommer abgeben müssen. Die Wahlbehörde hatte den unfreiwilligen Abgang jedoch so dargestellt, dass er im Zusammenhang mit der Reorganisation gesehen werden konnte.

    Als die Vermisstenanzeigen von James H. Brown und Yves Pernin eingingen, war Clahsen gerade damit beschäftigt, die Dienstpläne für den Dezember zu sichten. Es sah mehr als prekär aus. Vor allem in der Interventionseinheit, einem kleinen Einsatztrupp für schnelle Zugriffe, gab es kaum so was wie einen Bestand geschweige denn Reserven.

    Für Clahsen war klar, dass sich die Kantonspolizei um die Vermisstenmeldungen kümmern musste. Nicht so für den Verantwortlichen bei der Kantonspolizei.

    „Die annehmende Stelle ist automatisch Koordinationsstelle", sagte der zuständige Polizeioffizier am Telefon.

    „Und was bedeutet dies genau?", fragte Clahsen verunsichert.

    „Sie haben Führung und Verantwortung für den Fall, Sie organisieren die Suchaktionen und Sie führen die Untersuchungen durch. Bei Bedarf unterstützen wir Sie. Nur sind wir im Moment gerade mit der Neuorganisation unseres Dienstes beschäftigt und haben eh schon zu wenige Ressourcen. Zudem haben wir den politischen Auftrag, so rasch wie möglich hunderte Überstunden abzubauen."

    Frank Clahsen steckte das drahtlose Telefon langsam in die Lade-station und starrte eine Weile ins Leere. Dann sah er auf die Dienstpläne und fragte sich, an wen er diese Sache wohl delegieren oder mit wem er wenigstens die notwendigen nächsten Schritte besprechen könnte. Er fand niemanden. Sein Stellvertreter, Davide Warnet, hatte erst übermorgen, Sonntag, wieder Dienst.

    Am Nachmittag rief Clahsen seine Frau Miriam an und teilte ihr mit, dass er morgen, Samstag, den ganzen Tag arbeiten müsste.

    „Ja, es ist ein Notfall und ich habe kein Personal", erklärte er und versuchte, nicht ärgerlich zu klingen.

    „Ist dies nun der Preis für den Job in der öffentlichen Verwaltung?", fragte Miriam zynisch.

    Clahsen hatte vorher als Jurist in privatwirtschaftlich geführten Sicherheits- und Rettungsdiensten vor allem im Personenschutz gearbeitet, bevor er sich um die Chefstelle in Neuenburg beworben hatte.

    Nach dem Telefongespräch mit der Mutter seiner beiden Kinder fühlte es sich an, als ob sich eine Schlinge um seinen Hals legen würde. Es war nicht die Krawatte.

    Er lehnte sich in seinem Bürosessel zurück und stellte erneut fest, wie neu hier alles roch. Geistesabwesend strich er sich durch die vollen braunen Haare und zupfte mit spitzen Fingern einen Fussel von der dunklen Jacke.

    Dann begann er angestrengt nachzudenken. Unterdessen hatte die frühe Dämmerung das Tageslicht verschluckt. Nur die schwarze Tischlampe, die fast aussah wie ein Graureiher, strahlte mit den kleinen LED-Leuchten weiß auf die Arbeitsfläche. Sonst war es dunkel im großen Büroraum.

    Clahsen konzentrierte sich auf die Frage, wo er als erstes intervenieren müsste. Klar: Die Vermisstenanzeigen konnten nicht warten.

    Fast hätte er das diskrete Anklopfen überhört, auch deshalb, weil sein Büro mit einer schalldichten Türe ausgestattet war.

    „Sie haben Besuch",

    sagte die Frau vom Empfang durch den Türspalt.

    „Ja, klar!", sagte Clahsen mehr zu sich selber. Er hatte ganz vergessen, dass er Pierre Trittin zu einem Besuch eingeladen hatte.

    Pierre war ein Kollege Clahsens aus der Mittelschule. Er arbeitete und wohnte seit Jahren wieder in der Stadt. Trittin hatte von der Ernennung Clahsens in der Zeitung gelesen und sich sofort bei Clahsen gemeldet.

    Die beiden Kollegen begrüßten sich herzlich und Trittin scherzte über den Ort des Wiedersehens. Trittin hatte Philosophie studiert und arbeitete seit vielen Jahren als Journalist, zuletzt als stellvertretender Chefredaktor des Express, einer angesehenen Tageszeitung der Westschweiz. Trittin war groß gewachsen und wirkte schlaksig. Mit seinen schütteren nach hinten gekämmten blonden Haaren, in denen sich graue Strähnen breitmachten, dem rot karierten Hemd unter der abgewetzten braunen Lederjacke und den verwaschenen Jeans sah er eher aus wie ein Tramper als wie ein Philosoph.

    „Was tust denn du hier als neuer Polizeichef?", fragte Trittin schmunzelnd.

    „Polizeichef ist Geschichte. Müsstest du eigentlich wissen als Politredakteur?"

    Clahsen lud Trittin mit einer Handbewegung ein, Platz zu nehmen.

    „Ich leite hier die Abteilung Sicherheit und bin verantwortlich für die sogenannten Gemeindepolizeiaufgaben".

    „Und was heißt das genau?", fragte Trittin, als wäre er in der Rolle des Interviewers.

    „Dazu gehört die Koordination mit der Kantonspolizei, eine kleine Truppe für schnelle Interventionen sowie die Gewährleistung der Aufgaben von Feuerwehr und Zivilschutz. Ein wichtiger Bereich ist die Abteilung ‚Öffentliche Sicherheit und Bevölkerung‘ mit Aufgaben der Migration wie die Behandlung von Aufenthalts- und Niederlassungsgesuchen, die Prüfung von Einbürgerungsanträgen, das Führen des Einwohnerregisters sowie das Ausstellen von Identitätskarten und Reisepässen. Ganz nebenbei führen wir auch noch die Energieberatungsstelle. Kein Mensch konnte mir bisher erklären, wieso die bei uns ist."

    „Wow!"

    Trittin war ernst geworden bei Clahsens Aufzählung seiner Tätigkeitsbereiche.

    „Und wie viele Leute beschäftigst du denn da?"

    „Ich beschäftige hoffentlich niemanden!"

    Clahsen lachte kurz.

    „Die Arbeit in meiner Abteilung der Stadtverwaltung wird von fast 350 Mitarbeitenden geleistet."

    „Und die Kantonspolizei hat ja nun die Polizeiarbeit auch für die Städte übernommen. Ich habe Anfang des Jahres einen Leitartikel geschrieben zur Umsetzung des New Public Management. Eine tolle Sache, oder? Endlich privatwirtschaftliche Ansätze in den verstaubten öffentlichen Abläufen."

    „Meine Meinung dazu ist nicht gefragt", sagte Clahsen trocken und strich sich erneut durch die Haare. Dann kontrollierte er verlegen seine Jacke an der Schulterpartie auf neue Fusseln.

    „Mich interessiert deine Meinung aber!"

    „Also, kurze Zusammenfassung: Für den Steuerzahler top, für den Bürger flop!"

    „Ja, aber das ist doch im Endeffekt derselbe Mensch?"

    „Eben!"

    Sie sahen sich schmunzelnd an.

    „Und du? Bald Chefredakteur?"

    „Im Moment bin ich eigentlich gar nichts, denn mein Job wurde wegrationalisiert. Du weißt schon: Onlineinfos versus Printmedia. Nun versuche ich mich gerade als freier Journalist, wozu mir allerdings etwas das unternehmerische Flair fehlt."

    Nachdenkliches Schweigen.

    „Aber du hast natürlich recht", sagte Trittin, als ihn Clahsen weiterhin interessiert musterte.

    „Die Entwicklung hin zu wirkungsorientierter Verwaltungsführung hat auch negative Konsequenzen. Ich recherchiere da gerade eine größere Sache, komme aber nicht so recht vom Fleck, weil mir die gewohnte Infrastruktur des Verlags fehlt."

    Frank Clahsen lehnte sich über den Tisch und war ganz Ohr. Da hatten sie mit Sicherheit ein gemeinsames Thema!

    „Und was hast du denn bisher herausgefunden?"

    „Es geht im Prinzip um drei Kernaspekte:

    Erstens: Mehr Entscheidungsfreiraum für Verwaltungsmanager im Einsatz der Ressourcen im Rahmen eines Globalbudgets. So ein Verwaltungsmanager wärst jetzt du, oder?"

    Clahsen bewegte den Kopf hin und her und zuckte die Schultern.

    „Ich weiß nicht? Vielleicht?"

    „Zweitens: Politische Steuerungsvorgaben durch Leistungsaufträge und drittens: Anreizsysteme in Form von öffentlichem Wettbewerb. Das bedeutet, dass fast alle öffentlichen Aufträge heute ausgeschrieben und an private Anbieter vergeben werden können, Hauptsache, sie sind billiger.

    Damit soll sich die Umsetzung politischer Entscheide vermehrt an Leistung orientieren. Gleichzeitig soll das Management der öffentlichen Verwaltung gestärkt werden."

    „Ja. Diese Verordnungen stehen fast wörtlich so in der umfassenden Funktionsbeschreibung für meinen neuen Job!", seufzte Clahsen.

    „Die Praxis, die ich hier angetroffen habe und erlebe, sieht allerdings ganz anders aus."

    „Eben!",sagte Trittin.

    „Und gerade da bin ich dran. Die Einführung der Verwaltungsreformen hat zu ganz interessanten Entwicklungen geführt, die von der Politik wohl kaum so angedacht waren. So wurde Public Management zu einem wesentlichen Bestandteil der Ausbildung künftiger Verwaltungsführungskräfte. Seit 1998 sind in der Schweiz nicht weniger als elf neue Forschungs- und Lehrinstitute entstanden, die sich aktiv in der Praxis der Verwaltungsreform engagieren."

    „Ist ja gut, wenn neue Anforderungen auch gelehrt werden."

    „Ja, nur ist dies natürlich nicht die einzige Konsequenz der wirkungsorientierten Verwaltungsführung. In der Bildung, zum Beispiel, entwickeln sich neben den staatlich geführten Schulen private Angebote für Kinder gutbetuchter Eltern, die ihre Sprösslinge nicht mit Kindern aus aller Welt und aus andern Kulturkreisen zur Schule schicken wollen. Damit haben wir mindestens eine Zweiklassenbildungsgesellschaft."

    Clahsen wirkte nachdenklich und schaute versonnen aus dem Fenster.

    „Und gerade auch in deinem Bereich entstehen laufend neue so-

    genannte Sicherheitsfirmen, weil die Polizei die zunehmenden Schutzbedürfnisse der verschiedenen Kundenansprüche offensichtlich nicht mehr abdeckt."

    Clahsen hatte aufmerksam zugehört und immer wieder verhalten genickt.

    „Dein Vorgänger hier, Tilo Van den Berg, hat soeben eine Firma für Personen- und Objektschutz im Handelsregister eintragen lassen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie viel Know-how und Arbeitszeit er bereits während seiner gutbezahlten Anstellung in das neue private Unternehmen investiert hatte. Ganz abgesehen von seinem einschlägigen Beziehungsnetz …"

    Jetzt wirkte Clahsen betroffen und schüttelte langsam den Kopf.

    „Ich habe eine Idee", sagte er nach einer weiteren Pause des Nachdenkens und hielt sich die Hand ans Kinn. Dann schaute er auf die Uhr und sagte zu Trittin:

    „Ich schlage vor, wir gehen zusammen etwas essen und ich versuche dabei, meine Idee zu entwickeln."

    Bevor er den Wintermantel aus dem Garderobenschrank nahm, strich er seine schönen braunen Haare nach hinten.

    Samstag, 11. Dezember

    Es war kalt und feiner Regen durchnässte alles, was nicht ohnehin schon nass war, als am frühen Samstagmorgen im Licht von Scheinwerfern die Suche nach den beiden vermissten Mitarbeitern von LINUS begann. Zuerst rund um den Standort des AUDI und allmählich auch im steil abfallenden Gelände am unteren Brückenkopf. Browns und Pernins Daten waren in ein internationales Fahndungssystem eingegeben worden. Die Suche an und in der Schlucht des Seyon war erfolglos und wurde am Samstag gegen siebzehn Uhr bei Einbruch der Dunkelheit abgebrochen. Ebenso ergebnislos war bis zu jenem Zeitpunkt die internationale Fahndung. Der angeordnete Suchflug konnte wegen des ungünstigen Wetters erst am Montag-nachmittag aufgenommen werden. Am Dienstag bargen Bergretter Browns Leiche aus absolut unwegsamem Gelände fast am Grund der tiefen Schlucht. Brown musste bei seinem Sturz vom umzäunten Rand des Parkplatzes mehrmals auf Felsvorsprüngen aufgeschlagen sein. Obwohl der Körper vor allem am Rücken arg zerschlagen war und Brown sofort tot gewesen sein musste, fand man Brieftasche mit Inhalt und Mobiltelefon unversehrt. Auf das Handy war elf Mal von derselben Nummer angerufen worden. Das Ganze sah auf Anhieb nicht nach Fremdeinwirkung aus. Von Pernin fehlte jede Spur.

    Am Mittwoch stand die Nachricht über den Tod des Finanzdirektors der LINUS AG in den Zeitungen. Dass die LINUS nun eine GmbH war, hatte die Presse noch nicht registriert. Je nach journalistischem Stil der Blätter waren Schlagzeilen und Schwerpunkte der Meldung unterschiedlich: Von ‚Leitender Mitarbeiter tot aufgefunden‘ bis zu ‚Direktor stürzt sich in den Tod!‘

    Mittwoch, 15. Dezember

    Der große breitschultrige Mann im langen schwarzen Stoffmantel ging einsam seinen Weg auf dem kilometerlangen Deich am Wattenmeer. Er ging weder gemächlich noch schnell, mit gleichmäßigen langen Schritten, leicht vornüber gebeugt, den breitkrempigen schwarzen Hut tief ins Gesicht gezogen, um sich vor den scheinbar immerwährenden Winden zu schützen. Die runden Brillengläser mit der schwarzen Kunststofffassung verliehen dem Mann einen intellektuellen Touch. Meistens schaute er beim Gehen zu Boden, um dem Schafmist auf der breiten Dammkrone auszuweichen. Manchmal blickte er aufs Meer – oder dorthin, wo ab und an Meer war. Er war immer wieder aufs Neue erstaunt, wie die Welt dort hinten im Nichts verschwand, wenn der winterliche Dunst und der graue Himmel eins wurden.

    Der Mann hatte in einem abgelegenen Landgasthof in Simonsberg ein Zimmer gemietet. Das weitläufige verwinkelte Gebäude mit den weißen Mauern duckte sich unter ein kunstvoll geschichtetes Strohdach. Hohe schlanke Blitzableiter ragten vom Dachfirst auf und die dicken Kupferdrähte waren in einer Distanz von vielleicht einem halben Meter über dem gepressten Stroh geführt, damit ein allfälliger Blitzstrom das Dach nicht entzünden könnte.

    Gestern hatte der Mann, der sich als Albin Odenbach, deutscher Staatsbürger, im Hotel eingeschrieben hatte, ein Taxi bestellt und war ins nahe Husum zum Einkaufen gefahren. Bei seinem Ausflug in die Stadt hatte er sich ein ultraflaches Notebook und einen kleinen Scanner gekauft, damit er Zeitungsartikel, die er aufbewahren wollte, im kleinen PC speichern konnte. Zudem hatte er eine Auswahl an Tages- und Wochenzeitungen und eine Wirtschaftszeitschrift von der Einkaufstour mitgebracht. Jedes Mal, wenn er nun das Hotel verließ, verstaute er den PC sorgfältig im geräumigen Safe des Hotelzimmers. Bereits auf der Herreise hatte er ein Prepaid Handy gekauft. Er wusste, dass diese Geräte zwar geortet, aber nicht identifiziert werden konnten. Dennoch benutzte er für die wenigen Telefonkontakte wenn möglich öffentliche Fernsprechstationen. In einer großen Buchhandlung hatte er ein Deutsch-Schwedisch-Wörterbuch gekauft. Eine seiner unausgereiften Ideen war, in Schweden unterzutauchen und vielleicht im Bereich Umwelttechnologie eine neue Arbeit zu finden. Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, wie fein alle Sozial- und Erfassungsnetze in Schweden gesponnen waren und dass es fast unmöglich war, sich in jenem Land illegal aufzuhalten oder unterzutauchen.

    Er kaufte haltbare Snacks und aß im Hotelzimmer. Oder er ging ins einfache Restaurant des nahen Campings, das vor allem Fastfood anbot. Er war sich bewusst, dass dieses Leben auf Dauer keine Lösung sein konnte.

    Der Mann war französischer Muttersprache und sprach perfekt Englisch und Deutsch. Im Hotel redete er nur das Notwendigste. Nachdem die Anmeldeformalitäten erledigt gewesen waren, schien sich hier niemand mehr für den Mann zu interessieren. Das kam ihm gelegen. Er wollte allein sein und über eine mögliche Zukunft nachdenken. Dass es ein Zurück in die gewohnte Routine nicht geben konnte, dafür hatte er gründlich gesorgt.

    Er wirkte in sich gekehrt, nachdenklich und war doch stets aufmerksam und hellwach. Als er sich heute nach dem ausgedehnten Morgenspaziergang wieder dem Hotel näherte, sah er auf dem Parkplatz ein Polizeiauto stehen. Er wandte sich nach links und verschwand unauffällig auf der dem Meer zugewandten Seite des Deichs aus dem Sichtfeld von Parkplatz, Hotel und Straße.

    Beim Betreten des Hotels fiel ihm an der Informationstafel ein Papier auf, das dort vorher nicht gehangen hatte.

    Irgendwie sah das Bild, das die junge Frau vom Empfang an die braune Tafel geheftet hatte, dem einsamen Mann ähnlich. Der Mann auf dem Bild trug jedoch weder Bart noch Brille und die Haare waren lang, gewellt und nach hinten gekämmt, nicht millimeterkurz und nach allen Seiten abstehend wie bei dem Mann, der das Foto nun kurz betrachtet hatte. Unter dem Bild stand in drei Sprachen:

    VERMISST: Yves Pernin, 43-jährig, Schweizer Staatsbürger.

    Angaben waren erbeten an eine Telefonnummer, die dort stand oder an jede Polizeidienststelle. Der Mann hatte sein Bild sofort erkannt.

    Am Abend entfernte er die Vermisstenanzeige unbemerkt und spülte die Papierschnitzel in der Toilette des Restaurants weg. Später las er in der Onlineausgabe der Regionalzeitung von Neuenburg den kurzen Artikel über Browns Tod. Er war erstaunt, dass die Nachricht bei ihm keine Gefühle auszulösen schien.

    ***

    Polizeiwachtmeister Jules Portenier und Korporal Egon Sarre hatten am Mittwoch schon wieder gemeinsam Dienst. Heute war für die beiden Spätschicht im Büro auf dem Plan. Seit der umfassenden Reorganisation der Polizei war lediglich ein kleiner Restbestand der ehemaligen Stadtpolizisten in die heutige Sicherheitsdirektion integriert. Das Team ‚Intervention‘ unterstand neu Davide Warnet, dem früheren stellvertretenden Polizeichef. Die größeren Einsätze wurden neu durch einen Stützpunkt der Kantonspolizei gewähr-

    leistet, der ebenfalls in den Gebäuden der Stadtverwaltung stationiert war. Die Mitarbeiter des Amts für Öffentliche Sicherheit hatten vor allem koordinierende und unterstützende Aufgaben. Das Team ‚Intervention‘ sollte die agile erste Staffel bei Einsätzen sein.

    Portenier dachte, dass er bei der Umstrukturierung sowohl Glück wie Pech gehabt hätte: Glück, dass er nicht in die Kantonspolizeizentrale nach La-Chaux-de-Fonds wegbefördert worden war und in seiner vertrauten Umgebung wohnen bleiben konnte. Pech, weil er beim stark reduzierten Bestand den unangenehmen Kollegen nicht mehr ausweichen und sich wie früher einfach in einen anderen Dienst umteilen lassen konnte.

    Portenier saß lustlos an seinem Computer und tippte umständlich von Hand aufgenommene Rapporte ins System. Diese Routine-

    arbeit war nicht nur langweilig sondern auch nutzlos, wie Portenier meinte, weil er nicht einsah, was andere Dienststellen, die Zugriff aufs System hatten, mit ihren Rapporten anfangen sollten. Was ihn aber noch mehr aufregte als das sinnlose Abschreiben der gelben Durchschreibeblätter, war das unaufhörliche nervöse Klappern seines neuen Büronachbarn Egon Sarre. Der hatte die blöde Angewohnheit, überall wo er saß, mit einem Schreibwerkzeug irgendwo drauf zu hämmern, sei es im Streifenwagen auf das Lenkrad oder im Büro auf den Schreibtischrand oder auf die Schreibunterlage.

    Portenier stieß sich auf dem fahrbaren Bürostuhl sitzend vom Schreibtisch ab und ging auf den Flur Kaffee holen. Er hatte zwar überhaupt keine Lust auf Kaffee, aber er brauchte Ruhe. Als er mit einer Idee zurück ins Büro kam, wie er Sarre beschäftigen könnte, nahm der gerade einen Anruf entgegen und meldete sich mit:

    „Stadtpolizei, Korporal Sarre. Ja. Nein. Wissen wir nicht. Ja, wir kümmern uns drum. Danke. Ihnen auch einen schönen Abend."

    „Was soll das?", fragte Portenier seinen Kollegen ärgerlich.

    „Hast du immer noch nicht begriffen, wie wir uns korrekt anmelden sollen? Stadtpolizei ist endgültig vorbei!"

    „Ein Anwohner hat eine Beobachtung gemeldet", sagte Sarre wichtig und ignorierte Porteniers Kritik.

    „Der hat Licht gesehen bei Chamraud in der Garage. Der ist doch im Urlaub, oder?"

    Portenier schlurfte langsam zum Dienstplan, der an der Glaswand zum Flur hing.

    „Ja, ist hier so eingetragen", sagte er zur genoppten grauen Tafel mit den Steckmarkierungen, die aussahen wie LEGO-Steine.

    „Müssten wir da was unternehmen?", fragte Sarre und wirkte nicht gerade so, als ob er sich mit dem ‚Wir‘ mit einschließen würde.

    „Ist doch nicht unser Problem, wenn der sein Licht brennen lässt während des Urlaubs!", sagte Portenier und ging träge zurück an seinen Schreibtisch, immer noch die volle Kaffeetasse auf der Untertasse balancierend.

    „Nein, eigentlich nicht", bestätigte Sarre und fuhr fort, mit dem Bleistift Schlagzeug zu spielen.

    Portenier schüttelte den Kopf und schlürfte den dünnen heißen Kaffee.

    Thierry Beau, der im Zug der Neuorganisation zum Polizeikommissar und Stellvertreter von Davide Warnet befördert worden war, schaute im Büro von Portenier und Sarre vorbei, wünschte einen guten Abend und fragte die beiden Beamten, ob es etwas Besonderes zu melden gäbe.

    „Nö", sagten die beiden wie in Stereo und ohne aufzublicken.

    Beau wünschte guten Dienst, schloss die Bürotür und entfernte sich zügig durch den langen Korridor.

    Donnerstag, 16. Dezember

    Frank Clahsen saß um sieben Uhr früh an seinem Arbeitsplatz und versuchte, Struktur in

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