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Das dunkle Geheimnis Jesu
Das dunkle Geheimnis Jesu
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eBook792 Seiten11 Stunden

Das dunkle Geheimnis Jesu

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Über dieses E-Book

Das dunkle Geheimnis Jesu ist ein fesselnder historischer Roman über Jesus und Paulus und die Frage, wie der eine aus dem anderen den Sohn Gottes machte. Pompeji, 62 n. Chr. der schwer verletzte Paulus, auch Shaul genannt, wird auf das Gut des zurückgezogen lebenden, alten Weinhändlers Faustus gebracht. Der war früher unter einem Namen bekannt, den Paulus in der ganzen Welt bekannt gemacht hat: Yeshua oder auch Jesus, Sohn des Josef. Nur wenige Tage bleiben den beiden, ihre Erinnerungen an die dramatischen Geschehnisse im Jahr 33 n. Chr. wieder aufleben zu lassen: Die Mission Jesu, den Prozess und die Kreuzigung. Zunehmend spürt der Leser, wie schicksalhaft die Lebensgeschichten dieser beiden Männer miteinander verwoben sind. Der brillant predigende Rabbi Yeshua, wird gegen seinen Willen zum Spielball in einem Intrigengeflecht aus Politik und Religion, bis er zu einer folgenschweren Entscheidung gezwungen ist. Shaul führt das Leben eines mit seinen Dämonen Kämpfenden, der zu Aufgaben bestimmt ist, denen seine Persönlichkeit nicht gewachsen scheint. Von Selbsthass zerfressen, beginnt er zu verfolgen, was er nicht zu lieben wagt. Bis er eines Tages begreift, wie er durch den Tod Jesu die Welt, und damit sich selbst, retten kann. Paulus stirbt, bevor er seine Geschichte zu beenden vermag. Aber er hinterlässt einen Hinweis, der Faustus nach Rom ins Reich der Lupa, der Wölfin und Schattenfürstin Roms, führt. Am Ende der Nacht wird für Faustus nichts mehr so sein wie zuvor ... Wolfgang Walk verwebt in Das dunkle Geheimnis Jesu die entmythologisierte Missionsgeschichte des jüdischen Rabbi Yeshua mit dem Blickwinkel des um sein eigenes Seelenheil ringenden Paulus zu einem radikal anderen Bild der Evangelien. Walk rüttelt damit an den Fundamenten unseres christlichen Glaubens Ein polarisierender Roman über den Gründer einer Weltreligion und seinen Gott, der keiner sein will und ein spannender Lesegenuss, der den Leser noch lange gefangen halten
SpracheDeutsch
HerausgeberEyfalia
Erscheinungsdatum31. Jan. 2014
ISBN9783939994572
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    Buchvorschau

    Das dunkle Geheimnis Jesu - Wolfgang Walk

    Das dunkle Geheimnis Jesu

    von Wolfgang Walk

    Eyfalia Publishing GmbH

    www.spreeside.de

    53902 Bad Münstereifel

    Erste Auflage

    Copyright © 2014 by

    SPREESIDE Verlag,

    Eyfalia Publishing GmbH

    Lektorat: Susanne Guidera, München

    Leonie Zimmermann, München

    Satz: Ralf Berszuck, Erkrath

    Umschlaggestaltung: Ralf Berszuck, Erkrath

    Umschlagillustration: Arndt Drechsler, Rohr in Nb.

    eBook-Umsetzung: SiMa Design, Erkrath

    Alle Rechte, auch die der fotomechanischen und

    elektronischen Wiedergabe, vorbehalten.

    ISBN: 978-3-939994-57-2

    Sie finden uns im Internet unter

    www.spreeside.de

    Weitere Informationen zu

    Das dunkle Geheimnis Jesu finden Sie unter

    www.spreeside.de

    Ute, Alyenya und Julian gewidmet

    Inhalt

    Erstes Buch

    Epilog, erster Teil

    Násherat

    Yerushalayim

    Das Gesetz

    Yehuda

    Q’mran

    Kfar Nahum

    Le’ah

    Briefe an den Vater

    Elijahs Becher

    Vor dem Gericht

    Dammések

    Epilog, zweiter Teil

    Zweites Buch

    Wiedergeburt

    Der Stoiker

    Roma

    Decimus

    Gaius

    Der Dolch

    Crassus

    Der Sohn des Burrus

    Lupa Magna

    Knoten

    Morituri

    Glossar

    Danksagung

    Erstes Buch

    »… jedoch antwortete der Angeklagte nicht mehr, als ihn der Präfekt fragte, wie er denn Wahrheit definiere, ob er glaube, dass diese ein unabänderliches Gesetz sei, und ob er ebenso glaube, dass die Wahrheit des Angeklagten auch die Wahrheit des Präfekten sei.«

    Auszug aus den Gerichtsakten gegen Iesus Nasoraeus,

    Geheimes Staatsarchiv SPQR

    Epilog, erster Teil

    Pompeji, XIV. Tag im Monat des göttlichen Augustus,

    im ersten Jahr des Titus Caesar Vespasianus

    Die Angst schwindet, wenn auch langsam. Die Unruhe bleibt. Der Riss in der Mauer hat sich verbreitert letzte Nacht.

    Der Riss – er war nie gefüllt worden: eine letzte Erinnerung an das große Beben vor 17 Jahren und eine ständige an das Glück, das man benötigt. Das Glück, das mir treu war und andere vergaß, bei denen es besser aufgehoben gewesen wäre. Der Riss gegenüber dem Fenster meines Dormitoriums. Mein ganz eigenes Memento mori.

    Damals war ich schon ein Greis und hatte gerade meinen 66. Winter überstanden. Doch spürte ich das Alter noch nicht oder zumindest nicht so, wie es mir heute zusetzt: Von den Tagen gibt es noch einige, deren ich mich erfreuen kann. Doch die Nächte, sie quälen mich: seit Jahren, ohne Ausnahme. Kenntnisreiche Folterknechte sind sie, ausgestattet mit großer Geduld. Sie wären die Zierde der Keller des Pilatus gewesen.

    Heute Nacht wieder ein Beben. Nicht so stark wie damals, aber drohend, Unheil verkündend, wie ein Auftakt zu Schlimmerem. Das Nachtgeschirr tanzte über den Boden, das Bettgestell aus korsischer Eiche zitterte und vibrierte, dass ich es durch die dicken Kissen spürte. Teile des Freskos, das mir Sunna einst malen ließ, um den erlahmenden Greis an den Sinn eines Dormitoriums zu gemahnen, liegen auf dem Boden, ein neuerdings schwanzloser Priapos lächelt wie immer stolz auf mich herab, als wolle er die entsetzliche Nachricht nur noch nicht wahrhaben.

    Schreie im ganzen Haus. Und nicht nur die Schreie von Frauen. Es war schnell wieder vorbei, nach wenigen Sekunden nur. Es war wie ein kurzer Hauptsatz, nur der Auftakt zu einem längeren Traktat. Wie etwas, das noch nicht zu Ende ist und einer Fortsetzung harrt. Keine abgeschlossene, kurze, wenn auch grausame Geschichte wie das mehrere Minuten andauernde Beben aus dem Februar vor 17 Jahren, dem wir so glimpflich entronnen waren.

    Damals brachte man den Tarser zu mir. Er war auf dem Weg zu mir gewesen, als das Erdbeben kam. Ein gewaltiger alter Ölbaum hatte ihn unter sich begraben. Welch Ironie! Er starb wenige Tage später, nach langen Nächten des körperlichen Schmerzes, der peinigenden Erinnerung und der qualvollen Rede: einem unerschütterlichen Beharren auf Wirklichkeit angesichts offenkundiger Lüge. Und er starb, nachdem er mir seine letzte Botschaft gebracht hatte. Seine Unbeirrbarkeit reichte in den Tod. Obwohl er wusste, dass die Wahrheit ihn widerlegte. Weil er wusste, dass die Wahrheit nichts gegen die Wirklichkeit auszurichten vermag.

    Er starb, während er mich fröhlich auslachte.

    Letzte Nacht erwachte ich, weil der Berg, wie damals, sich im Schlaf hin- und herwarf. Er ist ein alter Berg. Auch seine Nächte sind grausam. Ich ahne, wie er leidet. Und sehr bald wird er mit einem lauten Schreien erwachen. 17 weitere Winter habe ich überstanden. 83 sind es jetzt, so viele mehr als die meisten Menschen. 31 mehr, als dem Tarser zugeteilt wurden. Ich habe lange gelebt und zu lange gezögert und, Schande über mich, ich habe, gleich meinem lächerlichen Priapos, immer noch nicht den Mut, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen. Trotz der wenigen warmen Tage, trotz der ewigen, qualvollen Nächte: Ich bin noch nicht bereit zu gehen. Es ist allerdings weniger die Angst vor dem Tod, die in mir den Wunsch erhält, zu leben. Es ist mehr die Angst vor einer Lücke an meinem Sterbebett: Wen könnte ich schon auslachen?

    Einverstanden: mich.

    Schillernde Rhetorik! Du bist kein Seneca, Faustus! Die Wahrheit hinter deiner Angst ist eine andere. Die Wahrheit ist, dass der Rausch des Lebens vorbei ist. Und dass es dir nicht gelungen ist, jene Momente zu ersäufen, die deine Erinnerungen an dieses Leben mit Peinlichkeit füllen, mit Schmerz, mit Verzagen. Du schaust in dein Leben wie in einen leeren Festsaal und kannst die anderen Gäste nicht ignorieren, allesamt reglos in ihren Leichengewändern: deine Freunde, deine Feinde, deine Frauen.

    Deine Kinder.

    Du versuchst, das alles nicht zu sehen: die umgestürzten Liegen und Triklinien, den verschütteten Wein, das vernichtete Essen, die Lachen aus Erbrochenem und das Blut, wo sich zwei in tödlichem Streit gemessen haben – und doch erinnerst du dich, dass auch du getrunken und gebrochen, gewütet und gemordet hast. Und Schlimmeres.

    Vergeblich alle Versuche, zu vergessen. Alles Sehnen, es künftig besser zu machen: in Wahrheit nur Verdrängen. Die Morde lassen sich nicht mehr sühnen, die Toten nicht mehr wiederbeleben.

    Aufräumen könnte ich noch. Doch selbst davor habe ich mich schon zu lange gedrückt. Drum will ich es tun, bevor auch ich gehen muss, der letzte Gast in meinem eigenen Leben: aufräumen und mich sterbend auslachen.

    Den besten Witz über den nahenden Tod riss allerdings bereits der unvergleichliche und vor der Nachwelt schwerlich sterbliche Vespasian. Das ist gerade ein paar Wochen her. Ich hätte da schon wissen müssen, dass es Zeit wird, mich vorzubereiten. Eine erste Warnung – ebenfalls verdrängt. Wie so vieles. Wie beinahe alles, was wirklich wichtig war. Also gilt es jetzt umso mehr: Ich habe noch eine Arbeit vor mir. Eine lange und schwere Arbeit, damit mein ödes Dacapo desselben Scherzes eine gewisse Berechtigung erhält.

    Denn der Spalt verbreitert sich und Fortuna, die sich so reichlich, unverdient und vergebens an mein Leben verschwendet hat, ist schließlich doch noch zur Vernunft gekommen: Sie wendet sich endgültig zukunftsträchtigeren Zielen zu. Ich habe Anaias rufen lassen, den Treuen, meinen Schreiber und Verwalter.

    Meinen Erben.

    Denn meine zitternde Hand vermag den Kiel nicht mehr über große Strecken zu führen. Und ich habe die Geschichte zu erzählen, solange ich dazu noch Zeit habe. Meine Geschichte. Und die des Tarsers. Unsere Geschichten. Denn zusammen ergeben sie genau eine Geschichte.

    Und es ist, hoffe ich, nicht die aus der Demenz geborene Eitelkeit des Alters, die mich betrügt, die mir nur einredet, es habe eine Bedeutung, endlich die Wahrheit niederzuschreiben. Nur um mein Ziel dann mit einer weiteren Lügengeschichte zu verhöhnen: der Niederschrift eines selbst vor mir geschickt als Wahrheit getarnten Hirngespinsts. Meine Eitelkeit soll mich nicht hindern, wahres Zeugnis über diese beiden Leben abzulegen. So sei denn, zu meinem eigenen Schutz, auch mein Ego nicht der Gesichtspunkt meiner Geschichte. Ich will sie erzählen, als sei ich in ihr nicht ich selbst. Ich will sie erzählen, wie ein Gott sie erzählen würde, ein Gott, dem die Kleinlichkeiten unseres Lebens fremd sind. Oder nein, nicht fremd, sondern lediglich Grund zu väterlicher Belustigung über die ums Spielzeug balgenden Kinder.

    Also nicht, wie einer von den griechischen oder römischen Göttern sie erzählte, die selber Kleingeister sind, kindische Tyrannen, die ständig im Mittelpunkt stehen müssen. Eher so, wie die Essentia eines Gottes sie zu schildern wüsste. Ein Mithras ohne Stiermythos. Oder ein gnädiger Jahwe ohne seine alberne Eifersucht und Provinzialität, diesen Unsinn vom auserwählten Volk. Der Gott meiner Väter – ohne die Fesseln, die meine Väter ihm anlegten, damit sie Gründe hatten, ihre eigenen Fesseln nicht abzustreifen.

    Komm herein, Anaias, und breite deinen Papyrus aus. Papyrus ist gut genug für das, was ich dir zu diktieren habe. Es braucht kein Pergament. Es sei keine Eitelkeit in dem, was dir Faustus zu erzählen hat. Primus Munatius Faustus, der Tekton, der Prediger und Wunderheiler, der zum Tode Verurteilte, der Sklave und Bettler und Räuber, der Umherirrende.

    Und der Weinhändler. Hoflieferant von fünf Kaisern, Titus noch nicht mitgerechnet, denn der zehrt noch von den Vorräten des Vaters. Fünf Kaiser habe ich beliefert: mörderische wie Nero und mittelmäßige wie Galba, wichtigtuerische wie Otho und bis zur Albernheit verschwenderische wie Vitellius. Und den göttlichen Vespasian. Eine Reihe von Kaisern, die ein getreues Spiegelbild des Lebens dieses Weinhändlers abgeben. Denn das Hohe, das es gab, soll nicht verschwiegen werden, genauso wenig wie das Niedere. Er hat ein langes Leben gelebt, das dennoch ohne Erfüllung blieb. Er bedauert das, aber er maßt sich darüber keine Klage an. Ob das Schlechte oder das Gute in seinem Leben unverdienter war, wer möchte das beurteilen? Er ist dankbar für beides.

    Und ein Lächeln, wie er es einmal bei einem Festmahl des Seneca auf den Lippen des jungen Martial gesehen hat, huscht über sein Gesicht, wenn er diese Vorrede mit der Erkenntnis schließt: Es gibt Lebensberichte, die brauchen kein Pergament.

    Über ein unverhofftes Wiedersehen

    Pompeji, 17 Jahre früher, am V. Tag im Monat Februar,

    im Jahr des Publius Marius Celsus

    Alle hatten die Ewigkeit in Gedanken schon geküsst: die Arbeiter und die Soldaten, die Vorarbeiter und auch der Gutsbesitzer. Der alte Jude stand in der Mitte des Gutshofes wie auf einem Feldherrnhügel, wartete auf die eintreffenden Schadensmeldungen und kam sich zunehmend nutzlos vor. Denn nur an den Stallungen der Maultiere hatte es größere Schäden gegeben und das war nicht sehr schlimm, denn die Tiere waren ihren Instinkten folgend ins Freie gelaufen, als das Beben begann. Er wusste um die Lächerlichkeit seines Anblicks, wie er da stand, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und teils immer noch darauf hoffend, eine noch größere Katastrophe durch schnelle Befehle abwenden zu können, andererseits durchaus glücklich, dass sein Besitz so gut wie ungeschoren geblieben war. Und dann natürlich auch ein wenig stolz, dass die baulichen Maßnahmen der letzten 15 Jahre sich jetzt als richtig und stabil erwiesen hatten. Jene Maßnahmen, die er als damaliger Tekton teilweise noch gegen das kopfschüttelnde Nichtverstehen des alten Gutsbesitzers veranlasst hatte. Und stolz darauf, in Markus dann, als er selbst das Gut geerbt hatte, einen so fähigen Baumeister erkannt und gefördert zu haben.

    Je länger er da stand, desto klarer wurde ihm, dass er gar nicht gebraucht wurde. Und dass er dafür selbst gesorgt hatte. Die wenigen Schäden waren in kompetenten Händen. Und weil die Lächerlichkeit seiner Situation ihm so offenbar geworden war, lächelte er ein wenig unsicher und ließ die Blicke schweifen.

    Weiter oben auf dem Hang, an der Straße, die von Herculaneum her kam, konnte man eine Gruppe Menschen sehen, die sich aufgeregt um etwas scharte. Offensichtlich war der große alte Ölbaum umgestürzt, der dort gestanden hatte. Kein Grund allerdings für solch einen Aufruhr. Irgendetwas war geschehen, was über den Tod eines alten Baumes hinausging. Der alte Mann wollte schon losstürzen, denn endlich schien es einen Auftrag für ihn zu geben. Aber, so fiel es ihm mit Bedauern ein, Gaius war mit da draußen. Er würde sich um alles kümmern und sicher bald Bericht erstatten, was dort geschehen war. Auch dort würde er, der Gutsbesitzer, also sicherlich nicht noch zusätzlich benötigt. Er wandte sich seufzend ab, als ihm einfiel, dass er sich um sein Handelshaus kümmern musste. Er musste wissen, wie es um die Lagerhäuser am Hafen stand.

    »Anaias!«

    »Ja, Herr!« Der junge griechische Schreiber, der gerade ein paar Arbeitern dabei geholfen hatte, Steine der umgestürzten Brunnenumrandung zu sortieren, eilte herbei.

    »Nimm dir ein Pferd und reite in die Stadt zum Hafen. Ich brauche eine genaue Aufstellung der Schäden dort. Sag Octavius, er hat dazu zwei Stunden Zeit. In diesen zwei Stunden schaust du dir die Stadtvilla an. Kleinere Reparaturen kannst du sofort veranlassen. Sollte es größere Schäden oder sogar Opfer gegeben haben, benötige ich einen genauen Bericht. In vier Stunden möchte ich, dass du wieder hier bist.«

    »Ja, Herr.« Er wandte sich zum Gehen.

    »Anaias!«

    »Ja, Herr?«

    »Es könnten Plünderer unterwegs sein. Lass dich von zwei Soldaten begleiten.«

    »Das ist sicher nicht nötig, Herr.«

    »Das ist ein Befehl! Du warst zu teuer, um dich sinnlos massakrieren zu lassen.« Der Gutsbesitzer grinste. Anaias war ein Freigelassener. Wie alle seine Arbeiter. Er war selbst ein Freigelassener. Er wusste, dass viele Freigelassene selbst Sklaven hielten, aber er hätte den Gedanken nicht ertragen können, Menschen ihre Freiheit zu nehmen. Er gab sie ihnen lieber zurück.

    Es hatte deswegen Ärger gegeben. Aber Rom war weit und als Lieferant des Imperators waren seine Verbindungen belastbarer als die Gesetzestreue der lokalen Behörden. Diverse Gesetze, die massenhafte Freilassungen verhindern sollten, fanden auf ihn keine Anwendung – im höheren Interesse des Staates. Er hatte die zuständigen Stellen zu überzeugen vermocht, dass jeder Versuch, die Qualität des imperialen Weinkellers zu mindern, an Hochverrat grenze und von Nero sicher entsprechend geahndet würde. Und Sklaven hatten nun mal keinen Grund, hart an der Qualität des Weines zu arbeiten.

    »Jawohl, oh Faustus, Händler des Bacchus, Retter des römischen Rausches!« Anaias feixte zurück, pfiff dann aber doch zwei der herumstehenden Soldaten heran, und wenig später ritten die drei Männer über den Hof auf das Tor zu.

    Sie mussten unvermittelt stehen bleiben, denn als sie es gerade durchqueren wollten, erschien, von Arbeitern gezogen, ein Leiterwagen auf der Straße. Ein alter, zerlumpter Mann lag auf ihm, gebettet auf dicke Lagen Stroh. Anaias wechselte ein paar Worte mit dem alten Soldaten, der den Tross anführte, wies dann in den Innenhof auf den Gutsbesitzer und verschwand Richtung Pompeji.

    Keiner seiner Leute lag auf dem Karren, stellte Faustus schon beim Näherkommen fest: Seine Arbeiter trugen keine Lumpen. Als er das Gesicht des Mannes sehen konnte, erschrak er, weil er es beinahe nicht erkannt hätte: Der einst schwarze Bart fast vollständig grau, dreckig und völlig verfilzt. Die immer noch dunklen Haare lückenhaft, offenbar verlaust und seit undenklicher Zeit nicht mehr geschnitten, die Wangen, ihrer Stütze in Form von Zähnen beraubt, eingefallen und von Furunkeln übersät, genauso wie die übermäßig hohe und unförmig breite Stirn. Der Mann hatte im Schmerz die Augen geschlossen. Aber Faustus kannte diese Augen. Sie waren leuchtend schwarz.

    Seine langen, ausgemergelten Arme endeten in auffällig kräftigen Händen, Zeichen seines Handwerks: Zeltmacher. Und noch auf dem Rücken liegend wölbte sich unter seinem zusammengefallenen Oberkörper der spitze Bauch, an dem Faustus ihn zuerst wiedererkannt hatte.

    Die Beine waren gebrochen, mehrfach, das war auf den ersten Blick zu sehen. Knochenenden, berichtete Gaius, der ehemalige Gladiator und Hauptmann der Wachen, ragten aus drei Wunden, die schon mit blutstillenden Kompressen versorgt und vorläufig verbunden worden waren. »Der Wanderer kam aus Herculaneum, Herr.« Gaius zeigte, als sei dies zur Erklärung nötig, den Weg entlang, der sich quer durch die Ländereien des Gutes in nördlicher Richtung über die ersten Ausläufer des Vesuvius wand. »Der alte Ölbaum ist auf ihn gestürzt. Er hat Glück, dass er noch lebt. Wir haben an den Beinen nichts gemacht, wie Joseph es uns beigebracht hat. Nur versucht, die Blutungen zu stillen.«

    »Gut gemacht, Gaius. Hol Joseph her!« Faustus gab einem zwölfjährigen Jungen einen Klapps auf den Hinterkopf »Lauf, Tertius! Hol deinen Vater!« Der Junge lief los.

    Etwas unschlüssig standen alle um den Karren herum, da schlug der Mann die Augen auf und schaute von Gesicht zu Gesicht. Wie Faustus es nicht anders erwartet hatte, blieb er an seinem hängen. Er lächelte schmerzverzerrt: »So wies Christus«, sagte er auf Griechisch, »der Herr, mir den rechten Weg. Ich grüße dich, Yeshua ish Násherat, freue mich, dich bei Gesundheit anzutreffen, und bitte um deine Gastfreundschaft, verehrter Rabban.« Es war lange her, dass ihn jemand beim Namen Yeshua genannt hatte, zumal in seiner hebräischen Form. Und noch länger, dass ihn jemand Rabban genannt hatte. Der Gutsbesitzer gab seinen Leuten ein Zeichen und alle, bis auf Gaius, verschwanden.

    »Gastfreundschaft sei dir gerne gewährt, Shaul bar Daniyyel, Mann aus Tarsos«, antwortete der Gutsbesitzer, als er mit Gaius und dem Verletzten allein war. Er benutzte ebenfalls die Koine: »Und sie wäre dir auch gewährt worden, wenn du meiner Hilfe nicht bedürftest. Ich habe den Medicus rufen lassen, damit er deine Beine richtet und schient.«

    »Ach, die Beine. Ich spüre sie nicht. Ich werde sie wohl nicht mehr brauchen können. Dem Herrn hat es gefallen, meine Wanderschaft zu beenden. Ausgerechnet vor deiner Haustür. Wenn er mich auch mit Humor gesegnet hätte, würde ich jetzt lachen.« Stattdessen schien ihn plötzlich ein heftiger Schmerz zu durchzucken, denn er schrie auf und sank sofort in eine gnädige Ohnmacht.

    Der Junge kam mit dem Medicus und der befahl zwei Arbeitern, die in der Nähe geblieben waren, Shaul in den Behandlungsraum zu bringen. Gaius ging, um die Wachen zu vergattern, die den Landbesitz vor Plünderern schützen sollten.

    Faustus wich nicht von der Seite des Mannes. Die Organisation der Aufräumarbeiten lag in den Händen erfahrener Arbeiter. Einige rückten mit Sägen aus, um den alten Ölbaum zu zersägen und sein Holz einzulagern, andere machten sich daran, die Reste der Bedachung des Eselstalls einzureißen. Markus war inzwischen ein besserer Tekton, als Faustus es je gewesen war. Was sollte er sich einmischen?

    Wie sollte er mit dem Tarser umgehen? Faustus dachte über den seltsamen Zufall nach, dass er ausgerechnet zum Zeitpunkt dieses Erdbebens aufgetaucht war. Als wäre seine Ankunft die billige Drohung eines Gottes, der befürchtet, die Bedeutung des Erdbebens könne sonst übersehen werden. Denn die Ankunft des Tarsers bedeutete Unfrieden. So viel war sicher.

    Der Verletzte war ins Behandlungszimmer getragen worden und lag jetzt auf dem Tisch, den sich Joseph für solche Gelegenheiten hatte schreinern lassen. Der Arzt stellte eine flache, brotfladengroße Schieferplatte senkrecht ins Feuer, setzte einen Kessel mit Wasser auf und legte Tücher bereit. »Alte Knochen«, murmelte er. »Brechen leicht und splittern wie Glas. Außerdem heilen sie schlecht wieder. Ich weiß nicht, ob das noch mal was wird, Faustus!«

    Das wäre natürlich die einfachste Lösung: Wenn Shaul stürbe, bevor er überhaupt wieder erwachte. Faustus erschrak ein wenig über den Gedanken. Und verwarf ihn sofort wieder: Der Mann durfte nicht sterben. Er brachte Nachrichten. Und hatte nicht er, Faustus, insgeheim gehofft, er möge den Tarser noch einmal treffen, um all die Fragen zu klären, die er an ihn hatte? Um ihn über seinen gewaltigen Irrtum aufzuklären? Shaul musste überleben!

    »Versuch es. Er ist ein alter Freund.« Das war nicht die Wahrheit. Oder vielleicht doch. Ab einem bestimmten Alter verschwimmen die Grenzen. Jemand, den man seit über 40 Jahren kennt, bezeichnet man als Freund, wenn er kein Erzfeind ist. Schon weil man im Alter nicht mehr viele Freunde hat. Die meisten sind ja bereits tot. Und ein Erzfeind? Nein, ein Erzfeind war Shaul nie gewesen. Nie geworden. Warum auch? Sie hatten nie mehr als ein paar wenige und unbedeutende Worte miteinander gewechselt.

    »Tertius«, der Arzt wandte sich an seinen Sohn, »ich brauche Gaius. Such ihn. Du wirst ihn irgendwo beim Wachhaus finden. Hilfst du mit, Faustus?« Joseph sah ihn fragend an. Der Gutsbesitzer nickte. »Dann wird das reichen.« Der Arzt öffnete eine sorgfältig verschlossene Truhe, entnahm ihr ein Fläschchen mit einer milchigen Flüssigkeit und träufelte etwas davon in den Mund des Ohnmächtigen. »Ein Extrakt aus Mohn. Es hilft gegen starke Schmerzen und stimmt den Gestalter der Form gnädig. Meistens. Manchmal allerdings behält er seinen Gast und schickt ihn seiner dunklen Schwester.«

    Joseph lächelte schief. Er brauchte diese Erklärungen, selbst wenn die Zuhörer sie schon zehnmal vernommen hatten. Sie beruhigten ihn, gaben ihm den notwendigen Rhythmus, stärkten seine Konzentration, milderten die Angst vor den entsetzlichen Dingen, die er gleich zu tun gezwungen war. Sowohl Gaius als auch Faustus wussten, wer in der ganz privaten Mythologie des alten Arztes die Schwester des Traumgottes war. Der »kleine Tod«, der Höhepunkt in den Armen der Frauen: Er war für ihn nicht nur ein hübsches Sprachbild. Er war Vorbereitung für das, was diese Frau denjenigen gab, die von ihr umarmt wurden. Sie baumelte an einem Lederband um seinen Nacken, geschnitzt aus dem Horn eines Elefanten, während er die Wunden eingehend untersuchte.

    »Soll ich amputieren oder richten?«

    »Was rät der Medicus?«

    »Bei einer Amputation stirbt er wahrscheinlich am Blutverlust oder später am Wundbrand. Er hat schon viel Blut verloren und sein Herz ist alt. Sein Puls geht schwach und schnell. Beim Richten stirbt er vielleicht auch. Später. Selbst wenn er keinen Wundbrand kriegt. Ich weiß nicht, woran das liegt, aber Brüche führen zuweilen später zum Tod, ohne dass eines der lebenswichtigen Organe sichtbar verletzt wäre.« Er richtete sich auf und überlegte kurz. »Seine Chancen sind wahrscheinlich größer, wenn ich richte. Sunna wird den Wundbrand schon verhindern können. Aber er wird nie mehr laufen lernen. Nicht in dem Zustand, in dem er herkam. Er wird dieses Gut lebend nicht mehr verlassen, ohne dass man ihn auf einem Karren hinausfährt.«

    »Er soll leben. Und hier war sowieso das Ende seiner Reise.« Was geschehen würde, falls Shaul lange, vielleicht sogar Jahre überlebte, darüber wagte er momentan nicht nachzudenken. Er hatte Christen unter seinen Arbeitern. Er würde es nicht geheim halten können. Aber jetzt war es erst einmal wichtiger, dass er versorgt wurde. Das Weitere würde sich ergeben.

    »Gut. Das bedeutet lange, harte Arbeit. Amputieren wäre schnell gegangen.«

    »Wir haben Zeit. Er vielleicht nicht mehr. Du bist hier nicht auf dem Schlachtfeld. Es gibt niemanden, den du durch Eile hier an anderer Stelle retten könntest.«

    »Gut. Ich habe nichts anderes erwartet.« Joseph grinste. Er war Jude, wie Faustus, und wie diesem war ihm die Orthodoxie auf dem Weg zur Realität abhanden gekommen. »Den Gerechten leuchtet im Dunkel des Todes die Gnade des Herrn und das Erinnern der Menschen, oh Faustus«, sagte er mit einem Anflug von Pathos. Um dieses aber gleich darauf mit einem laut genug gemurmelten »Ich verstehe aber trotzdem nicht, was dir an diesem Ungeziefer liegt« zu vernichten. Faustus grinste.

    Gaius trat ein, Tertius kam hinterher. Der Sohn des Medicus war immer dabei und verstand selbst schon einiges vom Handwerk seines Vaters. Er setzte sich still in eine Ecke. Ihm würde nichts entgehen.

    Gaius trat zu dem Tisch, auf dem der Tarser lag. Dem Gesicht des alten Soldaten war keine Regung zu entnehmen. Er wusste, was kommen würde. Nach vielen Schlachten hatte er den Medici assistiert: retten, was noch zu retten war, und Leiden verkürzen, wo andere Hilfe keine Zukunft schuf. Seit vielen Jahren assistierte er Joseph, wenn dieser Hilfe brauchte und die körperliche Kraft seines Sohnes noch nicht ausreichte. Sie waren eingespielt: Joseph gab die Anweisungen, die Gaius nicht mehr benötigte. Die er nur bewunderte, weil sie auch nach so vielen Jahren keines der zynischen Witzchen enthielten, durch die sich andere Medici, die in der Legion ihrer Arbeit nachgingen, ihre blutige Arbeit erträglich gemacht hatten: indem sie Abgebrühtheit vorspielten, sich dem Wahnsinn entzogen, eine Ahnung von Alltäglichkeit eroberten, ertragbare Wirklichkeit schufen.

    Der alte Jude holte ein rotes Stoffbündel aus der Truhe, in dem es silbern klimperte, und hängte es an einen Haken über dem Kessel. Der Beutel versank im brodelnden Wasser. »So machte, was du nicht wissen kannst, Tertius, deine Großmutter Essgeschirr und Besteck koscher. Vor allem aber, mein Sohn, hält es Entzündungen fern. Ist es nicht wunderbar, wie die Gesetze des Herrn den Menschen zuverlässig vor Schaden bewahren? Man könnte meinen, Menschen hätten sie gemacht.«

    Sein Sohn reagierte nicht. Er sog jede Bewegung der Hände seines Vaters auf.

    »Drum gedenke, wenn du in Schwierigkeiten gerätst, der Gebote des Herrn!«, fuhr Joseph noch fort. »Selbst wenn sie nicht von ihm stammen sollten, sondern von vernünftigen Menschen! Die sind nämlich noch seltener als Götter.« Dabei zog er den flachen Stein mit einer Zange aus dem Feuer und legte ihn flach auf einen kleinen, bereits schwarz gebrannten Tisch. Kurze Zeit später hievte er das Bündel aus dem Topf, ließ es abtropfen und legte es obenauf. Wasser tanzte zischend auf dem glühend heißen Stein und schickte weißen Dampf unter die dunkle Decke des Raums. Joseph hielt die Enden einer Zange kurz ins Feuer und benutzte diese dann, das Tuch auseinanderzuziehen. Zum Vorschein kamen verschiedene Skalpelle, kleine Sägen und Heber, Zangen und Klammern, Wundhaken, mehrere Pinzetten und diverse Nähnadeln. Die noch feuchten Instrumente trockneten schnell.

    Während sie abkühlten, zog Joseph mit einer der Zangen Katzendärme durch Nadelöhre, legte einige Tücher und Salbendosen bereit sowie zermahlene blutstillende und entzündungshemmende Kräuter wie Schachtelhalm, Brennnesseln und Lindenblüten. »Die aus Germanien wirken besonders gut, keine Ahnung, warum. Vielleicht weil sie da so spät blühen. Vielleicht konzentriert das den Wirkstoff? Ein Wunder, dass da überhaupt was wächst.« Faustus lächelte in der Erinnerung an ihre gemeinsame Reise nach Germanien und Britannien vor acht Jahren. Sie hatten Landgüter angeschaut, auf denen probeweise Wein angebaut wurde. Joseph hatte fast die ganze Zeit gefroren und war, nach eigenem Bekunden, nur knapp mit dem Leben davongekommen, so erkältet war er gewesen. Die Weine, vor allem die von einem Landgut in der Nähe der Colonia Ara Aggrippina, waren entsetzlich gewesen: saure, körperlose Essigwässer. Er hatte daraufhin seine Beteiligung an diesen Gütern abgestoßen: Wein aus Germanien hatte keine Zukunft. Aber etwas anderes wuchs dort oben, etwas, mit dem er nicht handeln wollte, obwohl es ungleich schöner war als der funkelndste Rotwein und die Sinne reizender als der beste Falerner: Er hatte Sunna mitgebracht. Freigekauft von einem römischen Senator, der sich gerade in der Colonia aufhielt. Er hatte ihr die Wahl gegeben, zu ihrem Stamm zurückzukehren. Sie war geblieben. Bis heute.

    Joseph schaute auf den Patienten, während er ein paar zerstoßene Schachtelhalme und Brennnesseln in eine Schale heißen Wassers warf: »Faustus, die Seife, bitte.« Noch etwas, das sie aus Germanien mitgebracht hatten: eine Mischung aus Birkenasche und Ziegenfett, im Geruch erträglich gemacht durch verschiedene zugesetzte Öle. Zusammen mit Wasser reinigte es den Körper ungleich gründlicher als alle Methoden, die er südlich der Alpen kennengelernt hatte. Der Arzt wusch sich jetzt gründlich die Hände. »Ich werde zunächst schneiden müssen. Falls es zu stark blutet, tupfst du ein wenig von dem Kräutersud auf die Wunde. Das stillt die Blutung. Aber viel dürfte da sowieso nicht mehr kommen. Wenn ich die große Ader erwische, musst du zugreifen, sonst ist er schneller tot, als ich die Klemme greifen kann! Verstanden?« Faustus nickte. Der Arzt wandte sich an Gaius: »Schnalle ihn jetzt mit den Riemen fest! Das Bein sollte sich nicht bewegen.«

    Nachdem Gaius das Bein des Tarsers ruhig gestellt hatte, machte Joseph sich ans Werk.

    Mit einem Tuch, das er ebenfalls mit dem Kräutersud getränkt hatte, säuberte er die Wundränder des offenen Oberschenkels am linken Bein des Tarsers. Dann öffnete er die Wunde mit einer Zange, fixierte das Instrument und gewann so einen Blick auf den Oberschenkelknochen. Er untersuchte die Wunde genau und fingerte mit einer langen, starken Nadel in ihr herum. »Der obere Teil des Knochens liegt direkt über dem unteren. Es scheint kein großes Gefäß verletzt zu sein. Hoffen wir, dass es so bleibt.« Mit einem scharfen kleinen Messer erweiterte er die Wunde vorsichtig. Faustus tupfte Kräutersud auf die wenigen schwachen Blutungen. »Wie ich es mir gedacht habe: Der Mann hat schon viel Blut verloren. Sonst wäre hier längst alles rot. Soll mir recht sein, dann habe ich bessere Sicht.« Joseph nahm eine feine Säge und schnitt ein paar kleinere Splitter vom Knochenstumpf ab, um zu verhindern, dass diese später in der geschlossenen Wunde weiteren Schaden anrichteten. Mit einer Feile entgratete er noch ein paar Stellen. Dann richtete er sich auf und löste die Lederriemen, die das Bein fixierten: »Faustus, du hältst den Oberschenkel direkt an der Leiste. Gaius, du ziehst mit aller Kraft direkt oberhalb des Knies und hältst die Spannung, bis ich sage, dass du loslassen kannst. Klar?« Die Männer machten das nicht zum ersten Mal. Sie zogen und Joseph manipulierte den oberen Teil des Knochens vorsichtig zurück in die Wunde, die Hände beinahe bis über die Knöchel im Oberschenkel des Tarsers. Jetzt konnte er den unteren Teil des Knochenstumpfes besser sehen. Mehrere Splitter zog er noch mit einer Pinzette aus dem Fleisch. »Lass mal langsam los.« Gaius schwitzte bereits stark und keuchte, aber der alte Soldat hatte immer noch Bärenkräfte. Langsam senkte sich der untere Knochenstumpf auf den oberen. Joseph ruckte noch ein wenig an ihnen herum, dann schien er zufrieden.

    »Es ist ein wenig Knochenmark in der Wunde gewesen. Das ist kein sehr gutes Zeichen.« Faustus verstand nicht, was an ein bisschen Knochenmark schlimm sein sollte, aber er wusste, dass Joseph ein guter Arzt war und wahrscheinlich entsprechende Aufzeichnungen besaß. »Muss nichts Schlimmes bedeuten«, ergänzte der Arzt, »verbessert aber seine Chancen nicht.«

    »Die Bücher?«

    »Ja, die Bücher. Wenn Knochenmark in der Wunde ist, gibt es mehr Tote.« Die Bücher waren seine Aufzeichnungen über alle Behandlungen, die er durchgeführt hatte: Befunde, Behandlung, Ergebnis. Jeden Abend saß er noch Stunden über seinen Büchern, vervollständigte Aufzeichnungen, ordnete, was Zusammenhänge aufzuweisen schien, dachte nach. Wenn er behandelte, wusste er meist, welche Behandlung mit größter Wahrscheinlichkeit Erfolg hat. Seine Bücher belegten es.

    »Das Knochenmark scheint mit diesen seltsamen Toden in Zusammenhang zu stehen. Aber frag mich nicht, wie und wieso. Ich weiß so wenig. Aber jetzt muss ich erst mal nähen. Solange könnt ihr euch ausruhen. Ich rufe euch wieder rein, wenn’s an den Unterschenkel geht.«

    Faustus trat mit Gaius nach draußen. Der alte Latiner starrte in den dunkelblauen Nachmittagshimmel. Kalte, trockene Luft blies von Norden die Küste entlang, aber noch vor dem Abend, sagte er jetzt zum Gutsbesitzer, würde der Wind auf Süden drehen und wärmere, feuchte Luft heranführen. Seine unzähligen Narben meldeten jeden Wetterwechsel zuverlässig ein paar Stunden vorher. Der Römer zog seinen Umhang fester um sich. »Er rief deinen Namen, Faustus, als er unter dem Baum lag. Deinen jüdischen Namen. Er sagte, er hätte eine Botschaft für dich.«

    »Wir müssen warten, bis er wieder bei Bewusstsein ist und kräftig genug, um zu reden.«

    »Ich habe gehört, was er zu dir gesagt hat auf dem Karren. So viel Griechisch kann ich noch! Er ist einer von diesen dreckigen Christenjuden.« Gaius spuckte aus.

    »Ja, das ist er.«

    »Ich kann sie nicht leiden.«

    »Warum nicht, Gaius? Sie sind meist nur arme Menschen, die auf ein besseres Leben im Jenseits hoffen.«

    »Bah. Und dafür machen sie sich und anderen das Leben im Diesseits zur Hölle! Ich will dir was erzählen, Faustus: Meine Tochter in Rom hat so welche zu Nachbarn. Sie ist auch nicht reich. Ihr Mann, dieser Taugenichts, ist ja meist arbeitslos. Aber diese Nachbarn ...«, er schüttelte den Kopf und hob wieder an: »Der Nachbar meiner Schwester arbeitet sogar, verkauft Tuch und verdient über zwei Denare am Tag. Und trotzdem steht die Frau ständig bei ihr in der Küche und bettelt um Brot für ihre zwei Kinder. Verdient zwei Denare, aber hat keine vier Asse am Tag übrig, damit seine eigenen Kinder satt werden! Was macht der mit dem ganzen Rest? Wenn er das Geld wenigstens verspielen oder im Lupanar lassen würde! Aber nein: Es geht alles an diese Christenjuden! Die teilen sich alles. Mag ja nett sein, wenn’s am Ende dann für alle genug ist, aber das ist es nicht. Denn die meisten von ihnen sind Lumpengesindel. Entlaufene Sklaven, Alte, Kranke, Wahnsinnige.«

    »Du meinst, sie lassen ihre Kinder hungern, damit keiner in ihrer Gemeinde mehr hat als die anderen.«

    »Genau. Das ist einfach nicht richtig! Was können die Kinder für das Elend der Welt? Was ist das für ein Gott, der das verlangt? Weißt du, was der mich könnte, dieser Gott?« Gaius spuckte geräuschvoll einen Klumpen Schleim auf den Boden.

    Faustus musste lächeln. »Das ist kein Gott, der das verlangt, Gaius.« Er schaute in die unbestimmte Ferne. Das Gespräch war gefährlich. Er kannte Gaius. Hinter der rauen, ein wenig naiven Schale lauerte ein Fuchs, der instinktiv jede Schwäche in der Deckung des Gegenübers erkannte und ausnutzte. Es war dieser Fuchs gewesen, der in der Arena überlebt hatte. Seine immense Körperkraft war nur ein weiteres Hilfsmittel gewesen. »Warum«, versuchte es der Gutsbesitzer mit einer unverfänglichen Frage, »nehmen sie nicht die Kornspenden des Senats an, so wie alle anderen Arbeitslosen auch?«

    »Weil ihr Gott ihnen das verbietet, glaube ich. Keine Ahnung. Zu den Spielen gehen sie auch nicht.«

    Faustus spürte, dass Gaius eine böse Bemerkung runterschluckte. Jeder wusste, dass der Imperator von Zeit zu Zeit gerne ein paar Christen im Circus Maximus abschlachten ließ, um das Volk zu beruhigen, das ihm misstraute. Einige der Christen weigerten sich, auf den Imperator als Gott zu schwören. Sie wollten nicht akzeptieren, dass dies lediglich die Anerkennung des römischen Rechts symbolisierte. Und für einige von ihnen galten sowieso nur die Gebote ihres Gottes, obwohl Shaul sie angewiesen hatte, der Obrigkeit zu gehorchen. Dies machte es Nero leicht, die Hinrichtungen in den Mantel des Gesetzes zu kleiden. Gaius verachtete Nero noch mehr als die Christenjuden und blieb deshalb still.

    »Woher kennst du ihn, Herr?«, fragte er nach einigen kurzen Momenten, die sie mit der Betrachtung des Horizonts verbracht hatten.

    »Ich habe ihn in Judäa gekannt. Flüchtig. Ich war Prediger. Er war Prediger. Wir trafen uns ein paar Mal in Yerushalayim. So in etwa.«

    »So in etwa?« Gaius schnäuzte demonstrativ auf den Boden, indem er ein Nasenloch zuhielt und durch das andere den Inhalt der Nase ausblies. Der Klumpen landete direkt neben dem wenig älteren Speichelfleck. »Du glaubst jetzt aber nicht, dass ich dir das abnehme, oder? Da ist wesentlich mehr, als du jetzt zugibst!« Joseph rief, sodass weitere Nachfragen des alten, zähen Latiners unausgesprochen blieben. »Es ist nur die Vorstellung von Gott, die das verlangt«, sagte Faustus im Aufstehen, um das Gespräch wieder auf die alte Fährte zu lenken. »Und die kommt von den Menschen.« Dann betraten sie wieder das Behandlungszimmer.

    Der Oberschenkel war verbunden und geschient. Der Arzt untersuchte gerade Shauls Atmung und befand, dass der Mann noch tief und fest schlief. »Bis jetzt war’s einfach. Jetzt müssen wir den Unterschenkel richten, ohne oben wieder alles kaputt zu machen. Soweit habe ich alles vorbereitet. Ihr kennt das Procedere. Faustus, du hältst das Knie fest. Festhalten, nicht selbst ziehen! Gaius, du ziehst am Fuß.«

    Etwa eine Stunde später war auch der dritte Bruch im anderen Oberschenkel gerichtet. Beide Beine des Tarsers wurden noch einmal endgültig geschient, dann trugen vier Arbeiter den Patienten auf die Krankenstation. Joseph hatte noch eine Weile mit Sunna gesprochen, der Frau des Gutsbesitzers, der die Krankenstation unterstand – genauso wie alle anderen Belange des Haushalts. Die Suevin hatte wie immer mit freundlichem Spott reagiert, als der Arzt ihr all die Dinge aufzählte, die sie zu tun hatte und über die sie doch seit einigen Jahren schon besser Bescheid wusste als Joseph selber. Und sei es auch nur, weil sie seinen Rat befolgt hatte, Bücher zu führen. Faustus, der sich bei dem Gespräch im Hintergrund hielt, konnte ein Grinsen kaum vermeiden. Zwischen den beiden gab es eine seltsame Spannung, die sich nie entlud, die aber auch nicht wuchs oder schwand: eine seltsame, aggressive Balance zwischen dem kleinen alten Medicus und der 32-jährigen, immer noch schönen Frau, die den Arzt um eine Handbreit überragte und Faustus die Nächte so viel interessanter machte, als es Männer in seinem Alter erwarten durften.

    Die beiden Juden und der alte Gladiator hatten sich auf einer steinernen Bank vor dem Wohngebäude niedergelassen. Eine kleine Amphore Wein linderte ihre Erschöpfung und stand bereits halb geleert auf dem Boden. Jeder der drei hielt nachdenklich ein Glas in der Hand. Faustus ließ auch seine einfachen Arbeiter aus teuren Gläsern trinken. Seine beiden ältesten Freunde sowieso. Der Wein schmeckte besser aus Gläsern als aus billigen tönernen Bechern. Und seine Arbeiter sollten wissen, welches hervorragende Ergebnis ihre Arbeit hatte. Sie sollten stolz sein, für ihn zu arbeiten. Sie sollten stolz sein auf ihre Arbeit.

    »Wie groß sind seine Chancen, Medicus?«

    »Wenn er in sieben Tagen noch lebt, ist er über den Berg.«

    Faustus seufzte: »Ein alter Jude kann jüdische Gesprächstaktik nicht ablegen, nicht wahr, Joseph? Aber da ich selbst ein noch viel älterer Jude bin: Das habe ich nicht gefragt. Welche Chance hat er, in sieben Tagen noch zu leben?«

    Joseph schüttelte langsam den Kopf. »Schwer zu sagen, Faustus. Drei offene Brüche, hoher Blutverlust. Die Kompressen hätte ich selbst nicht besser setzen können, Gaius«, er wandte sich an den Römer, der bedächtig und genießerisch am unverdünnten Wein schlürfte und sich dabei auch durch die Ansprache des Arztes nicht stören ließ, »aber er hatte viel Blut verloren, bis ihr ihn unter dem Baum hervorgezogen hattet. Und noch ein wenig mehr, bis er hier ankam. Und dann war teilweise Dreck in den Wunden: Holzsplitter, Blattreste, Erde. Offen gesagt: Drei oder vier von zehn gesunden und jungen Männern würden das überleben. Höchstens! In seinem Alter und bei seiner Konstitution ...« Er überließ die Schlussfolgerung dem Gutsbesitzer.

    »Ziemlich viel Aufwand«, murmelte Gaius in sein Glas, »haben wir da getrieben für einen verlausten Christenjuden, der sowieso sterben wird.«

    Der Blick des Faustus streifte die gewaltigen, muskulösen Oberarme des Mannes, der in einigen Schlachten gekämpft und mehr Scharmützel überlebt hatte, als seine Erinnerung fassen konnte. Der 16 Siege in der Arena errungen hatte und zweimal niedergerungen das Wohlwollen des Publikums erhielt. Mitleid kannte er für Kinder, vielleicht für Frauen. Sicher nicht für alte Männer. Und schon gar nicht für alte Männer mit bedrohlichen schwarzen Augen. »Wir treiben den meisten Aufwand für die Weine, die drohen umzukippen, die in Gefahr sind, nicht gut zu reifen. Bei einigen wenigen lohnt sich das, aber die meisten machen wir danach zu Essig. Der Lohn liegt in der Mühe selbst, Gaius. Was du dem geringsten meiner Brüder getan hast, das hast du mir getan. Ich danke dir für deine Hilfe.«

    Gaius schaute zweifelnd auf den Freund, den Greis, der seit zehn Jahren sein Patronus war. Den er seit 20 Jahren kannte. Dem er mindestens zweimal das Leben gerettet hatte. »Was war das denn für ein Spruch? Ist der Mann dein Bruder?«

    Faustus lächelte: »Nicht mehr, als du es bist. Weniger sogar. Wir haben nur diese gemeinsame Vergangenheit.«

    »Aber keine gute, möchte ich wetten.« Gaius sah den Gutsbesitzer frontal an.

    »Und du wirst mir sicher verraten, woher du dieses Wissen nimmst«, sagte der nach einer verblüfften Pause.

    Der Latiner grinste schief: »Ich habe mich immer gefragt, wa­rum du auf deinen Gütern nicht zulässt, dass die Christenjuden ihre Rituale abhalten. Jeder deiner Arbeiter darf seiner Religion nachgehen, seine Opfer abhalten. Nur die Christenjuden nicht. Da ist etwas zwischen dir und diesen Leuten. Und der da«, er wies mit dem rechten Daumen rückwärts über seine Schulter in Richtung der Krankenzimmer, »hast du seinen Blick gesehen? In seinen Augen tanzt der nackte Wahnsinn, sage ich dir. Und ich habe genügend Wahnsinnige gesehen, um das beurteilen zu können. Und wenn es der Shaul ist, von dem die Nachbarin meiner Schwester immer schwärmt, dann ist der so eine Art Oberchristenjude. Soll man nicht glauben, so verlumpt, wie der aussieht. Andererseits …« Er grinste feist. Dann fuhr er fort. »Wenn du also die Christenjuden nicht leiden kannst – meinen Segen hast du –, dann war irgendwas zwischen dir und diesem Mann. Und deinem Gesicht entnehme ich, dass du daran gar nicht gerne erinnert wirst.«

    »Das hat man davon, wenn man Freunde aus der Gosse zieht.« Faustus musterte den Freund etwas schief. Ja, es war etwas zwischen ihm und Shaul gewesen. Aber das war nicht der Grund gewesen, warum er den Christenjuden verboten hatte, auf seinem Land ihren Kult zu betreiben.

    Der Wind hatte, wie Gaius es prophezeit hatte, spät am Nachmittag gewechselt. Er kam jetzt wärmer und von Süden her und dichte, schwarze Wolken kündigten von nahenden Gewittern. Erste Vorboten des Frühlings. Glutrot versank die Sonne über dem Meer, ihre letzten Strahlen durch eine Lücke zwischen den Wolken schickend. Heute Abend würde es ein Fest zu Ehren der Götter geben, zum Dank, das Erdbeben so glimpflich überstanden zu haben. Anaias war zurückgekehrt und hatte berichtet, dass die Lager am Hafen beinahe unversehrt waren. Die Stadtvilla allerdings würde man abreißen und neu bauen müssen. Obwohl sie noch stand und ihre Bewohner überlebt hatten, wies sie schwere Schäden bis in die Fundamente auf. Aber niemand war ernsthaft verletzt worden. In anderen, weniger wohlhabenden Teilen der Stadt allerdings hatte es offenbar viele Opfer gegeben. Die Gerüchte erzählten von Hunderten oder gar Tausenden. Das Haus war zu verschmerzen. Die eingelagerten Weine waren gerettet und würden viel Geld bringen. Der Herbst hatte die siebte gute Ernte in Folge gebracht. Faustus hatte alle Arbeiter, die er entbehren konnte, in die Stadt geschickt, um zu helfen, wo sie helfen konnten. Jetzt kamen sie wieder zurück, in Gruppen zu mindestens vier Männern, wie er es ihnen wegen der Plünderer empfohlen hatte. Die Männer waren erschöpft und einige hatten offenbar geweint. Sie würden das Fest heute benötigen, um Trost bei ihren Göttern zu suchen, zu erzählen und loszuwerden, was sie gesehen hatten.

    Der Kommandeur der Garnison hatte Nachricht geschickt und ihm empfohlen, in der kommenden Nacht seine Wachen zu verstärken, bis die Legion die Lage wieder in den Griff bekam. Von Misenum her sei Verstärkung angefordert, die am nächsten Morgen eintreffen müsste. Faustus selbst hatte dem Rat der Stadt Hilfe angeboten: Er würde auch die nächsten Tage Arbeiter abstellen, die in der Stadt helfen sollten, wo diese Hilfe benötigt wurde. Markus, sein Tekton, hatte einen Zweispänner mit Werkzeug und schwerem Gerät beladen, um einsturzgefährdete Gebäude abzustützen. Bis jetzt hatte es zwei leichtere Nachbeben gegeben und weitere Gebäude in der Stadt waren eingestürzt. Hilfe wurde dringend benötigt und Faustus konnte im Februar einige Arbeiter entbehren. Der erste Rebschnitt war weitgehend abgeschlossen.

    Sinuessa. Er benötigte Nachricht aus Sinuessa!

    Er gab sich keiner Illusion darüber hin, was dieses Erdbeben für Pompeji als bedeutendsten Handelsplatz Süditaliens bedeuten konnte, wenn es nicht schnell gelang, die sichtbaren und unsichtbaren Schäden, die das Beben hervorgerufen hatte, zu beseitigen.

    Dieses Weingut war nur der kleinste und nicht einmal der ihm liebste Teil seiner Unternehmungen: Er konnte es sich bloß nicht leisten, weiter weg von Pompeji zu leben. Denn hier lag das Zentrum der Unternehmungen des Weingrossisten Primus Munatius Faustus. Wenn Pompeji als Hafen, als Handelsplatz unterging, dann war sein Handelshaus gefährdet: Weine und Essige aus Gallien, Libyen, Griechenland und Hispanien – sie alle liefen durch seine Lager, bevor sie an die adeligen Herren Roms und Italiens weiterverkauft wurden. Und mit ihnen verdiente er das Geld, um das Weingut bei Sinuessa so betreiben zu können, wie er es betrieb. Denn dort wuchsen die faustischen Falerner, jene, die seinen Namen trugen, jene, die in den Lagern der Caesaren landeten. Wenn Pompeji als Hafen unterginge, würde es ihm kaum gelingen, sich in die Hierarchien eines der anderen bedeutenden Häfen einzukaufen. Es bliebe ja auch nur der Portus Vinarius mit seinem angrenzenden Forum in Rom. Und die Herren des römischen Weinhafens hätten sicher Besseres zu tun, als die hinzugewonnenen Handelsumsätze mit anderen zu teilen. Zumal mit einem Freigelassenen.

    Er wäre auf Hilfe von ganz oben angewiesen. Und wenn er die auch zweifelsohne bekäme, so wäre der Preis, bei den augenblicklichen unhaltbaren Herrschaftsverhältnissen, doch ein zu hoher, der Erfolg womöglich arg kurzfristig.

    Es ging also auch um seine Existenz. Pompeji musste überleben. Die Menschen durften nicht fliehen. Ihnen musste schnell geholfen werden, damit sie an eine Zukunft in Pompeji glauben konnten. Man würde, daran zweifelte er nicht, unter den Grundbesitzern und Adeligen der Stadt schnell Einigkeit erlangen. Auch wenn das teuer werden würde.

    Sein Blick wanderte den Berg hoch, über die Mauer hinweg, die sein Gut von den Rebgärten auf den fruchtbaren Hängen des Vesuvius trennte. Und dann bemerkte er den Riss in der Mauer. Er begann etwa eine Handbreit über dem Boden und zog sich, vielleicht einen Finger breit, in einer gezackten Linie den Fugen folgend nach rechts oben bis zur Mauerkrone. Sein Blick blieb daran hängen, als wäre dieser Riss etwas, das er lange gesucht und jetzt endlich gefunden hätte. Etwas, das man nicht unbedingt wünscht zu finden, von dem man aber weiß, dass es da ist und wichtig, ein Hinweis auf Unvermeidliches. Der Riss, das war ihm klar, bedeutete etwas. Es sollte aber ein paar Tage dauern, bis er begriffen hatte, was.

    »Gaius?«

    »Ja?«

    »Siehst du den Riss da in der Mauer?«

    »Ja, Faustus. Wird morgen gefüllt.«

    »Nein.«

    »Nein?« Gaius schaute erstaunt auf den Gutsbesitzer.

    »Nein, ich will, dass er bleibt. Wer ihn füllt, kriegt Schwierigkeiten. Sag das Markus.«

    Der Römer schaute zweifelnd auf Faustus und kratzte, was bei ihm immer ein Zeichen echter Verwirrung war, die gesamte ihm zur Verfügung stehende Grammatik zusammen: »Wäre es hilfreich, wenn ich das verstünde, oh Faustus?«

    Faustus lächelte. »Verstünde ich es, wüsste ich, ob auch du es verstehen solltest. Für welchen Fall ich dir Bescheid gäbe.«

    »Greisenhafte Kryptologie galiläischer Gutsbesitzer, oh Gaius!« Der Medicus hatte offenbar schon ein paar Gläser zu viel.

    »Bah!«, schimpfte der Latiner. »Ich hoffe, diesen Shaul haben wir bald unter der Erde und Faustus wird wieder normal.« Dann stand er auf und schielte seinen Patronus grimmig an: »Ist ja nicht zum Aushalten. Als wäre bei dem Erdbeben dein Hirn durcheinandergerüttelt worden, Faustus! Ich gehe und lass mir ein Bad richten. Und das solltet ihr zwei auch tun. Ihr stinkt wie zwei alte Juden!« Dann stapfte er ins Haus.

    »Gojim!«, entfuhr es Joseph. Und dann mussten beide lange lachen.

    Shaul hatte eine unruhige Nacht verbracht. Die beiden Frauen, die zur Nachtwache eingeteilt gewesen waren, berichteten, Shaul habe mehrfach geschrieen. Allerdings hätte es mehr nach Alpträumen geklungen als nach Schmerz. Man habe ihn zeitweise binden müssen, um zu verhindern, dass er sich im Schlaf drehe. Auch habe er mehrfach den hebräischen Namen des Faustus gerufen und sei zweimal, wiewohl schlafend, in ein hässliches Gelächter ausgebrochen. Erst gegen frühen Morgen sei der Schlaf tiefer geworden. Um die vierte Stunde des Tages war er erwacht. Man hatte Faustus gerufen.

    »Bitte lasst mich mit ihm allein!« Die Frauen entfernten sich. Der Gutsbesitzer zog sich einen dreibeinigen Schemel heran und setzte sich so, dass Shaul ihn ohne Mühe sehen konnte. Lange ruhten die schwarzen Augen auf Faustus und dieser fragte sich schon, ob der Trank aus Mohn das Gedächtnis des Tarsers zu nachhaltig gelöscht haben könnte. Aber dann sprach er.

    »Ich danke dir, Yeshua, für die Behandlung und das Obdach.« Die Stimme kam leise, müde und brüchig. Shaul sprach wieder Koine, benutzte aber die hebräische Form des Namens. Faustus hatte schon fast vergessen, dass Shaul als Tarser das Griechisch der Ökumene besser beherrschte als Aramäisch. Möglicherweise sprach er sogar besser Hebräisch als Aramäisch.

    »Du brauchst nicht zu danken.« Faustus wählte ebenfalls Griechisch, aus Höflichkeit dem schwer verletzten Gast gegenüber. »Du bedurftest der Hilfe. Das war selbstverständlich.«

    »Auf jeden aus Samaria, weiß eine Geschichte, die einst ein berühmter Rabbuni erzählte, kommen zwei fromme Gottesdiener auf dem Weg zur Liturgie, die nicht unrein werden wollen und deshalb keine Zeit haben, zu helfen.«

    Faustus lächelte. »Ich bin nicht aus Shomron.«

    »Nein. Das bist du nicht. Aber du bist auch kein Levit.«

    »Wenn deine Schmerzen zu stark werden, haben wir Mittel, sie zu lindern. Sag Bescheid und ich rufe den Arzt.«

    »Ein guter Arzt?«

    »Ein Jude, falls dir das hilft.«

    »Ein Grieche wäre mir lieber. Die verstehen wenigstens was davon. Ich kannte mal einen jüdischen Wunderheiler ...« Shaul rang sich ein mühsames Lächeln ab.

    »Er gehört zu den Besten. Und die Wunder, die er vollbringt, kann er erklären. Oder zumindest mit Erfahrung belegen.«

    »Davon bin ich überzeugt. Die Beine sehen wieder ganz grade aus.«

    »Du bist noch nicht über den Berg. Du musst völlig ruhig liegen bleiben. Jede Bewegung, sagt Joseph, kann tödlich sein.«

    Shaul blickte Faustus belustigt an, sagte aber nichts.

    »Gaius berichtete, du hättest eine Botschaft für mich. Das hättest du gesagt, als du unter dem Ölbaum eingeklemmt lagst.«

    »Ja, ich erinnere mich. Das habe ich gesagt. Das ist aber nicht alles. Ich habe auch ein paar Fragen an dich. Und ich schätze, du hast auch ein paar Fragen an mich.«

    »Ja, habe ich.«

    »Nun, die erste Frage sei dir gestattet.«

    »Fang mit deiner Botschaft an. Warum bist du hierhergekommen?«

    »Um dir zu berichten.« Shaul versuchte umständlich und vergeblich, sich etwas höher im Bett aufzurichten, sodass Faustus ihm helfen musste. Dann begann er den Satz noch einmal von vorne: »Um dir zu berichten, dass du gestorben und ein Gott geworden bist.«

    Faustus lächelte leichthin. Mit so etwas hatte er gerechnet. »Schau mich an, Shaul! Ich bin ein sündiger, reicher Mann. Ich bin der Sohn eines Tektons, ein Handwerker, der durch Sünde und Verrat und unverdiente Erbschaft zu Reichtum gekommen ist. Und hat nicht jener Rabban, den du eben zitiertest, auch einmal gesagt, dass eher ein Ankertau durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher ins Himmelreich kommt? Geschweige denn ein Gott wird. Und es kann zwar sein, dass ich auch nicht mehr sehr lebendig bin, aber gestorben bin ich deshalb immer noch nicht. Und das weißt du offenbar auch schon länger. Sonst wärest du nicht hierhergekommen. Ich bin nicht am Kreuz gestorben, Shaul. Ich bin nicht einmal tot. Wie soll ich dann dein Gott sein?«

    »Als wäre das ein Widerspruch«, sagte Shaul und sank wieder in seine Kissen. »Ich habe dich für intelligenter gehalten, Yeshua! Hast du denn gar nichts gelernt seit deiner Kindheit?«

    Násherat

    Die Spottrufe wurden leiser und erstarben. Der schmächtige Junge hörte auf zu laufen und drehte sich keuchend noch einmal um. Seine hellbraunen Augen zeigten zugleich Wut und Angst, aber die anderen waren wohl hinter der letzten Ecke stehen geblieben. Wahrscheinlich klopften sie sich jetzt wieder einmal gegenseitig auf die Schultern, stolz, es ihm gezeigt zu haben. Sie erzählten sich ihre Heldentaten und prahlten mit dem Mut, den sie bewiesen hatten, zu sechst über ihn herzufallen. Ihn, der sich ja sowieso nie wehrte.

    In Wahrheit hatten sie Angst vor Rabbuni Jonah und wollten nicht zu dicht an die Thoraschule herankommen. Sie würden ihn morgen wieder verspotten, weil er zur Schule geflüchtet war. Das machte ihm nichts aus. Er mochte die Schule. Er mochte den Rabbuni. Rabbuni Jonah war sein bester Freund. Sein einziger.

    Es war heiß, selbst für die Jahreszeit, und Yeshua schwitzte stark und die Schrammen im Gesicht brannten. Aber diese Schmerzen waren nichts gegen das heiße Verlangen, für alle Zeit zu entrinnen – dem Spott, seiner Familie, seinem Bruder Ya’qub. Der Schande, die ewig war, weil unüberprüfbar, nie ausgesprochen, sogar verleugnet.

    Er erreichte die Schule und betrat den Innenraum. Es war einigermaßen kühl hier drinnen und der Junge atmete ein paar Mal kräftig durch. Rabbuni Jonah, der über eine Rolle gebeugt im hinteren Teil des Raumes gestanden hatte, richtete sich jetzt auf. Es war nicht ungewöhnlich, dass Yeshua ihn außerhalb der normalen Unterrichtszeiten aufsuchte. Bei ihm kamen Neugier und Begabung zusammen. Einen Schüler wie ihn hatte er noch nie gehabt. Alles schien ihm zuzufliegen. Und die kindliche Ernsthaftigkeit, mit der er Neuigkeiten in sich aufsog, wurde von einer für einen Achtjährigen unüblichen Genauigkeit des Folgerns begleitet. Jonah war stolz auf seinen Schüler, aber manchmal war er ihm ein wenig unheimlich. Und manchmal packte ihn sogar die Angst heiß in der Brust: die Angst vor der Verantwortung, die der Herr mit diesem Schüler in seine Hände gelegt hatte.

    Er hatte schon mit Yossef darüber geredet, Yeshua nach Yerushalayim zu schicken, zu Gamaliel, aber der Tekton wollte davon nichts wissen. Yeshua war sein Erstgeborener und sein Erstgeborener wurde Tekton wie sein Vater und dessen Vater. Natürlich war er, nach alter Sitte, als Erstgeborener dem Herrn geweiht worden. Aber wenn der Herr ihn wirklich für sich haben wollte, dann sollten doch schon ein paar deutlichere Zeichen nötig sein als nur Wissbegier und Talent. In den heiligen Schriften rief der Herr seine Diener zumindest im Traum. Und davon hatte Yeshua noch nichts berichtet. Ihn nach Yerushalayim zu schicken kam also nicht infrage – zumal da noch diese Gerüchte waren. Nur Gerüchte. Nichts, was einer ernsthaften Überprüfung standhielt. Nichts, was Yossef nicht besser gewusst hätte. Aber eben Gerüchte von jener Art, die keiner Wahrheit bedurfte, um zerstörerisch zu wirken.

    Jonah seufzte tief. Es blieb seine Verantwortung: Yeshuas Talent bedurfte seines besonderen Schutzes. Sehr bald, das war Jonah klar, würde der Tag kommen, an dem er seinem Schüler nichts mehr würde beibringen können. Aber beschützen, das musste er ihn noch eine ganze Weile.

    »Komm her, Yeshua«, er winkte ihn lächelnd herbei. »Bei den Propheten, wie siehst du denn aus!« Seine Miene verdüsterte sich zu tiefer Besorgnis, als Yeshua so dicht herangekommen war, dass der alte Mann ihn genauer erkennen konnte.

    »Ach, nichts.«

    »Dein Bruder, nicht wahr?«

    »Auch, ja. Er und noch ein paar andere. Ich wollte fragen, ob ich etwas abschreiben kann.«

    Jonah war schon versucht, zuzustimmen, entschloss sich dann aber, das Thema bei den Hörnern zu packen: »Und? Glaubst du, was sie rufen?«

    »Spielt das eine Rolle?«

    »Oh ja. Es geht um die Ehre deiner Mutter.«

    »Dafür dürfte es wohl zu spät sein. Es ist egal, ob ich ein Bastard bin oder nicht. Die Gerüchte reichen.«

    Der alte Mann ging zu einer Bank und setzte sich. Dann klopfte er auffordernd auf den Platz neben sich. Yeshua gehorchte widerwillig.

    »Dein Vater hätte deine Mutter nicht geheiratet, wenn du nicht sein Sohn wärest.«

    »Ya’qub sieht ihm ähnlicher als ich.«

    »Das sagt gar nichts. Mein Vater war ein Riese, fast sechs Fuß groß. Und sieh mich an.« Der nur knapp über fünf Fuß große Rabbuni grinste über sein ganzes verknautschtes Gesicht.

    »Das ändert nichts daran, dass meine Eltern gegen das Gesetz verstoßen haben!«

    »Du sollst nicht die Wut über den ungerechten Spott gegen dich auf deine Eltern lenken. Sei gerecht! Und denke an das fünfte Gebot! Haben sie das wirklich?«

    Yeshua sah den Rabbuni überrascht an: »Sie waren noch nicht verheiratet, als Mutter mit mir schwanger ging. Also hat irgendjemand sie vor ihrer Hochzeit erkannt. Fast egal, ob es Yossef war.«

    »Sie waren aber verlobt, bereits einige Zeit. Sie liebten einander sehr. Das ist selten genug, Yeshua. Solche Dinge passieren. Was, meinst du, ist der Sinn hinter dem Gesetz?«

    »Dass wir jeden Buchstaben seines Wortes befolgen. Und die alten Überlieferungen.«

    Der alte Mann nickte. »Ja, das ist wahr. Aber warum, meinst du, sind die Gebote so, wie sie sind? Warum hat der Herr nicht zum Beispiel angeordnet, dass die Eltern ihre Kinder zu achten hätten. Warum umgekehrt?«

    »Weil das sinnvoll ist. Kinder sind unvernünftig und müssen erst von ihren Eltern lernen.«

    »Du bist ein kluger Junge. Nun denk einmal nach, warum er will, dass Menschen verheiratet sind, bevor sie einander erkennen.«

    »Damit ihre Kinder Eltern haben, die zusammenleben? Damit es Vater und Mutter gibt und die Kinder von beiden lernen können? Damit die Kinder eine Familie haben? Damit entschieden ist, von wem sie Nahrung und Kleidung erhalten?«

    Der alte Mann lächelte: »Für deine acht Jahre bist du ein sehr kluger Bursche, Yeshua. Ich denke, das ist dir nicht neu. Lass die anderen Kinder dich verspotten! Sie reichen eh nicht an dich heran.« Er erhob sich und ging ein paar Schritte. »Ja, so in etwa wird er sich das gedacht haben. Außerdem wollte er vielleicht den Mann an die Frau binden, damit der lerne, was es heißt, Verantwortung zu haben. Sieh mal: Die zehn Gesetze, die der Herr dem Moses verkündet hat, sie bestehen aus zwei Teilen. Da gibt es die vier Gesetze, die sich auf ihn beziehen: dass du ihn verehren sollst, dir kein Bildnis machen sollst, keine anderen Götter neben ihm haben sollst, den Shabbat ehren sollst, du kennst sie ja.«

    »Und dann«, fuhr er fort, »gibt es noch die Gesetze, die das Zusammenleben von uns Menschen regeln: dass du Vater und Mutter ehren sollst, nicht töten, deines nächsten Weib begehren, stehlen und kein falsches Zeugnis ablegen sollst wider deinen Nächsten. Und sein Eigentum sollst du auch nicht begehren.«

    Yeshua hatte längst begriffen, dass er sich mitten im Unterricht befand. Der Alte schaute ihn an.

    »Und bei diesen Geboten geht es darum, dass den Menschen kein unbilliges Leid geschieht. Der Mann soll nicht begehren seines Nächsten Weib, damit der Sippenverband erhalten bleibt. Damit nicht Eifersucht die Familien zerstört. Damit die Eltern ihre Verantwortung gegenüber ihren Kindern wahrnehmen können. Damit die Frau nicht schutzlos anderen Männern ausgeliefert ist. Dein Vater, hat er seines Nächsten Weib begehrt?«

    »Miriam war nicht sein Weib!«

    »Nein? Wessen Weib war sie dann? Sie waren verlobt. Dies ist ebenso verpflichtend wie die Hochzeit selbst. Es ist richtig: Sie waren schwach und haben etwas getan, auf das sie besser noch ein paar Wochen gewartet hätten. Aber hat dein Vater seines Nächsten Weib begehrt?«

    »Er hätte Miriam nicht mehr heiraten sollen. Er hätte die Verlobung auflösen können. Und er hätte es tun sollen.« Den Jungen überkam eine heiße Welle von Selbstmitleid, als er sich der Konsequenzen bewusst wurde, die dies für ihn gehabt hätte. Aber ihm wäre auch Ya’qub erspart geblieben.

    »Yeshua, Yeshua!« Der Rabbuni schüttelte den Kopf, setzte sich wieder neben ihn und legte ihm den Arm um die schmalen Schultern. »Glaubst du, der Herr segnet dich mit so viel Talent und liebt dich nicht?« Er fuhr dem Jungen durch den staubigen Haarschopf und drehte ihn dann zu sich. »Nur weil dein Vater das Recht dazu gehabt hätte, wäre das noch lange nicht recht gewesen. Hätte dies denn nicht geheißen, der einen Sünde noch ein paar weitere, viel schlimmere hinzuzufügen? Hätte er die Verlobung aufgelöst, so hätte dies geheißen, dass das Kind nicht von ihm ist. Das wäre erstens ein falsches Zeugnis wider seinen Nächsten gewesen, nämlich gegen Miriam. Es wäre außerdem Diebstahl gewesen, weil er dir alles genommen hätte, was dir als Erstgeborenem zusteht. Und vielleicht wäre Miriam ausgestoßen worden und gestorben. Und du auch. Ich weiß nicht, ob das vor dem Gesetz als Mord gilt, aber der, der uns die Gesetze gab, urteilt womöglich anders, als die menschlichen Richter es glauben und tun.«

    »Du meinst, die Gesetze sind nicht dazu da, um einmal begangenes Unrecht noch zu verschlimmern. Sie sollen so angewandt werden, dass dieses Unrecht gemildert wird.«

    »Das erscheint mir zumindest wesentlich eher in der Absicht des Gesetzes zu liegen als die andere Möglichkeit. Schlimmer werden die Dinge von alleine. Dazu benötigt man kein Gesetz.«

    Yeshua nickte ein wenig widerwillig. »Wenn nur die Spöttereien aufhören würden. Sie bezeichnen mich als Römerbastard. Warum machen sie das? Ich habe ihnen doch nichts getan!«

    »Und doch bedrohst du sie. Wenn auch ohne Absicht. Sie alle sind mittelmäßige Schüler, Söhne ihrer mittelmäßigen Väter. Sie werden vielleicht einmal gute Handwerker. Aber sie können dich nicht verstehen. Das, was du denkst, das, was du sagst und verstehst, liegt ihnen so fern wie die Sterne. Sie verspotten dich, weil du für sie gefährlich bist. Du bist für sie gefährlich, weil sie wegen dir ahnen können, wie beschränkt sie selbst sind.

    Sieh mal: In Yerushalayim und anderen größeren Städten gilt es als Hochzeit, wenn Verlobte sich erkennen. Dort wären deine Eltern niemals in diese Lage gekommen, in der sie vor deiner Geburt waren. Dort gäbe es keine Gerüchte um dich. Aber hier, in diesem Dorf, haben die Menschen die Gebote des Herrn anders ausgelegt. Es ist alles Auslegung. Die Gerüchte sind Ergebnis von strengeren Auslegungen. Sie ändern nichts an der Wahrheit: dass du ein Kind der Liebe zwischen deinen Eltern bist. Und deine Talente hast du vom Herrn, der dich so offensichtlich gesegnet hat.«

    Der alte Mann zögerte, denn der Lehrer in ihm trat in den Hintergrund und die Erinnerung an seine eigene Kindheit, an selbst erlittenes Leid drängte sich nach vorne: »Aber das hilft dir jetzt natürlich wenig.« Der Rabbuni stand auf und lief zu der Rolle, die nach wie vor auf dem Lesepult lag. »Ich werde mit ihren Eltern reden. Auch sie dürfen kein falsches Zeugnis wider dich ablegen.« Er schaute auf Yeshua und erwartete vielleicht etwas wie einen

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